Früher eilte der Südtiroler selbst wie ein Getriebener von Achttausender zu Achttausender. Im Gespräch sagt Kammerlander, was er von seinem Lehrer Reinhold Messner gelernt hat – und weshalb ihm Rekorde heute egal sind.
Herr Kammerlander, Sie waren im November in Nepal und reisten Ende Jahr bereits wieder dorthin.
Dieses Land bedeutet mir sehr viel. Ich habe alle Kontinente bereist, ein Land wie Nepal habe ich aber nirgendwo gefunden. Ich mag die Menschen und die Kultur. Deshalb fahre ich drei-, viermal im Jahr nach Nepal.
Was haben Sie im Herbst und im Winter dort gemacht?
Ich war mit einer Gruppe bei einem Trekking. Wir sind in der hinduistischen Gurkha-Region gestartet, dann ins Tsum Valley gewandert, wo es viel buddhistische Kultur gibt, und schliesslich noch zum Manaslu, bis ins Basislager. Das ist eine wunderschöne Trekkingtour, die ich gerne wiederholen würde. Und an Silvester ging es dann an den Pikey Peak, das ist kein hoher Berg, ein Viertausender. Von dort kann man allerdings sieben Achttausender sehen.
Ab wann ist ein Berg für Sie denn hoch?
Ich würde sagen, dass ein Berg ab 7000 Metern hoch ist. Doch von da ist es nochmals ein grosser Sprung zu einem Achttausender. Und von dort noch einmal ein riesiger Unterschied zu einem Berg, der über 8500 Meter hoch ist. Auf dieser Höhe ist Bergsteigen kein Genuss mehr. Wer ohne Flaschensauerstoff auf dem höchsten Berg der Welt steht, ist in einer komplett anderen Welt.
Die erste Skiabfahrt vom Mount Everest
ste. Hans Kammerlander zählt zu den erfolgreichsten Höhenbergsteigern der Geschichte. Zu den grössten Erfolgen des 68-Jährigen, der aus Ahornach in Südtirol stammt, gehört die Skiabfahrt vom Mount Everest im Mai 1996. «Fastest ascent and first ski descent from summit», ist dazu in der Himalayan Database vermerkt, der Chronik des Himalaja-Bergsteigens. Der Italiener stand auf dreizehn Achttausendern.
In Ihrem Leben drehte sich über viele Jahre alles darum, auf die höchsten Berge der Welt zu steigen. Weshalb haben Sie das damals gemacht?
Das frage ich mich selbst. Ich bin da hineingeschlittert, war irgendwann mitten im Wettlauf. Ich hatte einen hohen Gipfel erreicht, und in Gedanken war ich schon beim nächsten. Ich war ein Getriebener. Das ging alles sehr schnell. Ich hatte kaum noch Zeit für meine Freunde. Irgendwann sass ich mit meiner damaligen Frau am Frühstückstisch, und sie erfuhr aus der Zeitung, dass ich bald wieder zu einem hohen Berg aufbrechen würde.
Sie haben das einmal als «Bergsucht» beschrieben. Auch eines Ihrer Bücher ist so betitelt.
Im Lauf der Jahre ist das Bergsteigen für mich wirklich zu einer Sucht geworden. Ein Fanatismus. Ich war süchtig nach der Natur. Wobei ich das besser finde als eine klassische Sucht. Aber eine Sucht ist nie gesund.
Man überschreitet leicht Grenzen.
Jeder Profisportler geht irgendwie ans Limit. Skifahrer zum Beispiel. Sie fliegen in Netze, und für den Rest ihres Lebens ist ihr Körper kaputt. Diesen Wettlauf, immer am Limit, würde ich nicht noch einmal machen.
Hadern Sie mit Ihrem Leben?
Nein. Nur auf der Couch zu sitzen, das ist nicht meine Welt. Den Wert des Lebens habe ich ja am intensivsten in den Grenzsituationen gespürt. Doch heute sage ich: Der Preis war einfach zu hoch. Ich habe viele Freunde verloren am Berg. Von den besten Freunden, mit denen ich an Achttausendern unterwegs war, leben nur noch drei. Reinhold Messner, Krzysztof Wielicki und Konrad Auer. Die anderen haben dieses Glück nicht gehabt.
Weil sie zu viel Risiko eingegangen sind?
Das Restrisiko, das man in Kauf nehmen muss, weil man sonst den Gipfel eines hohen Achttausenders nicht erreicht, ist hoch. Da stecken viele Gefahren drin, wie Fels- und Eislawinen oder Wetterstürze. Ganz schön viele sind in ein Abenteuer hineingeraten, auch ich habe Fehler gemacht. Ich habe viel ausprobiert und oft kritische Tage erlebt, an denen ich einen Schutzengel gebraucht habe. Man braucht einfach Glück am Berg. Das Abenteuer gesucht habe ich aber nie.
