Donnerstag, November 21

Seit der Wahl von Donald Trump entwickelt sich die Sicherheitslage noch unübersichtlicher als bisher. In Nordosteuropa könnte eine Koalition der Willigen zum Schutz der Ukraine entstehen, notfalls auch ohne die USA.

Polen, Grossbritannien und andere Partner dehnen ihre Luftverteidigung auf den Westen der Ukraine aus. Die ukrainische Armee kann sich bei der Abwehr russischer Lenkwaffen und Drohnen auf die Hauptstadt Kiew und die frontnahen Gebiete konzentrieren. Zudem können Koalitionstruppen unter dem eigenen Luftschirm in die Ukraine einrücken, um unter anderem im rückwärtigen Raum logistische Aufträge zu übernehmen.

Das ist noch nicht die Realität, aber eine Option, die derzeit im Nordosten Europas diskutiert wird. In einem offenen Brief werden Europa und Kanada aufgefordert, die Kräfte zu bündeln, um den ukrainischen Freiheitskampf zu unterstützen und die russische Aggression zu stoppen. Zu den Erstunterzeichner des Aufrufs gehört der ehemalige estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves, der 2007 einen hybriden Angriff Russlands auf sein Land abgewehrt hatte.

Zusätzlich zum direkten, militärischen Einsatz schlägt die Gruppe vor, die Ukraine so zu bewaffnen, dass sie den Krieg tatsächlich gewinnen kann. Zur Bezahlung der Waffen sollen alle eingefrorenen russischen Vermögenswerte eingesetzt werden. Unterzeichnet haben den Brief unter anderem der pensionierte Kommandant der US-Army in Europa, Ben Hodges, der ehemalige britische Verteidigungsminister Ben Wallace und die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander.

Der Kreml nutzt das Vakuum

Eine ähnliche Vorstellung von einer «Koalition der Willigen» präsentierten am Mittwoch auch die Aussenminister Polens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands bei einem Treffen in Warschau, allerdings weniger konkret. Es sind Versuche der Resilienz in einer Zeit grösster Verunsicherung. Die Phase des Übergangs von Präsident Joe Biden zu Donald Trump belegt eindrücklich, wie sehr sich Europa auch politisch an Washington orientiert.

Im Wahlkampf behauptete Trump, den Ukraine-Krieg innerhalb von 24 Stunden noch vor seinem Amtsantritt zu beenden. Doch von ernsthaften Schritten ist bisher keine Spur zu sehen. Auffällig laut schweigt der innere Zirkel der künftigen Administration über den Entscheid Bidens, dass die Ukraine amerikanische Atacms-Lenkwaffen auch auf Ziele auf russischem Boden einsetzen darf. Europa orakelt, was Trump wirklich will.

Der Kreml nutzt das machtpolitische Vakuum, um Fakten zu schaffen. In der Ukraine geht der Vorstoss am Boden ohne Unterbruch weiter. Die Geländegewinne sind gering, die russischen Verluste hoch. Auch der Luftkrieg gegen zivile Ziele wird laufend ausgeweitet. Verschiedene westliche Staaten haben ihre Botschaften in Kiew vorübergehend geschlossen. Die Schweizer Vertretung ist weiterhin offen.

Laut Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer sind 80 Prozent der kritischen Infrastruktur der Ukraine zerstört, darunter ein beträchtlicher Teil der Stromversorgung. Wieder versucht Russland kurz vor dem Wintereinbruch den ukrainischen Wehrwillen zu brechen. Gleichzeitig will der Kreml damit eine Flüchtlingswelle Richtung Westen auslösen und den Populisten Futter für ihre Polemik liefern: ein besonders zynisches Kalkül der uneindeutigen Kriegsführung.

Der Kreml schickt gegenwärtig eine ganze Reihe hybrider Schockwellen nach Westen, um Europa einzuschüchtern. Unter anderem zeigte das russische Fernsehen als Reaktion auf die Atacms-Freigabe Aufnahmen, wie die europäischen Staaten beschossen werden könnten. Ein Klassiker der Desinformation: die amerikanischen Lenkwaffen mit einer Reichweite von 300 Kilometern Langstreckenwaffen mit wesentlich höherer Reichweite gleichzusetzen.

