Das amerikanische Unternehmen Open AI, Erfinder von Chat-GPT, will in München sein Deutschlandbüro eröffnen. Das spricht für die Anziehungskraft der bayrischen Landeshauptstadt, ist aber kein Ausweis für die Standortqualität Deutschlands.
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es her, da brachte Bundespräsident Roman Herzog den Wandel seiner Heimat Bayern vom Agrar- zum Hightech-Standort in dem einprägsamen Bild von der «Symbiose aus Laptop und Lederhose» auf den Punkt. Später übernahmen etliche Politiker der CSU Herzogs Bonmot, um für Deutschlands südlichstes Bundesland zu werben.
Heute ist solche Werbung kaum mehr nötig. Bayern hat sich längst als Powerhouse der Republik etabliert, die Landeshauptstadt München mit ihren zahlreichen DAX-Konzernen zieht in- und ausländische Investoren an wie keine andere Stadt in Deutschland.
Der jüngste Erfolg: Das amerikanische Unternehmen Open AI, einer der Vorreiter der künstlichen Intelligenz, will sein erstes Deutschland-Büro in der bayrischen Metropole eröffnen. Das Unternehmen hatte vor etwas mehr als zwei Jahren mit seinem Chatbot Chat-GPT weltweit für Furore gesorgt. Mittlerweile nutzen mehr als 300 Millionen Menschen Chat-GPT. In München will Open AI künftig mit Spezialisten für Vertrieb, Entwicklung, Kommunikation und Lobbying Präsenz zeigen.
Nutzen SPD und Grüne die Ansiedlung von Open AI?
Deutschland gehöre bei der Anwendung von künstlicher Intelligenz weltweit zu den führenden Ländern, erklärt Open AI seine Entscheidung für München. Nirgends in Europa nutzten mehr Menschen Chat-GPT als in Deutschland, die Anzahl der Nutzer habe sich im vergangenen Jahr verdreifacht. Die Bundesrepublik gehöre damit zu den fünf führenden Ländern bei der Nutzung von Chat-GPT.
Zudem sei Deutschland für sein technisches Know-how und seine Fähigkeit zu industriellen Innovationen bekannt, sagte Sam Altman, Chef und Mitbegründer von Open AI.
Die Entscheidung des amerikanischen KI-Pioniers für Deutschland und München setzt ein Fragezeichen hinter den oft beklagten Leistungsabfall des Standorts Deutschland – und könnte den deutschen Regierungsparteien SPD und Grünen im Bundestagswahlkampf als Argument dienen, die Opposition rede den Standort unbegründet schlecht.
Ist der Standort Deutschland also besser als häufig behauptet? Fakt ist: Deutschland kann (noch immer) Innovationen. Gemäss einer Statistik der Weltorganisation für geistiges Eigentum lag die Bundesrepublik bei den weltweiten Patentanmeldungen mit mehr als 133 000 angemeldeten Patenten im Jahr 2023 auf dem fünften Rang, hinter China, den USA, Japan und Südkorea.
Deutschland belegt bei Hochschulpatenten den zweiten Platz
Allerdings sind Patentanmeldungen allein noch kein geeigneter Indikator für die Innovationskraft eines Landes. Denn nicht alle Patente, die bei den Ämtern angemeldet werden, finden später ihren Niederschlag in marktgängigen Produkten und Dienstleistungen. Das relativiert die hohe Anzahl der Patentanmeldungen in China, die sich 2023 auf mehr als 1,6 Millionen belief, drei Mal so viele wie in den USA.
Eine wichtige Quelle für Innovationen sind die Universitäten und die ihr angeschlossenen Forschungsinstitute. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ist Deutschland bei den Hochschulpatenten international gut aufgestellt. Mit knapp 9 Prozent aller Patentanmeldungen aus den Universitäten bekleidet die Bundesrepublik den zweiten Platz hinter den USA, die auf 34,5 Prozent der weltweiten Hochschulpatente kommen.
Setzt man die Anzahl der Patentanmeldungen ins Verhältnis zur Anzahl der Studenten und ermittelt so die Effizienz der Unis, landet die Bundesrepublik mit 92 Patentanmeldungen je 100 000 Studenten international auf dem achten Platz, einen Rang hinter den USA. Den Spitzenplatz belegt nach dieser Berechnung die Schweiz mit 267 Patentanmeldungen je 100 000 Studenten, darauf folgen Israel und Belgien. China kommt mit 5 Patentanmeldungen je 100 000 Studenten nur auf Platz 15 und ist damit nicht in den Top 10 vertreten.
Die innovativste deutsche Universität ist gemäss der IW-Studie die Technische Universität München. Sie belegt im internationalen Vergleich den zwanzigsten Platz, was angesichts der harten Konkurrenz ein solides Ergebnis ist. Patente stünden für «innovative Ideen, neue Technologien, Fortschritt und Erfindergeist», schreiben die Autoren der IW-Studie.
Direktinvestitionen in Deutschland nehmen ab
Das dürfte ein Grund dafür sein, dass sich Open AI für München entschieden hat. Zumal sich dort bereits die Deutschlandzentralen anderer amerikanischer Techkonzerne wie Apple, Microsoft und Intel befinden. Die regionale Ballung von Wissen und Jobchancen zieht qualifizierte Arbeitskräfte an und dürfte es Open AI erleichtern, in München geeignete Spezialisten zu finden.
Dennoch wäre es verfehlt, die angekündigte Ansiedlung von Open AI in München als Qualitätsausweis für den gesamten Standort Deutschland zu interpretieren. Das zeigen Daten des US-Handelsministeriums zu den bilateralen Direktinvestitionen. So haben sich die Direktinvestitionen von amerikanischen Unternehmen in Deutschland in den vergangenen Jahren spürbar abgeflacht. Dagegen haben die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in den USA kräftig zugenommen.
Von 2013 bis 2023 hat sich der Bestand der Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in den USA auf 473 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt. Hingegen ist der Bestand der Direktinvestitionen amerikanischer Unternehmen in Deutschland im selben Zeitraum nur um rund 80 Milliarden auf 193 Milliarden Dollar gestiegen. Das Defizit Deutschlands bei den Direktinvestitionen mit den USA spiegelt die Erosion der Standortqualität wider, unter der Deutschland ausweislich internationaler Standortvergleiche seit Jahren leidet.
Wegen des Reformstaus unter den Regierungen von Angela Merkel und Olaf Scholz verliere Deutschland im internationalen Wettbewerb um Menschen und Kapital seit Jahren «deutlich an Boden», sagt Peter Seppelfricke, Professor für Finanzwirtschaft an der Hochschule Osnabrück. «Ohne schnelle und drastische Reformen kann sich das Drama schneller zuspitzen, als es sich viele vorstellen», sagt Seppelfricke.
Die Standortentscheidung von Open AI dürfte vor diesem Hintergrund nicht viel mehr sein als ein Tropfen auf den heissen Stein.