Karin Hofer / NZZ
Die Brüder Alfred und Rudolf Popper wurden von den Nazis in drei Konzentrationslager deportiert und überstanden einen Todesmarsch. Die Erinnerung an das damalige Grauen lässt sie nicht los.
Nach drei Tagen in einem Viehwaggon öffnen sich die Türen. Grelles Licht, bellende Hunde, SS-Männer, die schreien: «Raus, raus, raus!» Auschwitz, «Todesrampe». Es ist der 31. Oktober 1944, Alfred und Rudolf Popper sind in der Hölle angekommen.
Die beiden Brüder, erst zwölf und zehn Jahre alt, werden mit den anderen Deportierten nach draussen getrieben, der Selektion der «Arbeitsverwendungsfähigen», wie es im Jargon der Nazis heisst, entgehen sie. Sie stehen nur wenige Meter vom SS-Lagerarzt Josef Mengele entfernt, der die Menschen nach links oder rechts schickt. Alfred und Rudolf werden vom Vater getrennt, finden sich in einer Halle wieder, wo sie sich ausziehen müssen. Die Mutter steht da noch neben ihnen, wird aber kurz darauf weggeführt.
Schockiert blicken ihr die Knaben nach: Was geht hier vor? Dann wird ihnen der Kopf kahlgeschoren und eine Nummer tätowiert. Auf die empfindliche Seite des Unterarms, dort sehe man die Nummer weniger gut, tröstet sie der Tätowierer. Sie fassen Häftlingskleider und landen im Block 11. Und hören täglich, wie im Hof nebenan Menschen hingerichtet werden.
Am kommenden Montag werden Alfred und Rudolf Popper nach Auschwitz zurückkehren. Dort findet eine grosse Gedenkveranstaltung statt, zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ durch die Rote Armee, wenige Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Brüder zählen zu den wenigen Zeitzeugen, die noch am Leben sind. Und ihrer Vergangenheit, dem Holocaust, konnten sie bis heute nicht entfliehen. «Die Verbrechen der Nazis waren so monströs und unmenschlich. Wer sie erlebt hat, wird sie nie mehr los», sagt Alfred Popper.
Es ist ein grauer Wintertag, als er in seiner Wohnung in Zürich zum Gespräch lädt. 92 Jahre alt ist er inzwischen, der Händedruck fest, die Augen wach und freundlich. Der Bruder Rudolf, zwei Jahre jünger und ebenfalls von bemerkenswerter Vitalität, ist aus einem anderen Stadtkreis angereist, um über das zu reden, was passierte, als sie Kinder waren. «Ich habe immer wieder Albträume», sagt er. Und die letzten zwei Nächte habe er kaum geschlafen: «In meinem Kopf kamen wieder alle diese Bilder hoch.»
Doch das Treffen ist den Brüdern wichtig, gerade angesichts des grassierenden Antisemitismus in der Welt. «Als Überlebende fühlen wir uns den Millionen umgebrachter unschuldiger Opfer verpflichtet, über das Grauen zu reden, das die Nazis und ihre Helfer über uns gebracht haben. Es ist unsere Verantwortung», sagt Rudolf. Und Alfred ergänzt: «Wir haben das als Brüder zusammen durchgestanden. Jetzt möchten wir, dass bekanntwird, was damals geschehen ist.»
In den folgenden Stunden erzählen sie die Geschichte zweier Menschen, deren Leid als Kinder sich nicht ermessen lässt. Sie standen Todesängste aus, überlebten drei Konzentrationslager, verloren den Grossteil ihrer Familie, ihrer Freunde und Bekannten. Und nach dem Kriegsende folgte die Unterdrückung im Kommunismus, bis sie in der Schweiz eine neue und sichere Heimat fanden. Dabei fing einst alles so unbeschwert an, im Prag der frühen dreissiger Jahre.
