Unaufmerksamkeit ist im Strassenverkehr für mehr Unfälle verantwortlich als Rasen und Alkohol. Doch Kampagnen bringen wenig. Laut Verkehrsforschern gibt es nützlichere Massnahmen.
Der Fuss auf dem Gas, das Handy in der Hand. Für viele Autofahrer ist die Bedienung des Smartphones während der Fahrt längst Routine, manche sind grundsätzlich einhändig unterwegs. Der Blick wechselt dabei abwechselnd von Strasse zu Display, im Blindflug brettern sie über Autobahnen und durch Wohngebiete. Zwar ist die Handynutzung am Steuer verboten, aber Kontrollen sind selten und Bussgelder vergleichsweise niedrig. Wird schon nichts passieren, ist die verbreitete Grundhaltung vieler.
Ein gefährlicher Trugschluss, wie ein Blick auf die Unfallstatistik zeigt. Ablenkung und Unaufmerksamkeit im Strassenverkehr sind Unfallursache Nummer eins, Multitasking am Steuer eine tödliche Gefahr – noch vor Rasen und Alkohol. Wegen Ablenkung verlieren jedes Jahr 56 Menschen ihr Leben auf Schweizer Strassen, fast 1200 Menschen werden schwer verletzt. Jeder vierte Unfall mit Personenschaden könnte vermieden werden, wenn die Fahrer ihre Aufmerksamkeit der Strasse schenken würden statt dem Display.
Italien greift jetzt härter gegen Verkehrssünder durch, zu Neujahr wurden die Bussgelder fürs Handygucken drastisch erhöht. Das Ziel: Die Strasse soll sicherer werden. Wer fortan mit dem Handy am Steuer erwischt wird, muss bis zu 1000 Euro zahlen, im Wiederholungsfall drohen 1400 Euro und drei Monate Führerscheinentzug.
Verglichen damit sind die 100 Franken Busse in der Schweiz ein Schnäppchen, auch wenn das Gesetz durchaus härtere Sanktionen vorsieht. Mangelnde Abschreckung ist nach Auffassung von Verkehrssicherheitsexperten ein Grund, warum der Verkehrsverstoss in so vielen Fällen einfach ignoriert wird. Nur mal kurz das Handy checken gilt als Kavaliersdelikt. Das Problem wird kleingeredet und unterschätzt.
Kampagnen nicht wirksam
Um diese Mentalität zu ändern, wird in Kampagnen seit Jahren auf das steigende Problem hingewiesen. Im Herbst starteten die Polizeikorps der Zentralschweiz die Kampagne «Ablenkung kann töten». Man solle den Verkehr im Blick behalten und nicht das Handy, lautete die Botschaft. Aber bringen solche Appelle etwas?
Anja Huemer ist skeptisch. Die Verkehrspsychologin von der Bundeswehr-Universität München hält solche Kampagnen für nicht wirksam, weil sich die meisten Menschen damit nicht gemeint fühlen. «Wir schauen auf solche Plakate an Autobahnen und denken: Das betrifft mich nicht», sagt sie. Der Grund hierfür ist simpel: «Ablenkung wird unterschätzt, weil uns selbst kein Unfall passiert ist.» Tausendmal habe man schon während der Fahrt aufs Handy geschaut – folgenlos. Daraus ergibt sich ein verhängnisvoller Lerneffekt für Autofahrer: Sie schätzten sich als sichere Fahrer ein, die jederzeit alles im Griff hätten.
In Wahrheit haben abgelenkte Fahrer nichts im Griff. Psychologen sprechen von Kontrollillusion. Denn Unfälle passieren oft, weil etwas Unvorhergesehenes passiert. Genau darauf sind abgelenkte Fahrer aber nicht vorbereitet. Physikalisch ist das eindeutig: Bei Ablenkung verlängert sich die Reaktionszeit und damit auch der Anhalteweg. Schon bei geringen Geschwindigkeiten sind Autofahrer somit einige Meter im Blindflug unterwegs, das Auto kommt später zum Stehen. Für ein Kind, das unkontrolliert auf die Strasse tritt, kann das zu spät sein.
Smartphone steht im Mittelpunkt der Forschung
Als besonders gefährlich haben Verkehrsforscher wie Anja Huemer das Tippen von Nachrichten auf dem Handy identifiziert, weil dabei der Blick längere Zeit auf dem Display verharrt – während man beim Telefonieren mit dem Handy in der Hand immerhin noch auf die Strasse schauen kann. Das Smartphone steht im Mittelpunkt der Forschung, weil es die Aufmerksamkeit der Fahrer am stärksten bindet. Verschiedene Studien zeigen, dass Ablenkung durch das Smartphone ein weltweites Problem ist und als Unfallursache sehr häufig. In den USA sind fünf bis sieben Prozent der Autofahrer während der Fahrt mit dem Smartphone beschäftigt, in Deutschland vier bis fünf Prozent.
