Der Schöpfer der Fernsehserie «Twin Peaks» ist gestorben, wie seine Familie auf Facebook bekanntgibt. Kein anderer Regisseur stand so intensiv mit seinem Publikum in Verbindung wie er. Ein Nachruf.
David Lynch, der letzte grosse Surrealist des Kinos, ist tot. Der Regisseur von «Blue Velvet», «The Elephant Man» und «Mulholland Drive» sowie der Schöpfer der Fernsehserie «Twin Peaks» starb im Alter von 78 Jahren, wie seine Familie am Donnerstag auf Facebook mitteilte.
«Mit tiefem Bedauern geben wir, seine Familie, das Ableben des Menschen und Künstlers David Lynch bekannt», heisst es im Beitrag auf Lynchs Facebook-Seite. «Es gibt eine grosse Lücke in der Welt, jetzt, wo er nicht mehr unter uns ist. Aber, wie er sagen würde: ‹Behalte den Donut im Auge und nicht das Loch.›»
Der Maler und Hollywoodregisseur war niemand, der hinter seiner Kunst verschwand. Kein anderer Regisseur stand so intensiv mit seinem Publikum in Verbindung wie er. Sein Bedürfnis nach Kommunikation, nicht nur mit den Zuschauern seiner Filme, sondern mit der Öffentlichkeit ganz allgemein, war enorm.
So warb er etwa jahrzehntelang für den Einsatz von transzendentaler Meditation, der eine kostenpflichtig zu erlernende Meditationstechnik zugrunde liegt, und gründete eine Stiftung, die sich um die Einrichtung und Förderung von Meditationsprogrammen in Schulen kümmert. Für Lynch war die Meditation ein Schlüssel zur Ausgeglichenheit. Und eine ganz spezielle Form heiterer Ausgeglichenheit war etwas, was er tatsächlich in persona zeitlebens ausstrahlte.
Lynchs Filme waren an verwirrender Düsterkeit kaum zu überbieten
Dieser Umstand wurde insofern immer als höchst bemerkenswert, wenn nicht gar belustigend empfunden, weil Lynchs Filme an verwirrender Düsterkeit kaum zu überbieten waren. Aber man musste wohl sehr stabil in diesem Leben stehen, um die Abgründe zu suchen, die Lynch nie zu erkunden müde wurde.
«Einen Traum von dunklen und beunruhigenden Dingen», nannte er seinen ersten abendfüllenden Spielfilm, «Eraserhead» (1977), in dem es um einen Mord an einem schwerstbehinderten Kind geht. Das Premierenpublikum verharrte nach dem Abspann in minutenlanger stummer Betäubung. Die Begabung des Debütanten wurde sofort erkannt – von den Zuschauern und von Hollywood.
Bevor Lynch mit den Dreharbeiten zu «Eraserhead» begann, hatte er sich von Billy Wilders grossem Hollywood-Albtraum «Sunset Boulevard» (1950) inspirieren lassen. Ein paar Jahre später wirkte «Eraserhead» wiederum auf ein anderes Grosswerk der Kinogeschichte, das gerade gedreht wurde: Stanley Kubrick verkündete bei den Dreharbeiten zu «The Shining» (1980), dass «Eraserhead» sein Lieblingsfilm sei, und zeigte ihn seinen Schauspielern und der Crew, «um sie in Stimmung zu bringen».
In seinem späteren Erfolg, der Fernsehserie «Twin Peaks» (zwischen 1990 und 2017 entstanden), kam David Lynch auf Stilmittel seines unter schwierigen finanziellen Umständen innerhalb von vier Jahren gedrehten Debütfilms zurück – das Zischen und Flimmern der Elektrik, das narkotisierende Tempo, der rote Raum mit dem Zickzackboden, der Ähnlichkeit mit der Heimat der Dame hinter dem Heizkörper aus «Eraserhead» hatte, ebenso wie der rückwärtssprechende Zwerg, der Erbe eines abgebrochenen Experiments im selben Film war. Und «Twin Peaks» erzählte eine weitere Geschichte über einen Vater und ein ermordetes Kind. In der Zeit zwischen der Entstehung der bahnbrechenden Serie, die zum Vorbild für Serienerzählungen des Qualitätsfernsehens wurde, und «Eraserhead» liegt eine brillante Karriere.
Los Angeles gab Lynch ein Gefühl von Freiheit
1946 in Missoula, Montana, geboren, war David Lynch 1970 von Philadelphia nach Los Angeles gezogen. Er liebte das Licht der Filmstadt, die für ihn voller Hollywood-Erinnerungen steckte: «Ich geniesse es, die Vergangenheit zu spüren. Eine traumhafte Kino-Vergangenheit.»
Die kalifornische Metropole gab ihm das Gefühl von Freiheit, wie er einmal sagte. Seine Filme «Lost Highway» (1987), «Mulholland Drive» (2001) und «Inland Empire» (2006) wurden als Los-Angeles-Trilogie bezeichnet: Sie tragen Gegenden der Stadt schon im Titel – wie etwa der Mulholland Drive, dessen Anwohner Errol Flynn, Marlon Brando und Jack Nicholson waren.
Wie all seine Filme versah Lynch auch seine Hommage an die sonnendurchflutete Filmstadt mit dem für ihn typischen, bedrohlichen Unterton. Das Sonderbare und Bizarre, das Unsichtbare und Surreale zogen ihn an. Das galt nicht nur für seine Spielfilme und die bahnbrechende «Twin Peaks»-Produktion, sondern auch für sein Werk als bildender Künstler, Designer und Musiker.