Angst vor der Deportation
Es ist ein bürgerlicher Haushalt, in dem Alfred und Rudolf Popper aufwachsen. Der Vater Franz ist zusammen mit seinem Bruder Erwin Inhaber einer Firma in der Gärungsindustrie, die Mutter Rosa hat in Wien die Schule besucht. Alle beherrschen Deutsch, aber die Familiensprache ist Tschechisch – in der Prager Bevölkerung ist bereits eine Aversion gegen das Deutsche spürbar. Die Eltern leben ein liberales Judentum, haben auch viele christliche Freunde. Die jüdischen Traditionen werden von der Grossmutter, die Tochter eines Rabbiners ist, zwar noch gepflegt. Doch Rosa möchte die Kinder modern erziehen. «Erst die Rassengesetze der Nazis machten mir bewusst, dass ich nicht dazugehöre, weil ich Jude bin», erinnert sich Alfred.
Während die Eltern den Aufstieg Hitlers im Nachbarland mit grosser Sorge verfolgen, erleben ihre Söhne in Prag eine glückliche Kindheit. Das ändert sich schlagartig, als die Deutschen im März 1939 die Tschechoslowakei besetzen. Alfred und Rudolf dürfen, weil sie jüdisch sind, nicht in die Schule. Sie müssen in der Öffentlichkeit den Davidstern tragen. Der Gang zum Unterricht bei einer jüdischen Privatlehrerin am anderen Ende der Stadt wird wegen der Hitlerjugend zum täglichen Spiessrutenlauf. «Ich habe jedes Mal gezittert vor Angst, dass mich die Nazis erwischen», erzählt Rudolf.
Die Eltern denken an Flucht, doch sie zögern – bis es zu spät ist. Der Vater will seine kranke Mutter nicht zurücklassen. «Und er war ein aufgeklärter Mann, der in der Überzeugung aufgewachsen ist, dass alle Menschen gleichberechtigt sind, unabhängig von ihrer Religion», sagt Alfred. «Er hat sich schlicht nicht vorstellen können, dass die Nazis alles in die Tat umsetzen würden, was Hitler angedroht hatte.»
Nichtjüdische Freunde unterstützen die Familie, bringen Essen vorbei, weil Lebensmittel besonders für Juden rationiert sind. Die Firma des Vaters ist längst einem deutschen Treuhänder unterstellt. Als er an die Ostfront geschickt wird, übernimmt ein Tscheche mit deutschen Wurzeln. Weil die Firma weltweite Kontakte in der chemischen Industrie hat, ist der neue Chef auf die Expertise der enteigneten früheren Besitzer angewiesen.
Das Unternehmen gilt als kriegswichtig, das ist der Grund dafür, dass Franz Popper und seine Familie so lange in Prag bleiben können – und nicht früher deportiert werden wie die vielen jüdischen Freunde und Bekannten, die bereits weggebracht worden sind. «Wir lebten in ständiger Angst, dass der Befehl der Deutschen kommt», erinnert sich Alfred. Die Koffer der Familie sind längst gepackt. Jede Person darf maximal 50 Kilogramm mitnehmen.
Als der neue Firmenchef in den Ferien ist, kommt prompt der befürchtete Befehl zur Deportation. Am 9. März 1943 müssen sie einen Lastwagen besteigen, der sie zum Sammelplatz auf dem Prager Messegelände fährt. Ein Zug bringt sie nach Bohusovice. Von dort muss die Familie mitsamt dem schweren Gepäck zu Fuss weiter – zum KZ Theresienstadt.
Hitlers Propagandalager
Theresienstadt ist ein sogenanntes Sammellager: Juden aus verschiedenen Ländern werden dorthin transportiert – bevor sie in die Vernichtungslager im Osten deportiert werden. Die Nazis sprechen verharmlosend von einem «Ghetto» und nutzen das Lager zu Propagandazwecken. Als eine Art Vorzeigeinstitution, die der Welt beweisen soll, dass es den Juden im «Dritten Reich» nicht so schlecht ergehe. Hier wird im Frühling 1944 der Film «Der Führer schenkt den Juden eine Stadt» gedreht, in dem Alfred zu sehen ist.
Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das das Lager zweimal besucht, lässt sich leichtfertig täuschen. Bei einem der Besuche gibt es eine der Aufführungen der Kinderoper «Brundibar». Rudolf Popper singt im Chor mit – wie die anderen Kinder voller Begeisterung, geht es doch in dem Stück um den Sieg des Guten über das Böse.
Doch dieses Böse ist allgegenwärtig: Bei den Proben stehen immer wieder andere Kinder neben Rudolf im Chor. Ihre Vorgänger sind in die Todeslager transportiert worden. Nur sehr wenige der über 10 000 Kinder, die in jenen Jahren nach Theresienstadt kommen, werden das Kriegsende erleben.
Der Alltag ist geprägt von der dauernden Angst vor einer weiteren Deportation. Die Zustände im Lager sind menschenunwürdig. Die Unterkünfte, erstellt für 3500 Personen, werden von bis zu 50 000 Personen belegt, die Schlafplätze voller Wanzen und Flöhe, Infektionskrankheiten breiten sich aus. Die Familien werden auseinandergerissen. Alfred und Rudolf sind in verschiedenen Kinderheimen untergebracht. «Ich fühlte mich völlig verlassen, ich war ja erst neun Jahre alt», erinnert sich Rudolf.
Auch noch in Theresienstadt sind die Ratschläge des Vaters gefragt: Ab und zu wird er auf die Kommandantur gerufen, weil die Betreiber der Firma in Prag Fragen haben. Das verzögert die weitere Deportation der Familie. Doch Ende Oktober 1944 werden auch Alfred und Rudolf Popper mit ihren Eltern abtransportiert. «Wir hatten da noch keine Ahnung, wo es hingeht, was uns erwartet», sagt Alfred. Wahrscheinlich hätte ihnen der Name des Ortes in Polen auch nichts gesagt. Das Ziel des Zugs: Auschwitz.
Der Gaskammer entkommen
Achtzig Menschen werden in einen Viehwaggon gepfercht. In einer Ecke steht ein Fass, das als Toilette dienen soll. Doch es gibt kaum ein Durchkommen. Drei Tage dauert die Tortur, fast ohne Essen und Trinken. Manche der Passagiere verlieren im Gedränge das Bewusstsein, einige sterben. Und doch zählen die Insassen noch zu den relativ Privilegierten. Beim Einsteigen liest Alfred, dass die Nazis mit Kreide «Erfindergruppe» auf den Waggon geschrieben haben.
Was das bedeutet, verstehen sie erst viel später: «Bei unserem Vater und den anderen Erwachsenen handelte es sich um Leute, die die Deutschen als wertvoll für die Kriegswirtschaft einstuften», sagt Alfred. Die SS nutzt die Juden bis zum Schluss aus. «Und offenbar dachten die Deutschen, dass die Eltern produktiver wären, wenn sie die Kinder noch am Leben liessen.» In Auschwitz schicken die Nazis Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren in der Regel direkt in die Gaskammer.
An der Rampe von Auschwitz beobachten die beiden Jungen, wie ein SS-Offizier eine Frau auf die linke Seite weist. Deren Tochter fragt, ob sie mit ihrer Mutter mitgehen dürfe, und der Offizier antwortet: «Bitte, nur zu.» Er habe damals gedacht, der Deutsche sei aber grosszügig, sagt Alfred Popper. «Dass die Frauen sogleich ermordet würden, konnten wir natürlich nicht ahnen. Sehr bald aber erfuhren wir von Mithäftlingen, dass aus Auschwitz niemand mehr lebend herauskam. Den süsslichen Geruch, der wegen der Krematorien immer in der Luft hing, habe ich nie vergessen.»
Die plötzliche Trennung von der Mutter verstört die beiden Brüder ebenso wie die Brutalität, mit der die SS-Leute Menschen zusammenschlagen.
