Mittwoch, April 2

Italiens Industrie steckt seit zwei Jahren in der Rezession. Dagegen erfreuen sich die Kosmetikhersteller der Hochkonjunktur. Wie der gesellschaftliche Wandel die Resilienz der Beautybranche beflügelt.

Wer eine Auszeit von der Weltkrise braucht, ist bei Renato Ancorotti an der richtigen Adresse. Der Kosmetikunternehmer aus Crema, östlich von Mailand, verdient sein Geld mit Schönheit. Um 35 Prozent stieg der Umsatz von Ancorotti Cosmetics 2024 auf 155 Millionen Euro. Davon entfallen 60 Prozent auf Wimperntusche. 220 Millionen Mascaratuben stellt Ancorotti im Jahr her und deckt damit ein Fünftel des weltweiten Bedarfs ab. Und die Nachfrage zieht kräftig an.

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Die heimliche Supermacht

«Mascarakönig» nennen sie den Make-up-Hersteller in der italienischen Beautybranche. Mit einer Umsatzsteigerung um mehr als ein Drittel gehört Ancorotti zu den Spitzenreitern in einer Wachstumssparte, die aus einem generellen Abwärtstrend heraussticht. Italiens Industrie steckt schon seit zwei Jahren in der Rezession. Die Güterproduktion ging 24-mal in Folge zurück. Die Autoindustrie befindet sich im freien Fall. Auch in der Modebranche kriselt es heftig.

Im Schatten der namhaften Designerlabels stieg jedoch die verkannte Kosmetikbranche in den vergangenen Jahren zu einer heimlichen Supermacht auf. Sie steigerte ihren Umsatz auch 2024 wieder, um mehr als 9 Prozent auf 16,5 Milliarden Euro. Knapp die Hälfte davon wird exportiert.

Neulich sass Ancorotti in einer luxuriösen Polsterecke an seinem Stand auf der Cosmoprof in Bologna, der Weltleitmesse für Kosmetik. Die schwarzen Samtkissen waren mit goldfarbenen Paspeln eingefasst, Lampen und Deko verbreiteten ein orientalisches Flair. Rund um ihn präsentierten sich auf der Messe 3128 Unternehmen aus 65 Ländern von ihrer besten Seite. 255 000 Besucher strömten zur grössten Leistungsschau der Kosmetikindustrie, die Bologna jedes Jahr im März vier Tage lang in die Welthauptstadt der Eitelkeit verwandelt.

Umschwenken auf erschwinglichen Luxus

So schlecht die Stimmung in der italienischen Wirtschaft ist, so beschwingt war die Laune auf der Cosmoprof. «In einem schwierigen Moment leisten wir einen Beitrag zur Gelassenheit», sagte der Messechef Gianpiero Calzolari.

Das heisst: Je bedrückender die Zeiten, desto besser läuft das Geschäft? Ancorotti hat als Antwort die Theorie vom «Lipstick-Index» parat. Sie wurde vom amerikanischen Kosmetikhersteller Leonard Lauder in der Rezession Anfang der nuller Jahre aufgestellt. Lauder hielt den Absatz von Lippenstiften für einen aussagekräftigen Wirtschaftsindikator, da der Kauf von Kosmetika in umgekehrtem Verhältnis zur ökonomischen Lage stehe. In der Krise, in der viele auf die Anschaffung teurer Kleider oder Taschen verzichten müssen, verwöhnt man sich mit erschwinglichem Luxus aus dem Kosmetikregal.

Nun sieht es so aus, als würden die Mondpreise, die exklusive Modelabels inzwischen verlangen, den Lipstick-Effekt heute noch verstärken. Wer nicht bereit ist, 11 000 Euro für eine Coco-Chanel-Tasche auszugeben, greift beim Lippenstift mit dem berühmten CC-Logo für 68 Euro zu. Auch die fragile Weltlage fördert offenbar das Bedürfnis, Körper und Seele zu pflegen. «Wenn ich ein wenig Parfum auftrage, fühle ich mich gut, und es geht mir auch unter anderen Leuten besser», sagt Ancorotti zur sozialen Funktion seiner Branche.

Auftragsfertigung in Crema für die grossen Marken

In einer stillgelegten Olivetti-Fabrik in Crema entwickelt, produziert und verpackt sein Unternehmen Schminkprodukte. Bis Anfang der neunziger Jahre wurden in den 30 000 Quadratmeter grossen Fabrikhallen Schreibmaschinen zusammengebaut. Seit 2019 stellen 500 Beschäftigte dort Make-up her, sowohl für die internationalen Luxuslabels als auch für den Massenmarkt. Oft zieren die schlanken Mascaratuben klangvolle Namen französischer oder amerikanischer Marken, drin ist aber Wimperntusche aus Crema.

Firmen wie Ancorotti Cosmetics gibt es in Italien mehr als 1000. Die Hälfte der Fabriken aus der Schönheitsindustrie ist im Beauty Valley im Grossraum Mailand angesiedelt. Tendenz steigend: Es drängen ständig neue Startups auf den Markt. Besonders hoch im Kurs steht Schminke aus Bella Italia: 67 Prozent des in Europa verkauften Make-ups werden in Italien hergestellt. Weltweit kommen 55 Prozent der dekorativen Markenkosmetik dorther. Simone Dominici, der Chef der Kosmetikkette Kiko Milano, stellte auf einem Messepodium in Bologna fest: «Wir befinden uns hier eben im Land der Schönheit.»

