Mittwoch, Oktober 30

In immer mehr Regionen des riesigen ostafrikanischen Staates breiten sich Konflikte aus. Vor ethnischer Gewalt Geflohene harren in Zeltstädten aus – aber längst sind auch die Helfer nicht mehr sicher.

In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba steht ein Dutzend Kinder singend um einen grossen Geburtstagskuchen. Der dicke Zuckerguss lässt erahnen, dass die Torte ziemlich süss ist. Hinter den Kindern hängt eine bunte Girlande mit den Worten «Happy Birthday». Als das Lied vorbei ist, teilen 65 Menschen den Kuchen unter sich auf: Kinder, Frauen, Männer.

Sie alle sind vor ethnischer Gewalt in die Hauptstadt geflohen. Seit rund zwei Jahren leben die Vertriebenen dicht gedrängt und von hohen Mauern geschützt in einem Einfamilienhaus, das eine Wohltäterin für sie gemietet hat – die Frau, die heute Geburtstag hat, aber selbst gar nicht anwesend ist.

Zu den Feiernden gehört Kuleinau Abbire, ein Mann Mitte fünfzig. Der Familienvater scheint immer noch nicht ganz fassen zu können, was ihm und den Seinen vor gut zwei Jahren passiert ist: «Plötzlich standen die Nachbarn vor unserem Haus und sagten, dass wir nicht bleiben könnten, weil wir Amhara seien. Die Region, in der wir lebten, sei das Gebiet der Oromo.» Dabei seien seine Vorfahren vor langer Zeit schon in den Ort Welega gezogen, sagt Kuleinau.

Abiy schürt Rivalitäten im Vielvölkerstaat

Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat in Ostafrika, die mehr als 125 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner gehören über achtzig Ethnien an. Seit einigen Jahren nehmen die Spannungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen zu. Das hat auch mit der Machtpolitik von Ministerpräsident Abiy Ahmed zu tun, der die Regierungsgeschäfte seit 2018 führt. Abiy will die Macht in dem Vielvölkerstaat stärker zentralisieren. Ausserdem schürt er die Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen Gruppen, um seine Macht zu festigen. Inzwischen ist die staatliche Ordnung in mehreren Regionen praktisch zusammengebrochen.

Seine Nachbarn hätten ab 2020 immer mehr Stimmung gegen die Amhara gemacht, erzählt Kuleinau. 2022 dann hätten unbekannte Täter die sieben Kinder seiner Schwester getötet. «Sie waren im Haus, tranken zusammen Kaffee», erzählt er. Als sie einen Schuss gehört hätten, seien sie nach draussen geeilt, um nachzuschauen, was passiert sei. «Sie wurden alle niedergeschossen.» Sie seien noch jung gewesen und Zivilisten. Nur seine Schwester sei lebend davongekommen, mit einer Schussverletzung im linken Bein.

Kuleinau vermutet, dass die Angreifer zur Miliz OLA gehörten, der Befreiungsarmee der Oromo. Deren Ziel ist die Gründung eines unabhängigen Staates für das Volk der Oromo, das ihrer Ansicht nach in Äthiopien unterdrückt wird. Dafür kämpfen die OLA und ihr politischer Flügel OLF seit Jahrzehnten und verstärkt wieder seit 2020.

Die OLA nutzte aus, dass die äthiopische Armee von 2020 bis Ende 2022 durch den Krieg in der Region Tigray gebunden war. Dort kämpfte sie an der Seite von Amhara-Milizen und eritreischen Soldaten gegen die Regionalregierung von Tigray und deren Armee. Beide Seiten verübten schwere Kriegsverbrechen, Abiy benutzte den Hunger als Waffe. Durch diesen Krieg starben nach Schätzungen mindestens 600 000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten.