Immerhin werden sie zusammen mit ihrem Vater untergebracht – im sogenannten Todesblock 11 im Stammlager Auschwitz, wo unter anderem deutsche Kriegsdienstverweigerer und zum Tod verurteilte Lagerinsassen inhaftiert sind. Der Vater meldet sich freiwillig zur Arbeit, weil er hofft, so grössere Chancen zu haben, seinen Kindern zu helfen.
Der Winter 1944/1945 ist bitterkalt. Die beiden Brüder nähen für den Vater Fausthandschuhe aus Bettdecken. Sie dürfen täglich eine halbe Stunde durch den Innenhof gehen. Sonst heisst es warten. «Diese Verzweiflung und dieser Hunger während Wochen, ohne Hoffnung auf ein Ende: Wie sollen zwei Kinder damit fertigwerden?», sagt Rudolf. «Ich wartete wie gelähmt auf den Vater, der abends durchgefroren und erschöpft zurückkehrte.»
Nach einigen Wochen werden sie in eine überfüllte Baracke im Stammlager verlegt. Nun sind sie kein «Sonderfall» mehr. Es gibt noch weniger Essen, dafür täglich stundenlange Appelle in der Kälte, ohne warme Kleidung.
Auf einem Leiterwagen mit Leichen
Mitte Januar, wenige Tage vor der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee, evakuieren die Nazis die meisten Insassen. Auch Rudolf und Alfred werden mit ihrem Vater auf den Todesmarsch geschickt, zum 60 Kilometer entfernten Eisenbahnknotenpunkt Loslau (Wodzislaw Slaski). Die Brüder laufen dicht bei ihrem Vater, der einen schweren Koffer mit Munition schleppen muss. Er hat schlechte, viel zu kleine Schuhe und blutige Füsse, fällt immer wieder zurück. Die Söhne versuchen ihm zu helfen, so gut es geht. Sie wissen: Wer das Tempo nicht mithält, wird erschossen.
Bei einem Marschhalt mitten in der Nacht schickt der Vater sie zu einem Leiterwagen mit Pferdegespann, kein Kutscher oder Soldat ist in Sicht. Sie klettern auf den Wagen: Die Deutschen sammeln darauf die Leichen der Erschossenen. Doch nicht alle sind tot, manche stöhnen noch, wie Alfred bemerkt. Total erschöpft schlafen die Brüder auf den Toten und Sterbenden ein. Als sie aufwachen, sind sie in Loslau angekommen. Den nächtlichen Fussmarsch hätten sie kaum überlebt.
Sie finden ihren Vater wieder, der völlig apathisch ist. Dann werden sie alle in offene Viehwaggons getrieben, die sie nach Westen bringen sollen. Als der Zug in einem Städtchen hält, geraten sie in ein Bombardement der Russen. Die SS-Wachleute kriechen unter die Viehwagen. Der Waggon, in dem sich Alfred und Rudolf mit ihrem Vater befinden, wird von den Geschossen getroffen. Direkt neben ihnen sterben Mitgefangene, doch sie bleiben unversehrt.
«Die Alliierten hätten besser früher die Gaskammern in Auschwitz bombardiert», sagt Alfred heute. «Sie rechtfertigten sich nach Kriegsende unter anderem damit, sie hätten es nicht getan, weil dann die Insassen gestorben wären. Was für ein Hohn! Wir Häftlinge wären lieber auf diese Weise gestorben als in den Gaskammern!»
Nach dem Luftangriff werden sie in einen anderen Waggon verlegt. Der Durst ist unerträglich, die Insassen kratzen Eis von den Wänden, um ihn zu löschen. Bei einer Pause müssen sie aussteigen, und Alfred versucht, sich eine Handvoll Schnee in den Mund zu stecken. «Lass los, oder ich erschiesse dich!», sagt der wachthabende SS-Soldat und richtet sein Gewehr auf das Kind.
