Der Historiker Thomas Gruber fand im deutschen Bundesarchiv zufällig den Mitgliedsausweis des 2002 verstorbenen Verlegers. Siegfried Unseld hat nie öffentlich über seinen Beitritt gesprochen.
Die Schreibmaschinenschrift ist leicht verblasst und der Name auf dem NSDAP-Mitgliedsausweis nicht ganz richtig geschrieben, aber das Dokument aus dem deutschen Bundesarchiv hat kulturhistorisches Gewicht. 1942, mit siebzehn Jahren, beantragt Siegfried Unseld, später über Jahrzehnte Leiter des Suhrkamp-Verlags, die Aufnahme in die Partei. Als «Sigfrid Unseld» bekommt er die Mitgliedsnummer 9 194 036. Seine damalige Adresse in Ulm ist korrekt angegeben.
Bis vor kurzem hat niemand gewusst, dass der berühmte Verleger in den Nationalsozialismus stärker verstrickt gewesen sein könnte, als es seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und der Einsatz als Funker bei der Wehrmacht vermuten liessen. Der Fund des Mitgliedsausweises im Bundesarchiv verdankt sich einem Zufall. Bei Recherchen zu einem anderen Fall ist der Historiker Thomas Gruber auf die Karte gestossen.
Die «Zeit» hat den Fall jetzt öffentlich gemacht. In der deutschen Wochenzeitung wird mit Pathos nicht gespart. «Die Entdeckung berührt die Grundfesten, auf denen das Land seit Jahrzehnten intellektuell und moralisch agiert», heisst es dort. Vom «geheimen Schuldmotor» ist die Rede, der Unseld bei seiner Verlagsarbeit angetrieben habe. Das ist unangenehm parfümierte moralische Kaffeesudleserei. Aber wenn das Lebenswerk Siegfried Unselds nach dem Krieg ein Aufklärungsprojekt war, dann war es vielleicht auch ein Selbstaufklärungsprojekt.
Anführer bei der Hitlerjugend
1924 geboren, erlebt Unseld eine Jugend, die von den nationalsozialistischen Überzeugungen des Elternhauses geprägt ist. Der Vater Ludwig, ein Verwaltungsangestellter, tritt schon 1933 in die NSDAP ein, wird später SA-Sturmführer und beteiligt sich an den Novemberpogromen des Jahres 1938. Dafür wird er 1947 verurteilt.
Siegfried Unseld selbst wird Fähnleinführer beim Jungvolk der Hitlerjugend. Hundertsechzig Jugendliche sind unter seiner engagierten Führung gestanden. In den Suhrkamp-Verlags-Chroniken ist für 1944 ein Bruch verzeichnet, der wohl als Abkehr von falschen Idealen gewertet werden soll. Das Scheitern des Stauffenberg-Attentats und Nachrichten über Verbrechen deutscher Wehrmachtstruppen sollen dem damals knapp zwanzigjährigen Siegfried Unseld die Augen geöffnet haben.
Eine andere Zäsur gibt es 1948. Siegfried Unseld beginnt einen Briefwechsel mit Hermann Hesse, über den er auch dissertieren wird. Der spätere Verleger wird geistiger Ziehsohn eines Schriftstellers, den er erstmals 1951 in der Schweiz besucht. Im gleichen Jahr stirbt der eigene Vater, und Unseld bewirbt sich bei Suhrkamp in Frankfurt am Main.
In solche symbolhaften Umstände des Lebenslaufs muss jetzt der Fund des kompromittierenden NS-Mitgliedsausweises eingefügt werden. Über Tatsachen wie diese scheint der Verleger nicht gesprochen zu haben. Eine 2014 erschienene und reich bebilderte Monografie weiss davon nichts.
Ob Siegfried Unseld etwa mit Autoren seines Verlags über sein Geheimnis gesprochen hat, wird sich vielleicht noch zeigen. Wenn ja, dann hätte ein intellektuelles Kartell des Schweigens ziemlich lange dichtgehalten. Auch noch nach dem Tod. Auch nachdem es Ende der nuller Jahre eine ganze Reihe politischer Outings gegeben hatte. Martin Walser, so stellte sich heraus, war 1944 in die NSDAP eingetreten. Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz waren auch dabei.
Zur Verteidigung führte ein Teil der Betroffenen an, ohne eigenes Wissen in die Mitgliederlisten gelangt zu sein. Organisatorisch hält das der Historiker Thomas Gruber in seinem etwas mäandernden Text in der «Zeit» für ziemlich ausgeschlossen. Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat 2006 mit seinem autobiografischen Buch «Beim Häuten der Zwiebel» selbst die Reissleine gezogen und seine frühere Zugehörigkeit zur Waffen-SS bekannt. Er diente ab 1944 bei der 10. SS-Panzer-Division «Frundsberg». «Das musste raus», sagte Günter Grass nach seinem Geständnis in der «FAZ».
Im Dienst der Aufklärung
Martin Walser, seinem Verleger Siegfried Unseld engstens verbunden, war im gleichen Alter, auch mit siebzehn, der Hitler-Partei beigetreten. Kann es sein, dass man sich nie darüber unterhalten hat? Und wenn, tat man es dann mit der Einmütigkeit prominenter Nachkriegslinker, dass so etwas allenfalls eine Jugendsünde gewesen sein konnte?
Wenn die Arbeit Siegfried Unselds bei Suhrkamp auch Phänomen der Reue war, dann hat sich diese für die Kultur Deutschlands ausgezahlt. Als verlegerischer Nachfolger des von den Nationalsozialisten verfolgten und 1959 verstorbenen Peter Suhrkamp hat er dessen Ideen weitergeführt. Jüdische Autoren wie Paul Celan, Gershom Scholem, Nelly Sachs und Amos Oz waren gewichtige Namen der hauseigenen Kultur. Wer sich gegen die brutalen Schatten der Vergangenheit lesend rüsten wollte, fand Material bei den Suhrkamp-Autoren Max Horkheimer, Theodor Adorno, Jürgen Habermas und Alexander Mitscherlich.
Es gibt nicht wenige Mythen über den sportlichen Siegfried Unseld. Geschichten, die er offenbar lieber erzählte, als über gewisse Ereignisse aus seinem Leben zu reden. Eine handelt davon, wie er sich zu Kriegsende buchstäblich im kalten Meer freigeschwommen hat. In einer Mainacht 1944 sprang er bei seiner Flucht vor den sowjetischen Truppen auf der Krim ins Wasser und schwamm stundenlang Schiffen entgegen, die ihn schliesslich retteten. Der Mythos Unseld lebt, und der Mitgliedsausweis mit der Nummer 9 194 036 wird ihn wohl nicht versenken.