Mittwoch, Oktober 2

Für die einen war er der letzte seriöse Vorsitzende der deutschen FDP, für die anderen ein Langweiler. Nach einem Leben in der Politik ist Wolfgang Gerhardt an diesem Freitag gestorben.

Als Wolfgang Gerhardt 2001 als Chef der deutschen FDP das Handtuch wirft, ist der Kommentator dieser Zeitung alles andere als amüsiert. Nun schlage die «Stunde der Gaukler», schreibt er. Nun werde man es mit «Brandstiftern und Rattenfängern» zu tun bekommen.

Die Rede ist damals einerseits vom neuen Parteichef Guido Westerwelle; der bisherige Generalsekretär könne zwar schnell reden, man wisse aber nicht, wofür er stehe. Die Kritik richtet sich andererseits gegen Jürgen Möllemann, einen «Unruhestifter», von dem programmatisch noch weniger zu holen sei. Gerhardt sei vielleicht kein brillanter Redner. Aber er sei seriös und ehrlich, «mit klaren Überzeugungen und einer verlässlichen Linie». Diese Eigenschaften, so unser Autor, hätten sich für die FDP schon bald wieder auszahlen können.

Zwischen Modernität und Spektakel

Nun sind solche Prognosen immer heikel, und die FDP erlebte unter Westerwelles Führung in den Jahren nach dem Machtwechsel einen stetig wachsenden Zuspruch, bis hin zum besten Wahlergebnis ihrer Geschichte (auf das kurz darauf freilich der Absturz in die ausserparlamentarische Opposition folgte). Doch das Ende der Ära Gerhardt markierte tatsächlich den Beginn einer anderen Partei. Vorher galt die FDP als staatstragend und vielleicht ein bisschen öde. Seither schwankt sie zwischen Modernität und Spektakel.

Gerhardt wäre, nur als Beispiel, nie im Leben in einem knallgelben Bus durchs Land gefahren, auf dem in riesigen Lettern sein Vorname steht, so wie sein Nachfolger. Er hätte sich auch nicht, wie der heutige FDP-Vorsitzende, im Unterhemd in Szene gesetzt. Das war nicht sein Stil.

Vielleicht war es auch eine Frage des Alters. Gerhardt kommt 1943 zur Welt, mitten im Krieg. Sein Vater fällt im Jahr darauf. Ein solcher früher Verlust prägt das ganze Leben. Er verleiht ihm eine Schwere, mit der einige Menschen gut und andere gar nicht umgehen können. Unberührt lässt er keinen.

Gerhardt wächst ohne Vater auf dem mütterlichen Bauernhof auf. Nach dem Abitur studiert er in Marburg Erziehungswissenschaften, Germanistik und Politikwissenschaft. 1965 tritt er in die FDP ein, über deren Bildungspolitik er seine Doktorarbeit schreibt. Die Karriere beginnt 1969 in der parteinahen Friedrich-Naumann-Stiftung. In den 1970er und 1980er Jahren steigt Gerhardt in der hessischen Landespolitik auf, wird Wissenschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident.

In den 1990er Jahren wechselt er in den Bundestag, wo er schliesslich den Fraktionsvorsitz übernimmt. Dieses Amt darf er nach seiner Demontage als Parteichef zunächst behalten, muss es 2006 aber ebenfalls an Westerwelle abtreten. Gerhardt kehrt daraufhin zu seinen Anfängen zurück und übernimmt die Führung der Naumann-Stiftung. Er führt sie so leise, wie er zuvor Politik betrieben hat.

Weltanschauliche Klarheit

Doch so, wie es keine Reden von Gerhardt gibt, die in Erinnerung bleiben, so gibt es auch keine Peinlichkeiten und schrillen Töne. Was es gibt, ist eine weltanschauliche Klarheit, die vielen Deutschen heute abgeht: prowestlich, pro Marktwirtschaft und gegen jede Form von Autoritarismus.

Gerhardt warnt schon 2016 vor Russlands «imperialer Nostalgie» und vor einer Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral in der deutschen Sicherheitspolitik, die ihn «fassungslos» mache. Acht Jahre, einen russischen Angriffskrieg und eine nach wie vor nur angekündigte «Zeitenwende» später kann man nur sagen: Das stimmte damals, und es stimmt immer noch.

2013 tritt Gerhardt nicht mehr zur Wahl für den Bundestag an. Es ist das Jahr, in dem seine Partei aus dem Parlament fliegt. So wenig dieser Liberale mit dem Aufstieg der FDP in den Jahren zuvor zu tun hatte, so wenig hat er nun mit ihrem Niedergang zu tun.

«Er war nie ein Machtpolitiker, sondern blieb auch in Spitzenpositionen ein belesener, feiner und grosszügiger Mensch»: Mit diesen Worten hat der heutige Parteichef Christian Lindner seinen Vor-Vor-Vorgänger nun gewürdigt. Ein interessantes Lob. Lindner hat in seinen frühen Jahren selbst oft an die Gaukler erinnert, die Gerhardt entmachtet haben. Heute bemüht er sich erkennbar um ein staatsmännisches Profil. Wer will, kann darin einen späten und indirekten Erfolg des vermeintlich so langweiligen früheren Vorsitzenden erkennen.

An diesem Freitagmorgen ist Wolfgang Gerhardt im Alter von 80 Jahren in Wiesbaden gestorben.

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