Samstag, September 28

Der grün gefärbte Idealismus hat sich überlebt. In Europa ist seit den Wahlen mehr Realismus möglich, in der Klimapolitik etwa oder der Asylfrage. Doch das löst das Hauptproblem nicht: die Stagnation der EU.

In der EU sind alle Länder gleich, zwei aber sind gleicher: Deutschland und Frankreich. Sie bilden den Kern der Union, ihre Aussöhnung ermöglichte erst die europäische Einigung. In beiden Ländern ist die politische Zukunft in dicke Nebelschwaden gehüllt. Denn Emmanuel Macron und Olaf Scholz erlitten bei der Europawahl ein Debakel.

Der französische Präsident entschied sich seiner Natur gemäss für eine kühne Wendung und setzte Neuwahlen an. Sollte der Wahlsieger vom letzten Wochenende – das Rassemblement national – auch den nationalen Urnengang für sich entscheiden, dann führt in Paris und damit auch in Brüssel kein Weg mehr an Marine Le Pen vorbei.

Die französischen Nationalkonservativen werden in Europa ein gewichtiges Wort mitreden. Marine Le Pen will zwar nicht mehr die Union verlassen, aber sie vertritt eine nationalistische Agenda. Deutschland ist und bleibt ihr Erbfeind. Die Zusammenarbeit des Führungsduos wäre mit Le Pen noch um einiges konfliktreicher als ohnehin.

So hat Frankreich gewählt

Stimmenanteil bei der Europawahl 2024, in Prozent

Renaissance (Macron)

14.6%

−7.82

Parti socialiste

13.8%

+7.61

La France insoumise

9.9%

+3.59

Les Républicains

7.2%

−1.28

Europe Écologie – Les Verts

5.5%

−7.97

Die EU-Kommission muss sich daher auf Blockadeversuche und eine unzimperliche Interessenpolitik im Stile Viktor Orbans einstellen. Ihre hochfliegenden Pläne wie den Green Deal kann sie einstweilen in der Schublade verstauen.

Der alte Brüsseler Konsens gehört der Vergangenheit an

Damit könnte die Kommission, eine Meisterin der Zermürbungstaktik, umgehen, wenn wenigstens Deutschland Kurs halten würde. Doch die Koalition in Berlin ist ein «dead man walking». Ihr letztes Stündlein hat geschlagen. Die Regierungsparteien vereinigten nur noch ein Drittel der Stimmen auf sich, die Kanzlerpartei SPD rangiert gar auf Platz drei hinter CDU/CSU und AfD. In weiten Teilen Ostdeutschlands ist die «Ampel» klinisch tot.

Zwar wird das moribunde Bündnis nicht vorzeitig auseinanderbrechen. Aber seine Tage sind gezählt, zumal in wenigen Monaten drei Landtagswahlen im Osten stattfinden. Die nächste Niederlage ist also programmiert. Die Koalitionsparteien gehen als mehrfache Verlierer in die Bundestagswahl. Der linksliberale Zeitgeist hat sich überlebt, in Deutschland wie in Europa. Die Wähler haben die selbsternannten Retter der Welt für ihren Übermut und ihre Selbstgerechtigkeit bestraft.

Der deutsche Kanzler reagierte auf die europäischen Hiobsbotschaften gemäss seinem Naturell: nämlich stoisch bis regungslos. Vertreter seiner Partei erklärten, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dürfe nur mit einer «Mehrheit der demokratischen Parteien» wiedergewählt werden, nicht aber mit den Stimmen der Nationalkonservativen in Frankreich und Italien. Die SPD versucht also, das alte Machtkartell in Brüssel aus Christlichdemokraten und Sozialdemokraten zu retten.

So hat Deutschland gewählt

Stimmenanteil bei der Europawahl 2024, in Prozent

Das passt nicht recht zur neuen Wirklichkeit. In mehreren Ländern, etwa in Frankreich, Italien, Ungarn oder Österreich, schnitten die rechten Schmuddelkinder am besten ab. Zwar erzielte Orban – für Brüssel der Beelzebub schlechthin – in Ungarn das schlechteste Ergebnis seit langem. Seine 46 Prozent sind aber ein Ergebnis, von dem die gemässigten Kräfte nur träumen können.

Nimmt man hinzu, dass in den Niederlanden oder Finnland bereits Regierungen mit starker rechter Schlagseite existieren und in Österreich eine solche im Herbst installiert werden könnte, ist die Verschiebung der Gewichte in Europa unübersehbar. Die zentristischen Christlichdemokraten, die im EU-Parlament die grösste Fraktion stellen und jetzt noch einmal zugelegt haben, werden das kaum ignorieren.

Europa wird konservativer. Seine Neigung, sich etwa in der Klimapolitik als moralische Supermacht aufzuspielen, nimmt ab. Wirtschaftliche Fragen rücken auf der Tagesordnung nach oben. Angesagt ist jetzt mehr Realismus und weniger grün eingefärbter Idealismus. Das wird auch in Migrationsfragen zu spüren sein, wo von der Leyen Verschärfungen lange blockierte.

