Die NZZ hat die brisanten Unterlagen vor Gericht erstritten.
Der Kanton Zürich dürfte bis ins Jahr 2050 von heute 1,6 auf rund 2 Millionen Einwohner wachsen. Davon gehen die Statistiker aus.
Die grosse Frage ist, wo dieses Wachstum stattfinden soll – in den Städten oder auf dem Land? Zu beurteilen ist weiter, was die Folgen des Wachstums sind, etwa für den Wohnungsbau, für die Schulen, Strassen und Spitäler.
All das besprach die Zürcher Kantonsregierung an einer Klausur Anfang September 2023. Die Öffentlichkeit sollte von diesen Diskussionen aber nichts erfahren.
Die NZZ verlangte im Oktober 2023 auf Basis des Öffentlichkeitsprinzips Einsicht in eine Präsentation der Baudirektion, die an dieser Klausur vorgestellt worden war. Doch die Regierung lehnte das Gesuch ab. Sie begründete dies damit, dass sein Meinungsbildungsprozess noch nicht abgeschlossen sei und durch die Veröffentlichung beeinflusst würde.
Mit diesem Standardargument versuchen staatliche Stellen im Kanton Zürich immer wieder, Einsichtsbegehren von Journalisten abzuwehren. Die NZZ legte gegen den Entscheid der Kantonsregierung Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein.
Dieses hat über ein Jahr später nun entschieden, und zwar zugunsten der NZZ. Die Regierung hat auf einen Weiterzug an das Bundesgericht verzichtet und die 30-seitige Dokumentation der Redaktion zugestellt.
Eine zweite Stadt Zürich zieht in den Kanton
Das Dokument betrachtet den Zeitraum von 2020 bis 2050. In diesen 30 Jahren rechnet die Zürcher Kantonsregierung mit einem Zuwachs von knapp 450 000 Personen. Das sind ziemlich genau so viele Einwohner, wie heute in der Kantonshauptstadt leben.
Man könnte also sagen, dass bis 2050 eine zweite Stadt Zürich in den Kanton Zürich ziehen wird und dort irgendwo untergebracht werden muss. 220 000 Personen sollen netto aus dem Ausland einwandern, 30 000 aus anderen Kantonen. Dazu kommt ein Geburtenüberschuss von 200 000 Babys.
Verteilt ist das Wachstum sehr ungleichmässig. Die Stadt Zürich könnte mit rund 112 000 neuen Einwohnern ein Viertel der neuen Kantonseinwohner absorbieren. Das dünnbesiedelte Weinland im Norden des Kantons wüchse hingegen nur um etwa 8500 Personen.
Wie sich das Wachstum auf die Bezirke verteilen könnte, zeigt das 2024 aktualisierte Wachstumsszenario des Kantons Zürich. Dieses betrachtet den Zeitraum von Ende 2023 bis 2050. Die Zahlen unterscheiden sich nur geringfügig von den Annahmen, von denen die Regierung in ihrer damaligen Klausur im September 2023 ausging.
Was heisst das nun im Detail? Grundsätzlich fällt auf, dass der Kanton in seinem Dokument von 2023 von einer leichten Verlangsamung des Wachstums ausgeht. Während die Bevölkerung von 2000 bis 2020 pro Jahr um 17 500 Personen anschwoll, soll das Plus von 2020 bis 2050 bloss noch bei jährlich 15 000 Personen liegen.
Auch in anderen Kategorien soll das Wachstum weniger gross ausfallen. So soll die Zahl der Autos weniger stark als die Bevölkerung zulegen. Während im Jahr 2000 auf zwei Personen noch ein Auto kam, soll das Verhältnis im Jahr 2050 bei 2,3 Personen pro Fahrzeug liegen. Im Kanton Zürich sinkt also die Abhängigkeit vom Auto.
Diese Entwicklung hat bereits eingesetzt, gerade in den Städten. Schon heute wächst der Autobestand schwächer als die Population, wie Zahlen des Kantons zeigen. Dennoch werden bis 2050 voraussichtlich 140 000 zusätzliche Autos auf die Zürcher Strassen kommen.
Das dürfte die heute schon angespannte Lage im Verkehr weiter verschärfen. Wie das jüngste nationale Nein an der Urne zu einem Ausbau der Autobahnen gezeigt hat, dürfte es schwierig werden, für Strassenbauprojekte politische Mehrheiten zu finden. Weil von der Planung bis zum Bau neuer Strassen nicht selten Jahrzehnte vergehen, wird es also wohl eng werden. Und die Trams und S-Bahnen sind heute schon zu Stosszeiten voll.
Und das ist noch nicht alles:
- Pro Jahr müssen etwa 7000 Wohnungen gebaut werden.
- Der Schülerzuwachs an den Mittelschulen entspricht ungefähr acht neuen Kantonsschulen.
- Die Zahl der zusätzlichen Patienten ist acht Mal so gross wie die heutige Kapazität des Spitals Limmattal.
Was das alles für die Planung der Infrastruktur bedeutet, lässt die Präsentation offen. Die Regierung wird sich unter anderem überlegen müssen, ob sie tatsächlich neue Schulen und Spitäler anstrebt oder ob die jetzigen Standorte weiter ausgebaut werden müssen oder effizienter genutzt werden sollen.
Kein Laissez-faire mehr?
Die Präsentation deutet an, dass möglicherweise ein grundsätzliches Umdenken im staatlichen Handeln notwendig wird: Bisher habe die Leitfrage gelautet, wie das Bevölkerungswachstum aufgefangen und die hohe Lebensqualität bewahrt werden könne. Neu müsse die Frage lauten: «Wie viel Wachstum sollen/wollen/können wir ermöglichen?»