Der Zug hält auch in Prag. Rudolf meint für einen Moment in der Ferne die Strasse zu erkennen, an der sie gewohnt haben. «Das hat mich unendlich traurig gestimmt», erinnert er sich. «Die Freiheit war so nahe – und doch unerreichbar.»
Kurz vor dem Hungertod
Am 31. Januar 1945 erreichen sie entkräftet das Konzentrationslager Mauthausen in Österreich. Sie werden in einen Duschraum gebracht. Alfred bekommt Todesängste – er glaubt, dass es sich wie in Auschwitz um getarnte Gaskammern handelt. Doch es fliesst Wasser. Als die Häftlinge danach Kleider von einem Haufen nehmen, bleibt für Rudolf und Alfred trotz der eisigen Kälte nur dünne Unterwäsche übrig. Erst Tage später bekommen sie richtige Kleider. Alfred kann wegen seiner Erfrierungen an den Füssen in der Nacht nicht schlafen.
Der Horror nimmt seinen Lauf. Die Nazis wollen in Mauthausen die letzten Überlebenden elendiglich verhungern lassen. Manche Häftlinge essen Gras oder Kohle, um etwas im Magen zu haben. Einzelne werfen sich in die elektrisch geladenen Stacheldrähte, um ihr Leiden zu beenden. Jeden Tag werden auf den Lagerplatz Leichen gebracht. Bestimmte Häftlinge müssen die Kiefer der Toten aufbrechen, um die Goldzähne herauszulösen.
Dem Vater Franz geht es immer schlechter, er ist bis auf die Knochen abgemagert. «Wir hatten grosse Angst um ihn, gaben ihm von unseren kleinen Essensrationen – wie er es in Theresienstadt und Auschwitz für uns gemacht hatte», erinnert sich Alfred, der damals plötzlich für den Vater und den jüngeren Bruder sorgen muss. Rudolf nickt und sagt: «Wir waren schon lange keine Kinder mehr. Wir mussten erwachsen sein, um zu überleben.»
Doch der Vater erholt sich nicht, eines Tages wird er abgeführt, in das sogenannte Sanitätslager: Was nach medizinischer Versorgung klingt, dient den Nazis indes ausschliesslich zur Aussonderung von sterbenden Häftlingen.
Die beiden Brüder werden in unterschiedliche Unterkünfte versetzt, die aber zumindest direkt nebeneinanderliegen. Über ein Loch in der Mauer können sie sich austauschen, wissen so, dass der andere überhaupt noch lebt. Rudolf unterstützt seinen älteren Bruder, indem er ihm Brot zusteckt: «Alfred war damals schon sehr schwach, ein ‹Muselmann›.» So nennt man im Lager jene, die kurz vor dem Hungertod stehen.
Dank der Unterstützung von tschechischen Mithäftlingen gelingt es Rudolf, selbst ins Sanitätslager verlegt zu werden. Später kann er seinen Bruder nachholen. «Damit hast du mir das Leben gerettet», erinnert sich Alfred. Die Brüder wollen ihren Vater wiederfinden – in den Baracken, in die sich die SS-Leute aus Angst vor Ansteckungen nicht mehr trauen.
Alfred und Rudolf sehen Kranke mit offenen und vereiterten Wunden, die vor Schmerzen stöhnen, Sterbende und Verhungernde. Sobald jemand gestorben ist, wird der leblose Körper hinter die Baracke gebracht, um auf den Pritschen Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Draussen türmen sich die Leichen.
Alfred und Rudolf finden ihren Vater nicht. Dafür ihren Cousin Harry, den einzigen Sohn von Onkel Erwin. Harry ist vom Fieber so geschwächt, dass er sich kaum noch regen kann. «Er war damals 17 Jahre alt», erzählt Alfred, «ein hochbegabter Junge, der früher stundenlang mit seinem Vater über wissenschaftliche Themen diskutieren konnte.» Sie versuchen ihm zu helfen, so gut es geht. «Der Durst quälte ihn. Wir wollten ihm Wasser bringen, fanden aber keines. Als wir zurückkamen, war er schon nicht mehr an seinem Platz . . .»
