Mittwoch, März 19

Seine Lieder waren im Jahr 1989 Protestsongs auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Was danach mit Cui Jian geschah, ist sinnbildlich für China nach der Tragödie.

Audioaufnahmen bezeugen es: Er war mitten unter ihnen. Cui Jian, der Vater des chinesischen Rock’n’Roll, hat auf dem Tiananmen-Platz gespielt – wenige Wochen vor dem Massaker vor 35 Jahren. «Heute ist der siebte Tag des Hungerstreiks, richtig?», fragte er die Menge. «Ja!», antworteten die Studenten. Gebannte Stille. Dann setzte er an. Zunächst las er nur den Songtext vor. Dann mit Gitarre.

An jenem Tag bandest du mir ein rotes Tuch um die Augen.

Das Tuch verdeckte meine Augen und auch den Himmel.

Du fragtest, was ich sehe.

Ich sagte, ich sehe das Glück.

MV 一块儿红布(Yi Kuai Hong Bu ) - 崔健 MV(Cuijian MV)

«Ein rotes Tuch» hiess der Song. Cui Jian band sich jeweils ein blutrotes Tuch vor die Augen, wenn er das Lied sang, und spielte blind. Rot, die Farbe der Kommunisten. Jahre später schrieb Cui Jian im «Time Magazine»: «Die Studenten waren Helden. Sie brauchten mich, und ich brauchte sie.»

Cui Jian, der erste grosse Rockmusiker der Volksrepublik China, ist auch ihr letzter. Denn die Zeit, in der Cui Jian in China ganze Stadien zum Kochen brachte, war die Zeit um 1989. Damals, als China mit einem Schlag unwiderruflich verändert wurde, damit alles beim Alten bleibt.

Begleitet von seiner elektrischen Gitarre und seiner Band sang Cui Jian Rockballaden mit Trompeten- und Gitarrensolos. Auch traditionelle chinesische Instrumente, wie die Guzheng, kamen zum Einsatz. Cui Jians Stimme ist rau, gefühlvoll – unverkennbar. Seine Rockmusik vermittelte seinen jungen Fans ein Gefühl der Freiheit. Seine Texte warfen die Frage auf nach der eigenen Identität und dem Verhältnis der Bürger zur regierenden Partei.

Chinas Achtziger: rote Lieder und Coca-Cola

Musik ist mächtig. Sie weckt eine Sehnsucht im Innersten der Menschen, schafft es, dass sich Fremde verbunden fühlen wie durch ein unsichtbares Band. Das wussten auch die kommunistischen Herrscher. Unter dem Staatsgründer Mao Zedong dominierten die sogenannten roten Lieder. Sie heissen «Ode an Peking», «Der Osten ist rot» oder «Mein Mutterland». In der Kunst war nur der sozialistische Realismus erlaubt.

Doch dann starb Mao Ende 1976. Eine kleine Gruppe von Reformern rund um Deng Xiaoping führte schrittweise die freie Marktwirtschaft ein und öffnete China für die Aussenwelt. Die Verunsicherung war gross, die Gegensätze gigantisch. «In der Schule sangen wir rote Lieder, und auf dem Nachhauseweg tranken wir Coca-Cola», erzählt die Dokumentarfilmerin Yang Yang in ihrem Film «Meine achtziger Jahre».

Plötzlich sah man statt der Einheitskluft vereinzelt Frauen, die Röcke trugen. Oder eine mit Lippenstift. Es gab sogar Männer, die die Haare wachsen liessen, so wie Cui Jian. In einem Land, das bis vor kurzem die wenigen erlaubten Frisuren per Dekret bestimmt hatte, war das ein Skandal.

Die traumatischen Erfahrungen der Kulturrevolution und der Tod des Grossen Vorsitzenden Mao wirkten noch nach, aber China war bereits auf dem Weg in die Moderne. Nicht nur die Geschäftstüchtigkeit der Chinesen erblühte langsam, auch das Denken strebte nach Freiheit. Jahrzehntelang unterdrückte Kreativität brach hervor. Künstlergruppen formierten sich. Weil sie keine offizielle Plattform erhielten, stellten sie ihre zeitgenössischen Werke 1979 am Zaun des Nationalmuseums aus. Zehntausende Neugierige strömten herbei, um sich das anzuschauen.

