Sonntag, November 24

Die Longevity-Konferenz ist halb Investorentreffen und halb seriöser Wissenschaftskongress mit Forschern wie dem britischen Bioingenieur Aubrey de Grey. Gemeinsam wollen die Teilnehmer den Tod abschaffen. Wie weit sind sie?

Das Reich Gottes hat heute keine Besucher. Die St.-Josefs-Kirche liegt abseits der eleganten Gstaader Promenade, wo Weissweingläser klirren und Einkaufstüten mit dezentem Prada- oder Hermès-Logo spazieren getragen werden. Vorne am Altar hängt das Kruzifix vor einer expressionistischen Farbwand, es sieht aus, als würde hier das Höllenfeuer lodern. Die Bibel ist aufgeschlagen, Buch des Sirach, Kapitel 14: «Jeder Mensch wird alt wie ein Gewand», steht dort geschrieben, «es gilt das ewige Gesetz: Man muss einst sterben. Gleich wie am grünen Baum der Blätterwuchs, wovon das eine welkt, das andre frisch erspriesst, so sind auch die Geschlechter all von Fleisch und Blut: Das eine stirbt, das andre wächst heran.»

Zehn Minuten Fussweg von der Kirche entfernt treffen sich im Hotel Grand Bellevue diejenigen, die sich mit dem ewigen Gesetz nicht abfinden wollen. Die nicht untätig zusehen wollen, wie der menschliche Verfall unablässig voranschreitet. Sie wollen dem Tod einige Jahrzehnte abtrotzen, wenn ihn nicht gar ganz überwinden. Oder sie wollen zumindest ein gutes Geschäft damit machen. «The most exclusive conference for longevity investors», so steht es auf dem Banner am Entrée des Hotels. Der exklusivste Anlass für solche, die in Langlebigkeit investieren wollen.

Privatflugzeuge der Superreichen

Zum vierten Mal findet in diesem September die mehrtägige Konferenz hier statt, in diesem herrlichen Bergtal im Berner Oberland, wo die deutsche an die französische Schweiz grenzt. Über die erste Konferenz 2020 erzählt man, dass der regionale Flugplatz damals völlig überlastet war, wegen all der Privatflugzeuge der Superreichen, die aus den USA, aus Israel oder Indien angereist waren. 3600 bis 5800 Franken kostet das Ticket, je nach Kategorie der Hotelzimmer.

Aus Tausenden Bewerbungen wird nur eine handverlesene Gruppe von 120 Gästen ausgewählt. Grundvoraussetzung ist ein Kapital von mindestens 30 Millionen Dollar – Geld, das in die vielleicht letzte Sache fliessen soll, die sich Milliardäre bisher nur mit Einschränkungen kaufen konnten: ein langes Leben.

Die Longevity-Konferenz ist halb seriöser Wissenschaftskongress, an dem Startup-Gründer und Forscher neue Studien vorstellen, halb Investorentreffen, an dem es darum geht, diese Studien zu Geld zu machen. In der Hotellobby bestrahlen Jungunternehmer aus Salzburg die Teilnehmer mit Rotlicht, um die Zellaktivität der Haut zu erhöhen. Ein anderes Startup bietet Brillen an, die Nutzer mit audiovisuellen Reizen in einen psychedelischen Zustand versetzen sollen – um besser schlafen zu können. All das soll gesund sein, doch es handelt sich dabei um die «low hanging fruits», wie man hier sagt; Früchte, bei denen die Investoren sofort zugreifen und Geld verdienen können – mehr aber nicht.

Das Gegenteil der «low hanging fruits» sind die «moonshots». Forschungsprojekte, die Millionen verschlingen und jahrelang keinen Cent abwerfen – bis sie dann irgendwann die Welt verändern. So jedenfalls ist der Plan. Wie jener des Berliner Forschers Emil Kendziorra beispielsweise. Er hat ein Unternehmen mitgegründet, das todkranke Menschen unmittelbar nach dem Tod einfriert, um sie in Hunderten Jahren wieder aufzutauen – dann, wenn die rettende Medizin erfunden wurde. Daran arbeite er gerade für knapp über dem Mindestlohn, sagt er. Oder Alex Colville, der gerade ein medizinisches Panel besucht. Er träumt davon, Sterbenden die Köpfe abzutrennen, um sie als Cyborgs mit künstlichem Körper weiterleben zu lassen.