Kurze Zeit darauf, am 5. Mai 1945, befreien amerikanische Truppen Mauthausen, als allerletztes KZ. Drei Tage später kapitulieren die Deutschen.
Wo sind unsere Eltern?
«Wir tragen eine Schuld in uns», sagt Rudolf, «die Überlebensschuld. Wieso haben wir überlebt und die anderen nicht?» Es ist eine Frage, die Rudolf Popper wie viele Überlebende bis heute plagt – auch wenn es noch so irrational erscheinen mag: Schliesslich waren sie die unschuldigen Opfer der Nazis. Und als solche müssen sie den Weg ins Leben nach dem Krieg finden, zu ihrem persönlichen Frieden.
«Es gab ein Gefühl der Erleichterung, dass es nun vorbei war mit der ständigen Todesangst, dem Hunger, der Kälte. Wir waren frei, erhielten Essen und warteten auf die Rückkehr nach Hause», erzählen die Brüder.
Im Juni 1945 fahren sie mit den anderen befreiten Tschechen zurück in ihre Heimat, arrangiert von den Alliierten. Als die KZ-Überlebenden im Bahnhof in Prag eintreffen, spielt Musik, werden Reden gehalten. Die Brüder kommen in ein Hotel, doch niemand, den sie kennen, erwartet sie. «Ich hatte nur den einen Gedanken: Wo sind unsere Eltern, wo sind unsere Verwandten? Wir müssen sie suchen!», sagt Rudolf.
Am nächsten Morgen zieht er früh los, in der Hoffnung, im Elternhaus Bekannte anzutreffen. Aber im einst idyllischen Quartier Vinohrady steht nur noch ein zerstörtes Gebäude.
Und da die Brüder niemanden haben, der sich um sie kümmert, landen sie wieder hinter hohen Mauern – in einem Waisenhaus. Dem elfjährigen Rudolf geht es psychisch schlecht, und er kämpft mit den Folgen einer Lungenentzündung aus dem KZ. Alfred, inzwischen dreizehn Jahre alt, spürt die Verantwortung, für seinen kleinen Bruder zu sorgen und sein eigenes Leben in die Hand nehmen zu müssen. Er denkt, in Freiheit werde er wie ein normaler Mensch behandelt. Doch die Betreuer des Waisenhauses tun das nicht. Einige sind brutal, wenden auch Prügelstrafen an.
«Heute erhält man nach jedem Autounfall psychologische Betreuung», sagt Rudolf. «Wir kamen aus dem KZ mit unseren fürchterlichen Traumata – und es gab nichts, niemand scherte sich darum.» Es sind seelische Narben, die einen für den Rest des Lebens zeichnen. «Jeder musste selbst damit fertigwerden», sagt Alfred. «Auch wir Brüder sprachen nicht wirklich über unsere Gefühle. Es ist bis heute so: Wenn ich Überlebende treffe, muss ich ihnen nichts erzählen. Sie wissen, wie es damals in den Lagern war.»
Die Situation wendet sich nach einigen Wochen zum Besseren. Ihr Vater hat den Brüdern in Auschwitz die Namen und Adressen von Freunden eingeprägt – für den Fall, dass er nicht überleben würde. Und so können sie mit einem Bekannten aus Prag Kontakt aufnehmen, der sie daraufhin im Waisenhaus besucht und zu ihrer Brücke zur Aussenwelt wird.