«Die Menschen waren schockiert», erzählt der ehemalige Botschafter der Schweiz in China, Uli Sigg, der seit 1979 geschäftlich oft in Peking war – und später einige dieser frühen Werke in seine Sammlung chinesischer Gegenwartskunst aufnahm. Diese Werke waren aus westlicher Sicht nichts Besonderes – es waren Skulpturen dabei, impressionistische Bilder. «Für unsere Augen 100 Jahre zu spät», sagt Sigg. Was damals von aussen nach China drang, war fragmentarisch, vielleicht mal ein einzelner Katalog. Die Chinesen, die sich die inoffizielle Ausstellung anschauten, fanden das jedoch unerhört. Aufregend. Kurios. Sigg sagt: «Sie hatten so etwas noch nie gesehen.»

Das neue China

Die Wirtschaftsreformen breiteten sich Anfang der achtziger Jahre unaufhaltbar aus. Zunächst in der Landwirtschaft, dann durften private Coiffeursalons öffnen, kleine Familienbetriebe in der Stadt. «Es war – nach zögerlichem Beginn – ein unglaublicher Zug in dem Land», erzählt Sigg. Die Lebensrealität der Menschen, die Ideologie, der Umgang zwischen den Generationen – alles war neu. «Und die Künstler hofften, beim Aufbau dieses neuen China dabei zu sein.»

Cui Jian war damals noch ein Trompetenspieler im Pekinger Symphonieorchester. Dann hörte er seine erste Beatles-Kassette und beschloss, elektrische Gitarre zu lernen. Das war Mitte der achtziger Jahre. «Wenige Chinesen wussten damals, was Rock’n’Roll war. Aber wir wussten, es setzt Energie frei. Es war Musik mit einer Botschaft», schrieb Cui Jian später im «Time Magazine».

1986 hatte er seinen ersten grossen Auftritt im Arbeiterstadion in Peking. Für diesen Abend komponierte er ein eigenes Lied. Er schrieb es rasch, aus einer Laune heraus. «Mittellos» sollte sein grösster Hit werden. Und das Lied, das drei Jahre später alle auswendig konnten, als sie mit ihren Bannern und Spruchbändern durch Peking zogen. Nichts brachte ihre Hoffnung auf politische Veränderung und die elektrisierende Aufbruchstimmung besser zum Ausdruck.

Ich wollte dir meine Träume geben

und meine Freiheit obendrein.

Aber du hast mich stets nur belächelt,

weil ich mittellos bin.

Oh . . .

wann gehst du mit mir fort?

China erstarrt

Dann kam die Nacht auf den 4. Juni 1989. Panzer walzten sich durch die weiten Strassen der Hauptstadt. Schüsse fielen, die durch Mark und Bein gingen. Ganz China erstarrte. Die Demokratiebewegung, die sich landesweit ausgebreitet hatte, war gescheitert. Aber dass sie so grausam scheitern musste. Die, die gefordert, gesungen, getanzt hatten, lagen zu Hunderten auf der Strasse, unter ihnen eine Blutlache. Die Diktatur hatte obsiegt und sagte: Wagt es nie wieder, zu träumen.

Die Kunst- und Kulturwelt war wie gelähmt. «Künstler gehören zu den Feinfühligen. Viele von ihnen fielen in eine tiefe Niedergeschlagenheit», erzählt Sigg. Der 4. Juni hatte ein kollektives Trauma ausgelöst – aber darüber reden durfte man bald nicht mehr. Es künstlerisch zu verarbeiten, war zunächst undenkbar. Also blieb nichts anderes, als in die Schaffenskrise zu sinken.

Cui Jian floh damals und tauchte unter. Die Leute fragten sich, ob ihm etwas zugestossen sei. Aber bald trat er wieder an kleinen, privaten Veranstaltungen auf, verkaufte seine Kassetten. Seine Karriere war nicht vorbei. Bereits im Jahr darauf durfte er wieder die Hallen füllen. Es war eine Benefiz-Konzertreihe.

Cui Jian ging auf die Bühne, verband seine Augen mit dem blutroten Tuch und sang. Seine Zuschauer formten mit den Fingern das Victory-Zeichen – ein Symbol der toten Demokratiebewegung. Es war ein kollektives Erinnern an das Unsagbare.

Dann spielte Cui Jian seinen Song «Der letzte Schuss». Er hatte ihn schon vor dem Tiananmen-Massaker geschrieben. Doch nun bekam das Lied eine ganz neue Bedeutung.

