Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu schreibt sich mit seinem labyrinthischen Roman «Theodoros» mitten unter die grössten Dichter. Schulter an Schulter steht er mit Jorge Luis Borges.
Es geht um Bruchteile von Sekunden, um Leben und Tod. Die Kugel rast schon durch den Gewehrlauf und zielgenau auf den Menschen zu, dem sie gilt. Weil dessen frühes Ende aber den Plan der Schöpfung durchkreuzen würde, müssen die Kräfte der Vorsehung und der literarischen Phantasie eingreifen. Also wird das im Flug abkühlende Metall von einem vitalen Hauch gestreift.
Auf der Kugel wächst aus den chemischen Elementen ein winziges Menschengeschlecht, das nach Abertausenden von kriegerischen und selbstzerstörerischen Generationen – in Wahrheit aber nach Millisekunden – ein gemeinsames Ziel ins Auge fasst: eine Maschine zu bauen, die das Planetenprojektil von seiner tödlichen Bahn abbringt. Die Sache gelingt. Statt ins Herz zu treffen, nimmt das Geschoss die freie Flugbahn zwischen Brust und abgespreiztem Arm des Opfers.
Der solcherart Überlebende heisst Theodoros, ist im 19. Jahrhundert Pirat in der Ägäis, nachmaliger Kaiser Äthiopiens und sinistrer Held von Mircea Cartarescus neuem Roman. Was der rumänische Schriftsteller in der Gewehrschuss-Szene himmlischen Heerscharen in die Schuhe schieben will, kommt in Wahrheit natürlich aus seiner eigenen, ohne Zweifel überirdischen Kunst. Auf nicht weniger als vier Seiten fällt dieser eine Schuss, der zwischen den griechischen Inseln von einem englischen Offizier auf Cartarescus Hauptfigur abgefeuert wird.
Auf diesen vier Seiten wird eine aufs Mikroskopische verkleinerte Kosmologie entwickelt, bei der die Worte in verschwenderischer Genauigkeit schillern und gerade erst erzeugen, was sie beschreiben: einen kompletten Weltaufgang. Allein für diese rasante Szene könnte man dem Autor fast unbesehen den Literaturnobelpreis in die Hand drücken. Seit längerem steht Cartarescu auf der Liste der Favoriten. Mit dem 2022 im Original erschienenen Opus magnum «Theodoros» sollten die Chancen deutlich gestiegen sein.
Rumänischer Hochstapler
Die erwähnte Episode aus dem Leben seines Theodoros steht wohl nicht ohne Grund genau in der Romanmitte. Sie ist eine ernste Metapher für den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, wenn nicht überhaupt für den Zustand der Welt, und gleichzeitig ist sie ein phantastisch münchhausenhafter Witz. Genau wie auch der Rest des 760 Seiten dicken Buchs. Kichernder Kalauer und enzyklopädische Kulturgeschichte reichen sich hier erfrischend ungezwungen die Hand, aber der Roman ist vor allem eines: eine grosse Hymne auf das Erzählen.
1818 kommt Theodoros unter dem Namen Kassa Hailu in der Provinz Quara zur Welt. 1855 wird er zum Kaiser von Äthiopien gekrönt. So ist es in den Geschichtsbüchern verzeichnet, die dem Herrscher auch ein unbeherrschtes Wesen attestieren. «Du warst ein Mann des Bluts, Theodoros, hast getan, was böse ist vor dem Herrn», heisst es auf der ersten Seite von Cartarescus Roman, der auch im Folgenden nichts beschönigen wird.
Die Freude an der Übeltat, dreihundert Jungfrauen nackt in die Wüste geschickt und unliebsame Gegner zu Hunderten gemeuchelt zu haben, ist kein Passierschein fürs Himmelreich, und genau darum geht es auf der Metaebene der Erzählung. Das ganze Buch ist eine Mitschrift von Theodoros’ Lebensführung. Niemand Geringeres als die sieben Erzengel haben hier den Stift in der Hand. Am Ende wird vor Gottes Thron abgerechnet.
Die Zielperson der Beschattungsaktion wird durchgehend mit «Du» angesprochen, aber diese delikate Form der Erzählkonstruktion ist nur ein Teil der Komplexität, für die Mircea Cartarescu auch schon bisher berühmt war. Kaiser Theodor II. von Äthiopien soll nämlich laut Roman mitnichten im damaligen Abessinien geboren, sondern in Wahrheit ein rumänischer Hochstapler gewesen sein. Ein Usurpator der Macht, gottesgläubig, wenn auch nicht gottesfürchtig.
In der Walachei als Enkel eines Fellmützenmachers und als Sohn eines Dienstboten und einer ebenfalls subalternen Griechin geboren, war dem Kind eine Weissagung in die Wiege gelegt: dass aus ihm einmal etwas Besonderes werden würde. Die Vita Alexanders des Grossen beeindruckt das Kind bei den Vorlesestunden der Mutter. Auch die Geschichten rund um einen gewissen «Napuleon Buonapartie» lassen später den jungen Mann nicht kalt. Er treibt juvenilen Unfug und erkennt, dass ohne Gewalt an Aufstieg nicht zu denken sein wird. Glaube, schön und gut, aber Wille ist besser.