Auch die Mutter Rosa hat den Holocaust überlebt. Nachdem sie von Auschwitz nach Lippstadt verlegt worden ist, muss sie in einer Munitionsfabrik arbeiten. Geschwächt und übermüdet, nickt sie eines Tages an der Fräse ein. Ihre Haare geraten in die Maschine, Rosa reisst mit ganzer Kraft ihren Kopf zurück und rettet sich so. Sie ist aber regelrecht skalpiert und wird bis an ihr Lebensende an den schweren Verletzungen leiden. Danach kommt sie ins KZ Bergen-Belsen, wo sie an Typhus erkrankt. Sie wird für tot gehalten und auf einen Leichenberg vor der Baracke geworfen, von dem sie wieder zurück zu den Lebenden kriecht. «Sie war eine Kämpferin, die nur dank ihrem Willen überlebte», betonen ihre Söhne.
Wenig später befreien die Briten Bergen-Belsen. Rosa kehrt nach Prag zurück, sucht überall ihre Kinder, etwa beim Roten Kreuz. Dann besucht sie eine befreundete Familie, die ihr berichtet, dass Alfred und Rudolf noch am Leben sind. Rosa findet sie im Waisenhaus und holt sie zu sich.
Zusammen richten sie sich notdürftig in den Räumen der einstigen Firma der Familie ein. Rudolf kommt wegen seiner Lungenkrankheit zunächst in ein Sanatorium in Prag. 1946 verbringt er mit anderen «Holocaust-Kindern» sechs Monate in der Schweiz, im Heim Felsenegg auf dem Zugerberg. Danach darf er zum ersten Mal eine richtige Schule besuchen – mit zwölf Jahren.
Ihren Vater sehen die Brüder nie mehr. Erst später, nach eigenen Nachforschungen, erfährt die Familie, dass er im «Sanitätslager» in Mauthausen, sieben Wochen vor der Befreiung des KZ, «infolge der Haftbedingungen gestorben» sei. «Ermordet wurde!», präzisiert Alfred.
Sie hätten ihm in Mauthausen noch einen Brief geschrieben und von anderen Häftlingen überbringen lassen. «Wie uns Überlebende nach dem Krieg berichteten, hatte er ihn noch lesen können. Er habe geweint vor Glück, dass seine Kinder, die er zurücklassen musste, noch am Leben waren.»
Gegen das Vergessen
In Prag ist die Freiheit indes nur von kurzer Dauer. Im Februar 1948 kommen die Kommunisten an die Macht. Juden werden erneut diskriminiert. «Antisemitismus gab es im offiziellen kommunistischen Wortschatz nicht, er wurde nur gelebt», sagt Rudolf. Er fühlt sich zunehmend ausgegrenzt. Und Alfred, der als Jugendlicher nicht in die kommunistische Jugendbewegung eintritt und dafür verurteilt wird, darf nicht studieren, sondern muss in einer Fabrik arbeiten. Nach dem Militärdienst besucht er dennoch die Abenduniversität für Arbeiter, wird Diplom-Elektroingenieur und arbeitet an der Karls-Universität. Rudolf studiert in Prag Chemie und ist dann in der Forschung tätig.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die Sowjets wagen sie die Flucht und kommen über Umwege nach Zürich, wohin sie Schweizer Freunde eingeladen haben. Beide finden schliesslich an der ETH eine Anstellung, wo sie bis zu ihrer Pensionierung arbeiten.
Die Zeit unter den Kommunisten sei schrecklich gewesen. «Aber das ist ja jetzt nicht unser Thema», sagt Alfred Popper, als es in Zürich bereits dunkel geworden ist. Die Brüder wollen nicht nur über die Vergangenheit reden, sondern auch über die Gegenwart und die Zukunft.
Alfred Popper: Die grosse Frage ist doch, was die Menschen heute aus der Geschichte des Holocaust überhaupt noch lernen, aus diesem sogenannt singulären Menschheitsverbrechen.
Sie klingen pessimistisch.
Alfred Popper: Es geht nicht mehr um mich, ich habe mein Leben gelebt. Aber ich habe Angst, dass sich etwas wie Auschwitz wiederholen könnte. Die Judenfeindlichkeit hat massiv zugenommen. Vor allem im Ausland, aber auch in der Schweiz, geschürt von Rechts- und Linksextremen, von Islamisten. Ich habe Angst. Nicht um mich, aber um unsere Kinder und die kommende Generation.