Die Lage hat sich sprunghaft verschlechtert

Präsident Wladimir Putin unterschrieb diese Woche ausserdem die neue Doktrin für den Einsatz von Nuklearwaffen. Das Narrativ lautet: Wer die Ukraine mit effektiven Waffen unterstützt, riskiert den dritten Weltkrieg. Die Formulierungen der Propagandisten bleiben zwar im Konjunktiv, radikalisieren aber die Rhetorik. Es gelingt ihnen zudem, dass sich in überlegten Schlagzeilen der westlichen Medien die russische Sicht einschleicht.

Russland nutzt dazu die erprobten Vektoren der «aktiven Massnahmen», die vom sowjetischen Geheimdienst KGB perfektioniert worden sind:

  • Beeinflussung: Das Zielgebiet ist der deutschsprachige Raum. In Deutschland soll Angst und Schrecken verbreitet werden, damit keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine geliefert werden. Zudem kann das Schreckensszenario eines Atomkriegs die Wahlen im Februar beeinflussen und die Bildung einer stabilen Regierung erschweren. Österreich ist bereits dabei, eine Koalition der Verlierer zu bilden. Um deren Start zu erschweren, stoppte Russland kürzlich die Gaslieferungen. Kanzler Nehammer war zwar vorbereitet, muss aber mehr Geld für die Energie ausgeben. Das wird den finanziellen Spielraum seiner nächsten Legislatur erschweren und die russlandfreundliche Opposition begünstigen.
  • Sabotage: In ganz Europa nehmen die Cyberangriffe laufend zu, vor allem auch auf Behörden und Medienunternehmen. In den letzten Tagen kam es zudem zu zwei Zwischenfällen in der Ostsee. Die finnische Regierung geht davon aus, dass zwei Tiefseekabel für den Datenverkehr mutwillig beschädigt worden sind. Verschiedene Quellen bringen ein chinesisches Schiff mit den Sabotageakten in Verbindung. Unterdessen soll es von der dänischen Armee angehalten worden sein.
  • Subversion: In der Republik Moldau wird die wiedergewählte, westlich orientierte Präsidentin Sandu von russisch unterwanderten Kräften bedrängt. Moskau könnte sich im schlimmsten Fall als Schutzmacht der gagausischen Minderheit aufdrängen und direkt eingreifen. Noch schwieriger ist die Lage in Georgien. Die Wahlen vom vergangenen Oktober brachten eine Mehrheit für die kremltreue Partei Georgischer Traum. Die Opposition anerkennt das Resultat nicht an, weil es zu offensichtlichen Fälschungen gekommen ist. Die Präsidentin beantragte eine Untersuchung. Die Lage ist äusserst angespannt.

Putin will das demokratische Europa bis zum Amtsantritt Trumps maximal spalten und als eigenständigen Akteur schwächen. Alle Punkte zusammen zeigen einen geballten russischen Angriff auf mehreren Vektoren:

Die geopolitische Lage droht sich damit nochmals drastisch zu verschlechtern. Nachdem sich mit der Präsenz nordkoreanischer Soldaten auf russischer Seite die Konflikte in Europa und im Fernen Osten verschmolzen haben, verdichten sich die Anzeichen einer Fragmentierung Europas. Es bilden sich Blöcke divergierender Interessen und mit unterschiedlicher Resilienz gegenüber der autoritären Bedrohung heraus.

Europa ist uneinig und in Teilen eingeschüchtert

Deutschland, Österreich und teilweise auch Frankreich sind tief verunsichert, wirtschaftlich angeschlagen und politisch durcheinandergeraten. Italien ist gegenwärtig das stabilste Nachbarland der Schweiz, die sich ihrerseits der sicherheitspolitischen Realität verweigert, um einfach so weiterzumachen wie bisher.