Der absolute Mister Moonshot in Gstaad aber ist Aubrey de Grey, die graue Eminenz der ganz grossen Visionen. Sein grauer Bart reicht ihm bis zum Bauchnabel, seine grauen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Man kann nicht unbedingt behaupten, dass de Grey eine jugendhafte Erscheinung hat, auch wenn es genau das ist, was er sich zur Lebensaufgabe gemacht hat: ewige Jugend.

Das Alter, eine tödliche Krankheit

An diesem Mittwochvormittag steht de Grey auf der Bühne des «Yacht Club», eines Holzhauses auf dem Hotelgelände, in dem normalerweise der örtliche Segelklub tagt. Alle Plätze sind gefüllt, Milliarden Investorengelder auf wenigen Quadratmetern, es riecht nach dem Kräuteraufguss der Sauna im Erdgeschoss, und in einem Schaufenster werden Füller des Luxusherstellers Montegrappa ausgestellt (Preise bis zu 10 000 Euro). De Grey spricht rasend schnell und verschluckt mitunter die Worte. Für fast jede Infektionskrankheit habe die Menschheit bisher ein Heilmittel gefunden, sagt de Grey. Gegen das Altern aber, eine tödliche Krankheit mit hunderttausend Opfern am Tag, da gebe es bis jetzt nichts. Mediziner würden nur Alterskrankheiten wie Krebs oder Bluthochdruck behandeln, das eigentliche Problem aber ignorieren: die allmähliche Vermüllung der Zellen.

Auf der Leinwand erscheint jetzt das Foto eines Oldtimers, der durch die Schweizer Berge kurvt. «Das Auto wurde vor rund hundert Jahren gebaut», sagt de Grey. «Und es fährt noch immer! Was lernen wir daraus?» Dass sich eine Maschine mit der richtigen Wartung unendlich nutzen lasse. Und was sei der menschliche Körper schon anderes als eine Maschine?

Auf der Terrasse des Hotels: De Grey legt sein Jackett über die Stuhllehne, die Arme, die aus dem T-Shirt ragen, sind dünn wie Zahnstocher. Schon als Kind sei ihm klar gewesen, dass das Sterben das grösste Drama der Menschheit sei, sagt er. Dass jemand das anders sehen könne: unvorstellbar! Irgendwelche Biologen musste es geben, die ihr Bestes taten, um das Altern aufzuhalten, da war sich der junge de Grey sicher. Er studierte also Informatik, denn Programmieren war das, was er schon als Jugendlicher am besten konnte. Mit künstlicher Intelligenz wollte er ein anderes Problem der Menschheit lösen. Die viele Zeit, die sie mit Arbeit verschwendet.

Alles änderte sich, als er seine spätere Frau Adelaide kennenlernte, fast zwanzig Jahre älter und Biologieprofessorin. Sie habe ihm alle Illusionen geraubt, von diesen fleissigen Biologen, die dabei wären, das Altern zu stoppen. Von diesem Moment an, sagt de Grey, sei ihm klar gewesen: Er musste in die Altersforschung. Mit seinem technischen Hintergrund glaubte er den Biologen gegenüber einen Vorteil zu haben. Er sah den Körper als das, was er aus seiner Sicht ist – eine Maschine, dessen Verschleissprobleme es zu lösen galt.

Also brachte sich de Grey selbst die Grundlagen der Zellbiologie bei, promovierte schliesslich in Cambridge und gründete eine Stiftung, die sich zum Ziel setzte, alle altersbedingten Krankheiten auszurotten. In der Wissenschafts-Community blieb er ein Aussenseiter. In einem Artikel warf ihm 2005 eine Gruppe von Forschern vor, seine Theorien gehörten «in den Bereich der Phantasie». De Grey lobte daraufhin ein Preisgeld von 20 000 Dollar für denjenigen aus, der ihn widerlegen konnte. Es gelang zwar niemandem, die Jury erklärte allerdings, dass viele von de Greys Vorschlägen mit dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht überprüft werden könnten.

«Mythologisierter Unsinn»

Wenn man de Grey auf seine Kritiker anspricht, dann wird er zynisch, spricht von Idiotie. Nur wenige arbeiten an der Abschaffung – was vermutlich auch damit zusammenhängt, dass die öffentliche Meinung darüber nicht die beste ist. Ein Blick in die Literaturgeschichte: Faust, Dorian Gray, Dr. Jekyll und Mr. Hyde – schon die erste Erzählung der Menschheitsgeschichte, das Gilgamesch-Epos aus dem alten Babylon, handelt von der Überwindung des Todes. Und schon dort kommt König Uruk zum Schluss, dass der Tod zum Leben gehört, dass jedes Bemühen, ihn zu besiegen, Hybris ist. De Grey dagegen hält all das für mythologisierten Unsinn.