Der Kanton könnte also in die Versuchung kommen, von einer mehr oder weniger permissiven Laissez-faire-Haltung Abstand zu nehmen und stärker regulierend einzugreifen. Das ist ein Ansatz, der im Kanton Zürich durchaus schon gelebt wird, wenn man etwa an die dirigistische Wohnbau- und Verkehrspolitik der Stadt Zürich denkt.
Einfluss nehmen könnte der Kanton gemäss Präsentation über die Steuern, die Wirtschaftsförderung oder die Raumplanung. Auffällig abwesend in dieser Auflistung ist der gewichtigste Faktor des Bevölkerungswachstums – eine stärkere Regulierung der Zuwanderung aus dem Ausland. Eine solche wäre allerdings Sache des Bundes.
Kaum noch Platz in den Städten
Aus kantonaler Sicht stellt sich in der Präsentation die Frage, ob die geografische Verteilung der Neuzuzüger besser gesteuert werden sollte oder könnte. Bis heute verfolgt der Kanton die Losung, dass primär die urbanen Zentren zum Handkuss kommen sollen – deshalb sehen die Prognosen auch ein Wachstum der Stadt Zürich um gut 110 000 Personen vor.
Mit ihren heutigen Zonen und Freiräumen könnte die Stadt diesen Zuwachs aber bei weitem nicht absorbieren. Die derzeitigen Reserven liegen laut Präsentation bei nur knapp 70 000 Personen.
Zudem macht die Stadt Zürich mit ihrer Verkehrs- und Wohnpolitik nicht den Eindruck, dass sie überhaupt noch stark wachsen will. Der Zürcher Stadtrat hat erst vor kurzem eine Aufstockungsinitiative der FDP für ungültig erklärt.
Also braucht es andere Ideen. In der Präsentation der Baudirektion werden dazu drei Szenarien gegeneinander abgewogen.
Szenario I: Verdichtung in den Städten
Das erste Szenario ist die heutige Lösung, also eine Entwicklung, die sich auf die grossen und mittelgrossen Städte konzentriert. Möglich wäre dies nur über eine deutliche Verdichtung. In der Folge würde der Druck auf die Infrastruktur in den Städten stark zunehmen.
Die Präsentation führt aus, dass preisgünstiger Wohnraum verlorengehen könnte, dass ganze Quartiere umgestaltet werden müssten. Viele Altliegenschaften müssten zugunsten grösserer Bauten wohl abgerissen werden. Das alles sind Punkte, welche gerade die rot-grüne Stadt Zürich vehement ablehnt.
Szenario II: Zersiedelung
Das zweite Szenario ist eine gleichmässige Verteilung der neuen Einwohner über den ganzen Kanton – also eine Zersiedelung und damit eine Entwicklung, die man in der gegenwärtigen Raumplanung tunlichst vermeiden will. Denn sie hätte grosse Folgen für die Landschaft und die Landwirtschaft. Die Gemeinden wären mit hohen Investitionskosten konfrontiert, ausserdem würde der Verkehr, vor allem jener mit dem eigenen Auto, stark zunehmen.
Szenario III: Wachstum auf dem Land
Das dritte Szenario sieht eine Konzentration des Wachstums im ländlichen Raum vor. Das würde eher schwachen Regionen wie dem Weinland wichtige Impulse bringen, gleichzeitig ginge es auch in diesem Fall nicht ohne Umzonungen und grosse Eingriffe in die freie Landschaft.
Auch in diesem Szenario würden viele Gemeinden mit ihrer Infrastruktur an den Anschlag kommen; sie wären mit hohen Investitionskosten konfrontiert.
Nicht zuletzt würde dieses Szenario wohl den Wünschen der Zuzüger widerstreben, die mehrheitlich lieber in die Städte ziehen wollen und nicht in einen Weiler auf dem Land – der Kanton würde also an der Realität vorbeiplanen. Die Folge laut Baudirektion: An zentralen Lagen würden die Mieten stark steigen.
Sogar Nichtstun ist eine Variante
Was also soll der Kanton tun? Welche groben Linien muss er verfolgen? Die Baudirektion schlägt in dem Diskussionspapier mehrere Ansätze vor. Diese reichen vom Nichtstun (!) über Aufzonungen, Umnutzungen und Verdichtungen bis hin zur Abgabe des Wachstums an die Nachbarkantone.
Diese Punkte sind, wie die ganze Präsentation, nicht als konkrete Handlungsanweisungen oder fixfertige Rezepte zu verstehen. Sie sind vielmehr eine Bestandesaufnahme, eine Grundlage für nächste Schritte.
Genau diese hat der Kanton in der Zwischenzeit in Angriff genommen. Im April hat der Regierungsrat das Projekt «Wachstum 2050» gestartet. Im Grundsatz sollen dabei die Fragestellungen angegangen werden, die in der Präsentation aufgeworfen worden sind.
Die Regierung will erarbeiten, wie sie gemeinsam mit den Gemeinden die Herausforderungen angehen will. Für das Projekt sind Kosten von 1,8 Millionen Franken veranschlagt.
Konkrete Resultate werden bis im Frühling 2027 versprochen. Die Frage ist, ob die erwarteten Wachstumszahlen bis dann nicht bereits wieder Makulatur sind. Denn in früheren Jahren wurde insbesondere der Zustrom aus dem Ausland deutlich unterschätzt. Das für 2050 erwartete Wachstum könnte also schon viel früher eintreffen.