Ein wilder Schuss trifft meine Brust,

und in diesem Augenblick überflutet mein Herz

mit allem, was ich jemals erlebt habe.

Oh, der letzte Schuss.

Bei einem Auftritt in Chengdu soll er nach diesem Lied gesagt haben: «Ich hoffe, die Schüsse, die wir letztes Jahr gehört haben, werden die letzten sein.» Da bekamen es die Zensoren mit der Angst zu tun. Die Tour wurde abgesagt, obwohl sie erst in der Hälfte war.

Die chinesische Kunstwelt taute erst zwei, drei Jahre nach dem Massaker wieder auf. Der politische Realismus dominierte als Stil. Noch wagten die Künstler es nicht, den 4. Juni 1989 zu thematisieren, ausser sie waren im Ausland. Zeitgenössische Kunst stand stärker im Fokus der Zensoren als die Musik, weil sie sie noch weniger verstanden. Erst über ein Jahrzehnt später entstanden die ersten Werke, die sich mit dem Trauma des 4. Juni auseinandersetzten – zum Beispiel das Bild «Neues Peking» von Wang Xingwei. Es zeigt zwei auf dem Rücken liegende Pinguine, der eine mit einer Schusswunde, die auf einem Veloanhänger transportiert werden.

Cui Jian trat seit den neunziger Jahren regelmässig auf, meist in kleinen Bars, manchmal auch in grossen Hallen, aber dafür fuhr er zunächst nach Hongkong, in die USA oder nach Europa. Seine Zuschauer waren dort Auslandchinesen. Cui Jian hat immer wieder ausländischen Medien Interviews gegeben. Seit einigen Jahren ist er vorsichtiger geworden. Mit der NZZ wollte er nicht sprechen.

In China machen ihm die Kulturbehörden oft das Leben schwer. Wie alle Musiker muss er die Songtexte vor der Veröffentlichung vorlegen. Vor seinen Auftritten muss er angeben, welche Songs er spielen wird. «Ein rotes Tuch» oder «Mittellos» stehen schon lange nicht mehr auf der Liste. «Der letzte Schuss» schon gar nicht.

Die Musikindustrie in China ist stark kommerzialisiert. Die Bands aus der lebendigen Untergrundszene schaffen es selten zu landesweiter Berühmtheit, ausser sie gehen künstlerische Kompromisse ein mit den Zensoren. Rockmusik darf weder rebellisch noch subversiv sein. Das erklärt, warum es in China keinen zweiten Cui Jian gibt. Für authentische Rocker hat es einfach keinen Platz mehr in der eng kontrollierten chinesischen Öffentlichkeit. Die beliebtesten Musikstars in China stammen oft aus Hongkong, Taiwan oder Südkorea.

Vergessen gemacht

Cui Jian hat trotz den hohen Auflagen der Behörden nie aufgehört, neue Musik zu veröffentlichen – und damit zur Projektionsfläche zu werden. Sein neustes Album kam während der Corona-Pandemie heraus. Er stellte es in einem Live-Stream vor, und mehr als 40 Millionen schauten zu. «Ich hoffe, die Musik verleiht euch Kraft in dieser schwierigen Zeit», sagte Cui Jian. In den Kommentaren diskutierten seine Fans über die Lockdowns der Regierung, gerade war die Millionenstadt Schanghai abgeriegelt worden. Ende desselben Jahres protestierten Hunderte in Peking, Schanghai und im ganzen Land gegen die Null-Covid-Politik. Es waren die grössten Proteste seit 1989.

Dabei wissen heute in China die wenigsten jungen Leute, was am 4. Juni 1989 passiert ist. Sie haben bloss eine vage Ahnung, dass dieses Datum ein heikles Thema ist, etwas, worüber man nicht spricht. Die schmachvolle Erinnerung an das Massaker hat die Regierung vergessen gemacht. Das Datum kommt weder im Geschichtsunterricht vor noch im Internet. Eltern, die dabei waren, erzählen ihren Kindern nichts davon, weil sie sie schützen wollen. Und so kennen zwar alle Cui Jian – sie kennen auch seine grössten Hits «Ein rotes Tuch» und «Mittellos». Warum er sie aber nicht mehr singt, wissen sie nicht.

Anders ist es mit dem Lied «Der letzte Schuss». Wer den Songtitel in der chinesischen Suchmaschine Baidu eingibt, erhält keine Resultate. Es ist, als habe das Lied nie existiert.

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