In der Schweiz untersucht das Bundesamt für Unfallverhütung seit dem Jahr 2020 systematisch die Ablenkung im Strassenverkehr. An 58 Standorten im ganzen Land beobachten Wissenschafter einmal pro Jahr die Strassen im Land. Die Ergebnisse ähneln denen anderer Länder: Sechs Prozent der Autofahrer wurden dabei erwischt, wie sie das Smartphone während der Fahrt benutzen. Fast jeder dritte Schweizer war im Auto nebenher mit etwas anderem beschäftigt, zeigten die Beobachtungen – Tendenz steigend.
Am häufigsten wurde in siebzehn Prozent aller Fahrten die Interaktion mit Mitfahrenden beobachtet. Das ist nicht verboten, kann die Aufmerksamkeit aber einschränken. Gleich dahinter folgt die Handynutzung als zweithäufigste Ablenkungsursache. Verkehrsforscher haben diesbezüglich junge und mittelalte Personen besonders im Visier: Bei Befragungen geben vierzig Prozent aller jungen Fahrer unter dreissig zu, dass sie das Smartphone während der Fahrt nutzen. Grundsätzlich sind junge Menschen dreimal so häufig wie ältere Menschen mit Nebentätigkeiten beschäftigt, wie Daten aus Bern und aus Deutschland zeigen. Und Männer lassen sich eher ablenken als Frauen.
Oft bleibt es nicht bei einer Nebentätigkeit
«Nebentätigkeiten an sich sind nicht gefährlich», sagt Anja Huemer, vor allem dann, wenn man ohnehin ein umsichtiger Fahrer sei. Häufig bleibe es aber nicht bei einer Nebentätigkeit wie Rauchen, Essen oder Telefonieren über die Freisprecheinrichtung, es würden zwei oder mehr Dinge auf einmal erledigt. In diesem Fall steigt die Unfallgefahr stark an, gerade wenn man ohnehin zu riskantem Fahren wie Rasen oder dichtem Auffahren neigt.
Häufig kommt bei Unfällen eins zum anderen, bevor es kracht – Unfälle sind häufig multikausal, aber nicht jedes verbotene Verhalten wird später entdeckt. Auch die Polizei braucht einen hinreichenden Verdacht, bevor sie ein Smartphone nach einem Unfall auslesen darf, um zu überprüfen, ob der Fahrer abgelenkt war. Die Dunkelziffer bei Unfällen durch Ablenkung dürfte somit sehr hoch sein.
Dafür wissen Verkehrsforscher, was man gegen die Ablenkung tun kann. Zum einen muss die Entdeckungswahrscheinlichkeit hoch sein. Autofahrer müssen damit rechnen, dass sie erwischt werden. Dafür werden spezielle Kamerasysteme erprobt, montiert beispielsweise an Brücken, die die Nutzung des Smartphones überwachen können. Zum andern empfehlen die Verkehrsforscher Strafen, die persönlich weh tun, wie Fahrverbote und schnelle Verfahren, damit die Lenker aus ihren Fehlern lernen. Kampagnen allein bringen nicht viel.
Möglichkeiten der Ablenkung haben zugenommen
Dass etwas getan werden muss, da sind sich die Verkehrsforscher einig. Auch Stefan Siegrist blickt mit Sorge auf die jüngsten Entwicklungen im Strassenverkehr: «Die Möglichkeiten zur Ablenkung haben zugenommen», sagt der Direktor der Beratungsstelle für Unfallverhütung.
Zum einen sind da immer mehr leuchtende Touch-Displays, mit denen man üppige Infotainment-Angebote wie Musik, Filme oder Nachrichten bedienen kann, zum anderen ein zunehmender Automatisierungsgrad der Autos. Da die Autos immer mehr Aufgaben beim Fahren übernähmen, sei der Anreiz für viele Fahrer gross, sich Nebentätigkeiten zu widmen, sagt Siegrist: «Die Ablenkung nimmt mit der Automatisierung zu.»
Sorge hat Siegrist daher wegen des Inkrafttretens der nächsten Automatisierungsstufe, die der Bundesrat im Herbst verabschiedete. Ab März darf man in bestimmten Autos auf der Autobahn die Hände vom Lenkrad nehmen. Einziger Haken: Noch ist kein Autohersteller in der Schweiz zugelassen, der den Anforderungen dieser Stufe entspricht. Das ist nach Branchenbeobachtern aber nur eine Frage der Zeit.
Siegrist jedenfalls sieht im teilautomatisierten Fahren die Gefahr, dass sich die Autofahrer vermehrt mit Nebentätigkeiten beschäftigten und abgelenkt seien. In kniffligen Situationen müssten sie rasch eingreifen, aber Ablenkung könne die Zeit, die sie benötigten, um die Verkehrssituation vollständig zu verstehen und die Kontrolle über ihr Fahrzeug wiederzuerlangen, deutlich erhöhen. Er sei kein Gegner des automatisierten Fahrens – er erwarte im Gegenteil einen grossen Nutzen für alle. Aber bis jetzt sei die Technik dafür noch nicht reif, findet er.