Pirat und Gottessucher
Mit dem Roman «Theodoros» nimmt Mircea Cartarescu von der surrealen Selbstfiktionalisierung seiner berühmten «Orbitor»-Trilogie oder des Romans «Solenoid» Abschied, von einem immer auch politischen Blick zurück in die Zeiten des rumänischen Sozialismus. Cartarescus Überblendung der Vergangenheit mit erfundenen eigenen Biografien war Spiel und Abwehrzauber zugleich. Davon bleibt bei «Theodoros» das grosse «Was wäre, wenn?» übrig, die Grundformel des erfindenden Erzählens schlechthin.
Was also wäre, wenn sich aus den ländlichen Düften der Walachei ein Machtbesessener erhoben hätte, der sich mit den Göttern im Bunde wähnte? Das Leben dieses Roman-Theodors weist ihn nicht unbedingt als «Geschenk Gottes» aus, was der Bedeutung seines Namens entsprochen hätte. Als Pirat im griechischen Archipel hat er nicht nur die dortigen Einheimischen, sondern auch die Türken und die Engländer gegen sich. Neben seiner ökonomisch-kriegerischen Wochentagsarbeit macht sich Theodoros auf die Suche nach der seit König Salomons Zeiten verschwundenen Bundeslade. Das Behältnis mit den Steintafeln der Zehn Gebote soll ihn im Kampf unverwundbar machen.
Cartarescu formt aus dem Begehren seines Helden eine wahre Schnitzeljagd und kann dabei auch noch einen weiteren Strang der Geschichte knüpfen. Der religiöse Herleitungsmythos der äthiopischen Könige geht davon aus, dass ihr erster von König Salomo und der Königin von Saba gezeugt wurde. Der Roman verflicht diese Mythen und Geschichten mit den Abenteuern seines Helden und fügt normalsterbliche Prominenz ein. Etwa jenen Norton I., der sich 1859 zum Kaiser der Vereinigten Staaten erklärte. Oder den Ururgrossvater John Lennons, der sich auf Theodoros Schiff schon seines allerdings noch ungeborenen Nachfahren rühmt.
Wenn einer wie Mircea Cartarescu erzählt, dann wird noch das Trivialste zum übersinnlichen Ereignis. Es genügt «eine kleine Quantenfluktuation», wie es einmal heisst, und die virtuellen Realitäten des Romans umschliessen einen ganz. «Theodoros» ist ein Exzess des Schauens. Allerhöchste und jedes Detail von innen erleuchtende Beschreibungszauberei, die der Übersetzer Ernest Wichner in ein unfassbar zartes und dichtes Deutsch übertragen hat. Das muss umso schwieriger gewesen sein, als Cartarescus Roman in einem altertümelnden Kunst-Rumänisch geschrieben ist, poetologisch aber avantgardistisch bleibt.
Königin Victorias Pistolen
Liest man die Geschichte des Theodoros, meint man sich in den Labyrinthen eines Jorge Luis Borges wiederzufinden oder in Jonathan Swifts «Gulliver». Wenn der rücksichtslose Siegeswille des späteren äthiopischen Königs nach vielen grausamen Schlachten bei der letzten und entscheidenden angelangt ist, nämlich jener gegen Dejazmatch Wube Hayle Mariam im Jahr 1855, dann macht Mircea Cartarescu ein Gemälde daraus, das der «Alexanderschlacht» des Renaissancemalers Albrecht Altdorfer gleicht. Es weitet sich der Horizont hinter den Tausende Mann starken Truppen. Wie das Auge Gottes steht die Sonne in den Wolken. Genau jener Allerhöchste wird es auch sein, der im «Theodoros»-Roman eine exquisite Schlusspointe liefert.
Was die Schlusspointe im Leben des äthiopischen Kaisers anlangt, hält sich das Buch ziemlich genau an die historischen Fakten. Um in seinem Land die Fäden in der Hand behalten zu können, bittet Theodor II. die englische Königin Victoria brieflich immer wieder um Hilfe. Weil ihre Abgesandten vom grössenwahnsinnigen, längst auch drogensüchtigen afrikanischen Herrscher gedemütigt werden, hat die Queen die Faxen irgendwann dicke. Sie schickt Truppen zur Festung von Magdala, in der sich der Kaiser verschanzt. Auf seinem Tisch liegt ein Paar Pistolen, ein früheres Geschenk der Königin.
Aus der Hoffart des Theodoros ist gottlose Verzweiflung geworden. An diesem 13. April 1868 wird die Kugel ihr Ziel nicht verfehlen. Auch diese Szene ist bei Mircea Cartarescu ganz grandios gemacht. «Theodoros» ist ein Buch, das einen gläubig machen kann, wenn man den Glauben an die Literatur schon verloren zu haben glaubt. Und passende Götter hat der grosse Cartarescu auch zur Hand, etwa diesen: Enthousiasmos, den Gott der Glückseligkeit.
Mircea Cartarescu: Theodoros. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Verlag Paul Zsolnay, Wien 2024. 672 S., Fr. 51.90.