Ihr Leben als Bergsteiger war doch ein einziges Abenteuer.
Ich finde, mit dem Wort «Abenteuer» wird viel zu leichtfertig umgegangen. Veranstalter von Expeditionen versprechen höchstes Abenteuer ohne Risiko. Aber das gibt es nicht. Wenn etwas zu einem Abenteuer wird, dann weiss man nicht, wie es herauskommt. Bei der Überschreitung der Gasherbrums mit Reinhold Messner schlug das Wetter um. Innert einer halben Stunde wussten wir nicht mehr, wo links und rechts, wo oben und unten war. Jeder Schritt bedeutete einen Schritt ins Ungewisse, und wir waren mit unseren Kräften am Limit.
Und am 8163 Meter hohen Manaslu? Am Gipfeltag stürzte zuerst Karl Grossrubatscher ab. Und dann wurde Friedl Mutschlechner direkt neben Ihnen vom Blitz erschlagen.
Das war mehr als ein Abenteuer. Ich hatte diese Expedition mit Bergführer-Kollegen und Freunden aus Südtirol geplant. Ich wollte ihnen die Chance geben, auf einen Achttausender zu steigen, so wie ich sie auch erhalten hatte. Doch das wurde zur Tragödie, wir gerieten in die Todesfalle. Ich bin 2017 noch einmal zurück an den Manaslu, für einen Film über die Ereignisse von 1991. Aber 2017 gab es dann zu viel Neuschnee, den Gipfel des Manaslu habe ich nie erreicht.
Sie selbst sind zu den hohen Bergen gekommen, weil Reinhold Messner Ihnen diese Möglichkeit eröffnet hat.
1983, ich war damals 26 Jahre alt, hat Messner mir die Startmöglichkeit gegeben. Er war ein extrem wertvoller Lehrmeister für mich. In der Höhe hatte ich ja keine Erfahrung. Zudem besass ich weder Sprachkenntnisse noch Geld. Wir gingen damals an den Cho Oyu, wobei wir die einzige Expedition und somit ganz alleine unterwegs waren.
Der Cho Oyu ist mit 8188 Metern der sechsthöchste Berg der Welt.
Es war erst die vierte erfolgreiche Expedition seit der Erstbesteigung 1954. Nach der erfolgreichen Besteigung habe ich mich gefragt, ob ich mir eine solche Schinderei noch einmal antun soll. Ich war der Meinung, dass ich das eher nicht mehr will. Doch es kam anders. Meine ersten sieben Achttausender habe ich dann mit Reinhold Messner gemacht.
Was verbindet Sie heute noch mit Messner?
Es sind viele Erinnerungen, und ich spüre eine tiefe Verbundenheit. Wir sehen uns nicht oft, aber wenn wir uns mal sehen, haben wir viel Spass.
Mit Messner waren Sie 1985 an der 8091 Meter hohen Annapurna. Ein Team von Berg-Chronisten fand vor einiger Zeit heraus, dass Sie allen Erkenntnissen nach nicht auf dem höchsten Punkt standen.
Das ist Erbsenzählerei. Für die Medien war es natürlich ein gefundenes Fressen: zwei grosse Namen, Messner und Kammerlander, nicht auf dem Gipfel. Das klingt spannend. Als das publiziert wurde, haben Messner und ich miteinander telefoniert. Er meinte, wir hätten auf dem Grat vielleicht weiter links gehen müssen, ich dachte, eher rechts. Wo der höchste Punkt ist, das sieht man da oben auf dem langen Grat nicht. Das, worum es geht, ist, dass wir an der Annapurna eine Wand zum ersten Mal durchstiegen, also eine neue Route begangen haben. Das ist für mich wichtig und nicht, ob mein Name neben der grössten Bratwurst der Welt in einem Rekordbuch steht.
Das sehen viele offenbar ganz anders. Jeder kennt die Aufnahmen von den langen Schlangen in der Lhotse-Flanke und am Südgrat des Mount Everest. Nicht wenige dieser Bergsteiger wollen genau ein solches Rekord-Zertifikat.
Es stimmt mich nachdenklich, dass Berge derart präpariert werden wie der Mount Everest. Ich finde es bedenklich, wenn jeder Laie auf einen hohen Berg gebracht wird.
Ihre Generation hat aber einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass heute so viele Menschen auf den Mount Everest wollen. Ihre Erlebnisse, Ihre Geschichten, Ihre Fotos, das motiviert.
Dann müssten diejenigen, die das motiviert, doch auch unseren Weg gehen, unseren Stil kopieren. Das heute ist Faschings-Alpinismus auf Normalwegen. Aber solange sie all ihr Zeug wieder herunterbringen, sollen sie das machen.