Ihren Sinn für Ästhetik verbinden die Italiener anscheinend trefflich mit dem Sinn fürs Geschäft. Ancorotti stieg im vergangenen November mit dem Partnerunternehmen Euroitalia in die Parfumherstellung ein. Die vier neuen Produktionslinien in der ehemaligen Schreibmaschinenfabrik stossen am Tag in zwei Schichten 70 000 Duftflakons aus. Im März schloss das Make-up-Unternehmen dann noch die Übernahme des italienischen Skincare-Herstellers Cosmoproject ab.

Damit steht nun als Nächstes das Debüt in der Hautpflege bevor. Die Zahl der Beschäftigten verdoppelte sich auf knapp 1000. Seinen Expansionshunger hat Ancorotti, der seit 2022 für die Rechtspartei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni im römischen Senat sitzt, noch nicht gestillt. «Wir sehen uns nach weiteren Akquisitionen um, um unser Kosmetikangebot zu vervollständigen», sagt der 69-Jährige.

Mit ihren flotten Wachstumsgeschichten zieht die italienische Beautyindustrie seit Jahren auch Finanzinvestoren und branchenfremde Unternehmen an. Der Pariser Luxusgüterkonzern LVMH sicherte sich im vergangenen Sommer die Kontrolle des 1997 gegründeten Kosmetikunternehmens Kiko Milano. Die Kaufsumme wurde auf eine Milliarde Euro geschätzt. LVMH besitzt bereits die französische Parfümeriekette Sephora. Mit dem Deal lag der Konzernpatriarch Bernard Arnault voll im Trend: Die exklusiven Modelabels, die derzeit unter einer markanten Kaufzurückhaltung leiden, stürzen sich ins florierende Kosmetikgeschäft.

Die digitale Selbstdarstellung spielt der Branche in die Hände

Für die Hochkonjunktur sorgt nicht nur die Erschwinglichkeit der Schönheitsprodukte in einer inflationsgeplagten und tief verunsicherten Welt. Auch der gesellschaftlichen Wandel beflügelt die Resilienz der Beautyindustrie. Drei Trends spielen den Herstellern in die Karten. Erstens erweist sich die Digitalisierung des Lebensstils als formidable Absatzförderung. «Da wir online permanent im Blickfeld anderer stehen, fällt unserem Gesicht heute eine viel grössere Bedeutung für unser Ansehen zu», sagt der Designer Riccardo Falcinelli, der ein Buch über die Geschichte des Gesichts veröffentlicht hat.

Die Probleme der Selbstdarstellung, die in der Antike ein Kaiser wie Augustus gehabt habe, erfahre heute jeder Teenager, der Tiktok nutze. «Den strengsten Blick richten wir selbst auf uns, wenn wir ständig in den digitalen Spiegel schauen», sagt Falcinelli. Trotz den Filtern.

Die Folge: Auch die tägliche Beautyroutine gewinnt immer mehr Bedeutung. Schminken, Hautpflege, Haircare und Nageldekoration seien die neuen Mantras der 15- bis 30-Jährigen, sagen die Trendforscher. Wohingegen die Mode an Beachtung verliere.

Zweitens wächst den Unternehmen gerade die kosmetikbesessene Generation Alpha, das sind die seit 2010 geborenen Kinder, als Kundschaft heran. In den Talkrunden auf der Messebühne in Bologna tauschten sich die Fachleute über die «Sephora-Kids» aus, die in die Läden der Parfümeriekette stürmen und mit 9 Jahren Intensivpflege gegen Hautalterung mit Retinol oder Antioxidantien suchen. Oder über 11-jährige Mädchen, die nicht ohne eine ausgiebige Gesichtspflege ins Bett gehen. «Die heutige Gen Alpha ist zweifellos diejenige, die sich am meisten für Kosmetik interessiert», sagte Lan Vu, Chefin der internationalen Trendagentur Beautystreams, bereits vor einem Jahr.

Trend wechselt von Anti-Age- zu Pro-Age-Produkten

Drittens profitiert die Schönheitsindustrie von der Alterung der Bevölkerung. In den kommenden dreissig Jahren wird die Zahl der über 50-Jährigen um 44 Prozent ansteigen. Zu dem Verlangen nach Schönheit gesellt sich der Wunsch, sie dauerhaft zu erhalten. Das Zauberwort der Branche heisst: Longevity.

Zwar hätten die Kundinnen erkannt, dass Kosmetik nicht jünger machen könne, sagt der Direktor des italienischen Kosmetikverbandes, Gian Andrea Positano. Dafür setzten sie jetzt darauf, der Hautalterung vorzubeugen und sich wohlzufühlen. «Es ist eine Revolution im Gange, weg von Anti-Age-Produkten, hin zu Pro-Age-Produkten», sagt Positano abseits vom Messetrubel in der Lounge der Lobby. Die Unternehmen hätten sich dem kulturellen Wandel rasch angepasst. «Sie verdienen ja bestens daran», sagt er gutgelaunt.

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