Der Brüsseler Konsens der jüngeren Vergangenheit ist Geschichte. Ganz im Geiste Angela Merkels unterschieden sich in den letzten Jahren CDU und SPD sowie ihre jeweiligen europäischen Parteifamilien wenig. Sie kungelten alles unter sich aus, mit Macrons etatistischen Liberalen zu einem gemässigt linken Superbündnis vereint.

Auch wenn diese Kräfte noch immer eine rechnerische Mehrheit im Europaparlament besitzen, ist die Hegemonie des Brüsseler Konsenses passé. Ablesen lässt sich das an der CDU, Merkels liebster Linkspartei. Unter Friedrich Merz vollführt sie eine Kehrtwende. Die Partei zog bereits ihre Zustimmung zum wirtschaftlich widersinnigen, überstürzten Ende des Verbrennungsmotors zurück.

Auf die Nuancen kommt es an: In Frankreich triumphiert der rechte Rand. In Deutschland hingegen begreift die liberalkonservative Mitte gerade, dass sie keine rot-grüne Mimikry betreiben muss, um Wahlen zu gewinnen.

Das alte Machtkartell verliert an Bedeutung, die Gegensätze treten stärker hervor. Marine Le Pen und ihre italienische Gesinnungsgenossin Giorgia Meloni gewinnen an Einfluss und können sich nach Bedarf als verständige Konservative oder stramme Nationalisten inszenieren. Der Europäische Rat wird unkalkulierbarer. Das gilt bis hin zur Aussenpolitik, selbst wenn sich an der Unterstützung der Ukraine vorläufig nichts ändern dürfte.

Europa mangelt es an Dynamik und Unternehmungsgeist

Die Europäische Union, ohnehin nicht das wendigste Schnellboot, wird noch schwerer zu lenken sein. Wären es nur die Wahlergebnisse, die auf eine lange Phase der Stagnation hindeuten, könnte man die sich abzeichnenden Veränderungen relativieren. Die Tagespolitik kennt viele Umbrüche; der jüngste Urnengang wird nicht der letzte sein. Aber auch die langfristigen Indikatoren zeigen in diese Richtung.

In der Vergangenheit gewann die EU durch Vertragsänderungen neuen Schwung. Sie waren stets ein Kraftakt, trieben aber den Ausbau von bescheidenen Anfängen als gemeinsame Behörde für Kohle und Stahl bis zur heutigen Währungsunion zielstrebig voran. Seit sich diese Entwicklung Mitte der achtziger Jahre beschleunigte, nahm die Union so im Abstand von höchstens sechs Jahren eine neue Etappe in Angriff. Doch die letzte Revision erfolgte 2007. Seither herrscht Stillstand.

Die auf zeitweise 28 Mitglieder angeschwollene EU ist zu heterogen, um sich noch einmal auf eine solche gemeinsame Anstrengung verständigen zu können. Die Interessen der Geberländer und der Subventionsempfänger prallen hart aufeinander. Die postnationalen Gründungsmitglieder im Westen blicken verächtlich auf die postkommunistischen Neumitglieder im Osten herab, die auf den Wert der Nation pochen.

Auf absehbare Zeit wird es keinen frischen Schwung durch eine Neufassung der Verträge geben. In diese Lücke springt der Europäische Gerichtshof. Er baut die Verträge, die von Nationalstaaten geschlossen und verändert werden, zu einer Art Verfassung um. Ihre Auslegung obliegt niemand anderem als dem Gerichtshof selbst. Diese Pseudoverfassung ist politischen Eingriffen zunehmend entzogen.

Nicht mehr gewählte Regierungen bilden im Europäischen Rat den obersten Gesetzgeber, sondern demokratisch nicht legitimierte Richter. Das Demokratiedefizit der EU, die Abgehobenheit der europäischen Institutionen nimmt auf diese Weise beständig zu und lässt nationalkonservative Protestparteien erst recht gedeihen.

Alles wird noch formalistischer, noch träger und schliesslich willkürlich. Denn grosse Veränderungen kommen nur noch zustande, wenn Krisen Hauruckübungen erzwingen. Das Musterbeispiel dafür ist der Einstieg in die Schuldenunion im Griechenland-Fiasko und in der Pandemie.

Nur im Ausnahmezustand ist der Europäische Rat noch souverän. Sonst ist er ein von Richtern domestiziertes Gremium. Kreativität und unternehmerischer Wagemut sind einer Union wesensfremd, die Richter und Regulierungen verehrt.

So verwundert es nicht, dass sich seit 2007 das Bruttoinlandprodukt in den USA und der EU auseinanderentwickelt. Amerika legt drastisch zu, Europa stagniert. Italiens Wirtschaftskraft liegt pro Kopf ungefähr so hoch wie die von Mississippi, dem ärmsten US-Gliedstaat. Deutschland, der europäische Klassenprimus, rangiert irgendwo zwischen Oklahoma und Maine.

Die Vereinigten Staaten enteilen, das vereinigte Europa kommt politisch und wirtschaftlich nicht voran. Amerika prosperiert, gleichgültig, welcher Präsident regiert. Stagniert die EU, unabhängig davon, wie in Brüssel die Macht verteilt ist? Man wird die Frage wohl bejahen müssen. Das ist das grösste Problem in Europa, nicht der vor allem in Deutschland beklagte «Rechtsruck».

Exit mobile version