Der robuste Kern Europas hat sich längst an die Ostsee verlagert: Polen, die baltischen Staaten, Skandinavien und Grossbritannien wären als Erste bereit, eine «Koalition der Willigen» zu bilden, wie sie im offenen Brief aus dem Umfeld des Warsaw Security Forum skizziert wird. Bereits im Oktober 2022 wurde im Rahmen dieser Konferenz diskutiert, direkt einzugreifen, falls Russland in der Ukraine eine taktische Atomwaffe einsetzt.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban zimmert dagegen auf der Basis von Männerfreundschaften an einem Block der Schaukelstaaten. Motto: Solange das Geld fliesst, ist die EU ganz hilfreich, wenn’s um Macht geht, dann sind auch Deals mit Moskau und Peking möglich. Österreich wäre ein weiterer Partner, falls die FPÖ dereinst die Macht übernähme.

Unter diesen Voraussetzungen bereitet sich Europa auf mögliche Verhandlungen Trumps mit Putin vor: uneinig und insbesondere im deutschsprachigen Raum eingeschüchtert. Der Westen als Ganzes steht vor einer existenziellen Belastungsprobe. Die Schwäche der Administration Biden und die Unberechenbarkeit Trumps haben es Russland ermöglicht, die Eskalationsdominanz zu erlangen: Putin sagt, wie weit er gehen will.

In allen Fällen: aufrüsten!

Die Szenarien, wie die Ukraine vor dem Untergang zu bewahren und damit auch Russland dezidiert entgegenzutreten sei, sind von einer beträchtlichen Anzahl Variablen abhängig:

  1. Friedenstruppe: Trump und Biden könnten den Konflikt einfrieren und die europäischen Staaten auffordern, entlang der Kontaktlinie eine Friedenstruppe aufzustellen. Die Voraussetzung dafür wären ein direkter Kontakt der betroffenen Regierungen zum Kreml und auch Kommunikationslinien zur russischen Armee in den weiterhin besetzten Gebieten. Das würde eine faktische Normalisierung der Beziehungen bedeuten. Anders als bei den Missionen in Kosovo oder Afghanistan fehlte die Luftüberlegenheit. Zudem müssten die Europäer angesichts der Weite des Raums eine beträchtliche Anzahl aktiver Bodentruppen einsetzen, soll es sich nicht um eine Farce handeln. Ein solcher Einsatz wäre gefährlich, schwächte die europäische Verteidigungsbereitschaft und könnte die Ukraine im Notfall kaum schützen.
  2. Koalition der Willigen: Die Atommacht Grossbritannien und die Landmacht Polen formen ein Bündnis der freiheitlichen Staaten, das weder einen Diktatfrieden in der Ukraine noch einen Rückzug der Amerikaner hinnehmen würde. Je nach Lage könnte diese Koalition das Risiko einer direkten Konfrontation mit Russland eingehen. Die militärische Kraft der Ukraine würde mit den technologischen Möglichkeiten der westlichen Partner kombiniert. Entscheidend für den Erfolg wären also nicht die Anzahl Soldaten, sondern die Schlüsselfähigkeiten im Bereich Aufklärung, Führung und Vernetzung, um überhaupt gemeinsam kämpfen zu können.
  3. Amerikanische Führung: Unabhängig von möglichen Gesprächen zwischen Trump und Putin behalten die USA ein Interesse an der Stabilität Europas – auch mit Blick auf die Herausforderungen im Pazifik. Die amerikanischen Streitkräfte bleiben präsent, allerdings nur mit den Fähigkeiten, welche den europäischen Armeen (noch) nicht zur Verfügung stehen. Das hiesse: Weiter wie bisher, einfach mit mehr Verantwortung für die Europäer. Das Schicksal der Ukraine wäre ungewiss.

Gegenwärtig ist es kaum möglich, die Szenarien zu bewerten. Am wahrscheinlichsten ist wohl eine Kombination aus Variante 2 und 3. In allen Fällen haben die Unterzeichner des offenen Briefes recht, wenn sie fordern, die europäischen Staaten müssten mindestens drei Prozent des Bruttoinlandprodukts für ihre Verteidigung ausgeben. Die Nato-Armeen müssen in der Lage sein, dereinst auch ohne die Amerikaner einen hochintensiven Krieg zu führen. Aufrüsten ist ein Zeichen von Souveränität und Resilienz.

Exit mobile version