Er betrachtet sich als nichts anderes als eine Art Krebsforscher, der eben an einer Krankheit forscht, die noch schneller zum Tode führt. Auch der Krebsforscher verlängert das Leben von Menschen, bei dem die «Natur» eigentlich den Tod vorgesehen hatte. Lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Erwachsenen im Jahr 1800 bei unter 40 Jahren, liegt sie heute in Deutschland bei etwa 80. Was ist also in Zukunft noch möglich? 150 Jahre? 1000? Der erste Mensch, der tausend Jahre alt werde, behauptet de Grey, sei bereits auf der Welt.

Wie bei der Wartung eines Oldtimers seien auch beim Menschen mehrere Massnahmen parallel nötig, glaubt de Grey. Eine davon – es ist vermutlich die komplexeste – nennt er die «allotopische Expression». Dafür muss die DNA aus dem Mitochondrium – dem Kraftwerk der Zelle – in den Zellkern verschoben werden. Vor vielen Milliarden Jahren waren Mitochondrien wohl noch eigenständige Organismen, weshalb sie noch heute ein eigenes Genom besitzen. Das ist deshalb ein Problem, weil Mitochondrien keine guten Orte für DNA sind. Hier sind sie umgeben von sogenannten freien Radikalen, also aggressiven Molekülen, die anderen Molekülen die Elektronen stehlen wollen und damit Schaden anrichten. Wie bei einem Sicherungskasten in einem feuchten Keller ist die Gefahr von Kurzschlüssen hoch. Fehlerhafte Kopien werden bei der Zellteilung weitergegeben und breiten sich bald im ganzen Körper aus. Anders gesagt: Der Körper altert. De Grey will deshalb den Sicherungskasten in den ersten Stock verlagern, wo es trocken ist: in den Zellkern.

Die Methoden, mit denen das funktionieren könnte, sind tatsächlich noch Science-Fiction. Es klingt unglaublich. Und immer, wenn in der Wissenschaft etwas unglaublich klingt, ist Vorsicht geboten. Aber wer weiss, in einigen Jahrzehnten? Dass der Planet eines Tages gnadenlos übervölkert sein könnte, wie Kritiker fürchten, hält de Grey jedenfalls – wie so vieles, was ihm widerspricht – für kleingeistigen Unsinn. Wenn wir irgendwann einmal so weit sein sollten, dann hätten wir längst Möglichkeiten entwickelt, um Strom oder Lebensmittel im ausreichenden Masse sauber zu produzieren. Er widme sich lieber den Problemen, die in der Gegenwart anstünden: dass Tausende Menschen in diesem Augenblick sterben, weil es kein Heilmittel gibt.

Es stimmt wohl, dass der Mensch seit je die Probleme, die er durch Technologie produziert, durch neue Technologien löst. Wenn wir des Lebens irgendwann überdrüssig werden, dann wird es vielleicht Medikamente geben, die die Neuroplastizität erhöhen, um uns die kindliche Neugier zurückzugeben. Kontrolle erfordert immer ein höheres Mass an weiterer Kontrolle, auch das scheint ein ewiges Gesetz zu sein. Doch lässt sich die Natur wirklich vollumfänglich kontrollieren? Oder wird es immer blinde Flecken geben, in denen sich das Unkontrollierte zur Katastrophe ausformt?

Auf einer Bank an der Gstaader Promenade sitzt ein von der Konferenz unberührter älterer Herr und geniesst die Sonne. Die Idee des ewigen Lebens auf der Erde erscheine ihm wenig verlockend, sagt er. Vor einem halben Jahrhundert, er war ein junger Mann, hatte er einen Autounfall. Er wurde ohnmächtig, sah sich über eine Wiese laufen, fühlte sich glücklich wie nie zuvor. Er wachte auf und verbrachte von da an sein Leben damit, mit Menschen zu sprechen und den Blumen beim Wachsen zuzusehen. Ein Leben in der Hand Gottes, wie er sagt. Ein Leben im Jetzt, weil nichts seiner Kontrolle obliegt.

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