Der Krieg in Tigray wurde Ende November 2022 beendet, trotzdem kommt Äthiopien nicht zur Ruhe. Abiys Regierung sieht sich nun in Oromia und Amhara mit Aufständen konfrontiert. Die ethnische Gewalt in vielen Landesteilen nimmt zu. Internationale Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, in ihrem Vorgehen gegen Aufständische Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zu verletzen. Amnesty International etwa kritisiert «willkürliche Massenverhaftungen». Human Rights Watch veröffentlichte im Juli einen Bericht, in dem die Organisation gezielte Angriffe von Angehörigen der äthiopischen Armee auf medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal dokumentierte.

Angst vor der Rückschaffung in den Hunger

Mohamed Abdullahi drängt sich zwischen Bastmatten und Stapeln aus Decken und anderen Habseligkeiten hindurch. Der Lärm von Hunderten von Stimmen scheint ihn nicht mehr zu stören. Seit zwei Jahren lebt der 65-Jährige mit Hunderten anderen Vertriebenen in einer aufgegebenen Fabrikhalle in Debre Birhan, einer Industriestadt gut hundert Kilometer von Addis Abeba entfernt. Um die Halle herum sind etliche provisorische Zeltstädte entstanden. Nach Angaben von Hilfsorganisationen vom Herbst leben hier 22 000 Vertriebene. Im Februar waren es noch 30 000.

Mohamed bleibt vor einer der bunten Matten stehen: Hierher ist er mit seiner Familie geflohen. So eng und laut das Camp auch ist, er möchte auf keinen Fall weg. Und ganz sicher möchte er nicht zurück nach Oromia. Doch Mohamed hat Angst, dass er dorthin zurückkehren muss. Im Februar, so erzählt er, hätten Vertreter der Regierung damit begonnen, Menschen aus den Zeltstädten in Debre Birhan zu holen, in Busse zu setzen und nach Oromia zu fahren. «Ich fürchte um unsere Leben, wenn wir dorthin zurückgeschafft werden», sagt er.

Vor ihrer Flucht vor mehr als zwei Jahren seien Bewaffnete – vermutlich von der OLA-Miliz – in ihr Dorf gekommen und hätten willkürlich Menschen erschossen. Eine seiner Töchter sowie seine Schwester seien getötet worden. In den Monaten davor hatten er und seine Nachbarn die Regionalregierung von Oromia erfolglos um Schutz gebeten. Wer würde sie denn schützen, wenn sie dorthin zurückkehren müssten?

Angst machten ihnen aber nicht nur Schusswaffen und Macheten, sondern auch der Hunger, sagt Shause Mohamed, der dem Gespräch zugehört hat. Bis zu seiner Flucht war Shause Händler in dem Ort Welega in Oromia, die übrigen Familienmitglieder bestellten ihre Felder. Wegen des Konflikts und der ständigen Bedrohung habe sich niemand mehr auf den Acker getraut. «Wir hatten kein Einkommen mehr, wir haben gehungert. Auch deshalb sind wir geflohen», sagt Shause.

Als Folge der vielen regionalen Konflikte in Äthiopien sind nach Angaben der Uno landesweit 4,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl derjenigen, die auf Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen sind, ist noch viel höher: Es sind mindestens 21 Millionen der etwa 125 Millionen Äthiopier. Fast 16 Millionen davon brauchen dringend Lebensmittel, um überleben zu können. Allerdings fehlen der Uno die Gelder; von den für das laufende Jahr benötigten 3,2 Milliarden Dollar hat die Uno bisher nach eigenen Angaben nur 20 Prozent bekommen.

Zudem wird es für die Helfenden immer gefährlicher, die Menschen zu erreichen. «Hilfskonvois werden regelmässig angegriffen und geplündert», beklagt Paul Handley, der Leiter des Uno-Büros für Humanitäre Angelegenheiten in Addis Abeba. Zur politischen Gewalt hinzu komme ein drastischer Anstieg der Kriminalität, der Bevölkerung und Helfer treffe. Zu Beginn des Jahres habe die grösste Gefahr für humanitäre Helfer darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, sagt Handley. «Inzwischen stellen wir fest, dass kriminelle Banden gezielt humanitäre Helfer ins Visier nehmen und entführen oder gar töten.»

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