Rudolf Popper: Der Horror kann sich wiederholen, wenn wir uns nicht mehr erinnern. Deshalb erzählen wir unsere Geschichte, solange wir noch können – auch wenn es weh tut. Wir Überlebenden sind die Vertreter von sechs Millionen Juden, die auf bestialische Weise ermordet wurden, unter ihnen eineinhalb Millionen Kinder. Bald müssen andere die Erinnerung an diese unermesslich tragische Zeit wachhalten.
Wer kann das sein?
Rudolf Popper: Meine Hoffnung liegt auf der Zweitgeneration der Holocaust-Überlebenden, also unseren Kindern. Vom Schweizer Bildungssystem erwarte ich da nicht allzu viel: Die jungen Leute haben heute keine Ahnung mehr von der Shoah.
Alfred Popper: Leider lehrt unsere Erfahrung, wie schnell es gehen kann, dass Menschlichkeit und Solidarität vergessen werden. Wir haben den Zivilisationsbruch erlebt, angefangen mit der Ausgrenzung, mit den Gesetzen zur Entrechtung einer speziellen Gruppe. Die Nazis zerstörten Schritt für Schritt die Würde und das Existenzrecht jener Menschen, die sie als lebensunwert deklariert hatten. Und alle blickten weg. Deutschland war zuvor ein normales Land, galt sogar als Land der Dichter und Denker. Und plötzlich war es möglich, dass ein Hitler an die Macht kam, mit seinem Rassenwahn und seinem Anspruch auf Weltherrschaft.
Er wurde nicht gestoppt.
Alfred Popper: Die Appeasement-Politik war falsch. Die Welt hätte Hitler frühzeitig in die Schranken weisen müssen, spätestens bei der Einverleibung des Sudetenlandes und später der ganzen Tschechoslowakei. Hitlers Ideologie war in «Mein Kampf» offen zugänglich. Doch man war lieber blind und rechtfertigte die Blindheit «um des Friedens willen».
Da sehen Sie Parallelen zu heute?
Alfred Popper: Auch als Russland die Ukraine überfiel, hätte der Westen Putin entschiedener entgegentreten müssen. Aber die Europäer zauderten wieder einmal. Das Böse muss man bekämpfen! So wie es jetzt auch Israel tut.
Sie meinen nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023?
Alfred Popper: Diesen Pogrom miterleben zu müssen, war ein Schock, das grösste Verbrechen gegen Juden seit dem Holocaust. Manchmal ist nur die Bereitschaft, zurückzuschlagen und abzuschrecken, der Weg zum Frieden. Heute gibt es ein einziges Land, in das sich Juden retten können: Israel. Dieses Land wollen viele vernichten, wie wir alle wissen. Deshalb ist Israel gezwungen, sich zu wehren. Oder wie die frühere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir sagte: «Wenn die Araber die Waffen niederlegen, gibt es Frieden. Wenn Israel die Waffen niederlegt, wird es ausgelöscht.»
Rudolf Popper: Mein Bruder hat recht. Natürlich habe ich Mitgefühl für die Zivilbevölkerung in Gaza, die so viel Leid erfahren hat. Aber Israel musste Stärke demonstrieren. Die Wehrlosigkeit der Juden während des Nationalsozialismus macht mich bis heute wütend und beschämt mich: Wütend, weil wir der Weltöffentlichkeit damals egal waren. Beschämt, weil wir Juden uns fast ohne Gegenwehr abschlachten liessen.
Alfred Popper: Es geht nicht nur um uns Juden, es geht um uns alle, uns Menschen. Niemand darf entrechtet, entmenschlicht und dem Tod ausgeliefert werden, niemals und nirgends. Dafür stehen wir als Exempel, und dafür steht Auschwitz, als Symbol des Schreckens, der sich niemals mehr wiederholen darf.
Rudolf Popper: Niemals.