Diesen Trend hin zur Natur und zu den Bergen sehen wir aber nicht nur im Himalaja. Es gibt lange Schlangen an der Zugspitze und am Grossglockner, ausgebuchte Schutzhütten in der Schweiz und in Frankreich. Bei Ihnen zu Hause, in Südtirol, überlegte man ganz genau, wie die Natur vor den Massen bewahrt werden kann.
Wie die Schafe laufen sie heute auf Gipfel rauf. Wobei dieser Vergleich eigentlich nicht taugt. Denn Schafe laufen bei einem Gewitter nicht noch weiter hinauf, Menschen aber schon.
Was also tun?
Ich habe das Projekt der «Matterhörner». Zwischen Indien und den Rocky Mountains suche ich Berge, die eine Ähnlichkeit haben mit dem Wahrzeichen von Zermatt, und steige hinauf. Mittlerweile denke ich allerdings, dass es besser gewesen wäre, auf den Nachbarberg zu steigen. Dann hätte ich den Berg, um den es mir geht, nämlich in seiner ganzen Schönheit gesehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass seit der Corona-Pandemie viele junge Leute draussen unterwegs sind. Vielen von ihnen ist auch der Name des Berges egal. Das ist genau der richtige Weg, diese Leute haben mehr davon. Dagegen ist das, was diese Influencer machen, einfach nur lächerlich. Ich verstehe nicht, was das soll. Ich weiss oft den ganzen Tag nicht, wo mein Handy liegt. Und ich lebe gut damit.
Ihre Empfehlung?
Gehen Sie in Südtirol nicht zum Pragser Wildsee oder zu den Drei Zinnen. Das ist oft enttäuschend. Die Menschen sind rücksichtslos, es gibt Staus, und es kann richtig gefährlich sein.
Und an den hohen Bergen?
Ich finde, ein Sechstausender mit sauberen Mitteln ist eine echt gute Leistung. Da muss ich nicht mit Flaschensauerstoff und viel Unterstützung auf einen Achttausender.
Influencer zeigen die schöne, prächtige Welt der Berge. Was wollen Sie den Leuten vermitteln?
Gewiss nicht die Bilderbuchfotos. Ich habe immer versucht, in meinen Vorträgen und Büchern Eindrücke wiederzugeben. Erfolge aufzuzählen – dieser Achttausender an diesem Tag, jener Rekord an diesem Berg –, das wäre mir zu wenig gewesen und dem Publikum vermutlich auch. Ich berichte von Rückschlägen und davon, wie ich damit umgegangen bin. Ich erzähle Geschichten von Gegenden, die die Leute selbst nicht besuchen würden. Das bleibt in den Köpfen hängen.
Daneben arbeiten Sie auch immer noch als Bergführer und verschaffen Menschen besondere Erlebnisse am Berg.
Bergführer zu sein, war immer mein Wunschberuf. Das mag ich gerne und ist für mich wie Urlaub. Ich freue mich, mit einem Gast auf einen Berg zu gehen, ihm einen jahrelangen Traum zu erfüllen und in seine glänzenden Augen zu schauen. Für mich ist es ein schöner Bergtag, wenn ich mit einem Gast unterwegs bin.
Wobei auch die Arbeit als Bergführer nicht ungefährlich ist.
Norbert Joos, einer meiner Freunde, ist dabei gestorben.
Sie waren zur gleichen Zeit wie Norbert Joos am Mount Everest. Er starb bei einer Führungstour am Piz Bernina.
Das Beispiel von Joos zeigt, dass die Gefahr im leichten Gelände besonders gross ist. Ist man gemeinsam am Seil und einer rutscht aus, dann ist man weg. Eine schwierige Führung im steilen Eis oder Fels ist hingegen nicht so gefährlich. Hinzu kommt, dass Bergführer fast bei jedem Wetter rausmüssen, wenn sie davon leben wollen. Ich muss das nicht. Wenn das Wetter schlecht ist, gehe ich nicht. Und genauso wenig will ich noch einmal in der Nacht aufbrechen müssen, nach einem kalten Biwak. Das habe ich oft genug erlebt.
Sie sagten doch vorher, in den Grenzsituationen hätten Sie den Wert des Lebens am stärksten gespürt.
Mein grösster Erfolg besteht darin, dass es immer gut ausgegangen ist. Mir tut heute nichts weh, weshalb ich weiterhin schöne Berge besteigen kann. Ich mache das, was meine Routine mir erlaubt. Komplizierte Wände schaffe ich noch, aber nicht mehr eine überhängende Wand mit Mini-Griffen. Die Eiger-Nordwand würde ich mir aber schon noch zutrauen.