Über alle Formen breitete er den Mantel seiner ganz speziellen Finsternis. «Was die Oberflächen zeigen, ist nur ein Teil der Wahrheit. Darunter steckt das, was mich am Leben interessiert: die Dunkelheit, das Ungewisse, das Erschreckende, die Krankheiten», sagte Lynch einmal.
Sein zweiter Film, «The Elephant Man» (1980), basiert auf der realen Geschichte eines Mannes im viktorianischen England, der von Geburt an unter schweren Deformationen seines Körpers litt. Lynchs Regie und das Spiel von Anthony Hopkins und John Hurt verschafften dem Werk acht Oscar-Nominierungen.
Während sein Nachfolger, der Science-Fiction-Film «Dune» (1984), ein Flop wurde, avancierte «Blue Velvet» (1986) mit Isabella Rossellini und Dennis Hopper zum Kultfilm. Jeder folgende Lynch wurde zum Ereignis für Cineasten: «Wild at Heart» (1990), «Lost Highway», «The Straight Story» (1999), «Mulholland Drive» (2001) und «Inland Empire» (2006).
David Lynchs Filme konnten auf vielen Ebenen diskutiert werden – darin lag für die Zuschauer ein Reiz. Die Entschlüsselung seiner kryptischen Werke entfachte detektivischen Ehrgeiz, die Verrätselungen liessen Interpretenherzen höherschlagen und luden dazu ein, ihn aufs Podest der Unsterblichen zu heben. Je unwirtlicher ein Werk, desto ehrgeiziger wurde die Mission, es zu interpretieren.
Dass Lynch sich dessen bewusst war und auch anders konnte, zeigte er in seinem Film «The Straight Story», die genau das erzählte: eine geradlinige Geschichte, in der ein Mann auf sehr geradlinigen Strassen mit einem Rasenmäher unterwegs ist.
Sie basiert auf den Erlebnissen des Weltkriegsveteranen Alvin Straight (Richard Farnsworth), der 1994 mit einem Rasenmäher von Iowa nach Wisconsin fuhr, um sich mit seinem kranken Bruder zu versöhnen, wunderbar gespielt von Harry Dean Stanton. «Es gibt eine Menge seltsamer Leute da draussen», warnt Alvin Straight jemand, während er durch Amerika tuckert. Da ist Lynch mit seinem Blick für die aus der Reihe Fallenden wieder ganz bei sich selbst.
Lynch war ein genauer Beobachter innerer Kämpfe
«Davids Filme verbinden sich mit dem Publikum durch den Kampf seiner Figuren mit der Dunkelheit und Verwirrung», sagte Mary Sweeney, Lynchs langjährige Produzentin, Cutterin und Ex-Ehefrau 2017 in einem Zeitungsinterview. «Eine weniger offensichtliche, aber sehr starke Dimension dieses Kampfes ist der Hunger nach Liebe und Würde.» Lynch war ein genauer Beobachter innerer Kämpfe, die von Traumata oder der Erfahrung von menschlichem oder übernatürlichem Bösen herrührten.
In den letzten Lebensjahren verlagerte sich sein Schwerpunkt wieder auf die Malerei, seine erste Liebe, die ihn als jungen Mann gepackt hatte: «Ich hatte die Idee, Kaffee zu trinken, Zigaretten zu rauchen, zu malen, und das war’s.» Grosse Retrospektiven in der Fondation Cartier in Paris (2007) und im Bonnefanten Museum in Maastricht (2019) rundeten den Lynch-Kosmos ab: Egal, wie und in welcher Kunstform der Vielbegabte sich äusserte, stets fügte sich alles irgendwie stimmig in seiner schwer zu fassenden Art zusammen.
Immer schaffte er es, im Gespräch zu bleiben. Die ganz spezielle Technik seiner Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache lag in einer Mischung aus scheinbarer Offenheit und obskuren Anekdoten. Während des Covid-Lockdowns reaktivierte er seinen Youtube-Kanal «David Lynch Theater», in dem er sich unter anderem bei kurzen Ansagen zur Wetterlage in Los Angeles filmte.
Seine schleppende, nasale Sprechweise und die oft seltsame Betonung von Sätzen schienen immer Ominöses anzudeuten. Mit grosser Selbstverständlichkeit und Einfachheit erzählte er seine oft merkwürdigen Anekdoten, in denen, wie in seiner Kunst und in seinen Filmen, das Unheimliche und das Banale kollidieren.
Jeder Filmfan kannte sein Gesicht, den dichten, irgendwann weiss gewordenen Haarschopf und seine immer bis oben zugeknöpften Hemden, die alle Moden überdauerten. Der «Meistersurrealist mit Silbertolle», wie der Londoner «Guardian» ihn nannte, sah aus, als sei er aus einem Fünfziger-Jahre-Film in die Gegenwart gewandert.
Steven Spielberg nutzte David Lynchs Retro-Charisma, um ihn in seinem autobiografischen Film «The Fabelmans» (2022) einzusetzen – und zwar als John Ford, der laut Spielberg «der wohl grösste Filmregisseur in der amerikanischen Geschichte» gewesen sei. Lynch wollte zuerst absagen, aber dann gefiel ihm die Szene zu gut, in der Ford dem jungen Spielberg ein paar unfreundliche Tipps gibt (ein Horizont in der Mitte der Leinwand sei «scheisslangweilig»). Der grosse Lynch spielte den grossen Ford komplett mit Augenklappe und verschwand dabei hinter Wolken von Zigarrenrauch.