Donnerstag, November 14

Viele junge Menschen aus Tunesien, Marokko, Algerien oder Ägypten sehen in ihren Ländern keine Perspektiven mehr. Das erklärt der Journalist Beat Stauffer, der sich seit Jahrzehnten mit dieser Region befasst.

Junge Männer in Freizeitkleidung und Sonnenbrille, die auf einem Boot im Mittelmeer in die Handykamera lachen: Dieses Bild ist auf Ihrem neuen Buch* über die irreguläre Migration aus den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten zu sehen. Weshalb dieses Bild?

Es ist ein typisches Foto, wie es von irregulären Migranten aus diesen Ländern tausendfach versandt und gepostet wird. Es handelt sich um eine Selbstdarstellung dieser Migranten – zu rund 90 Prozent handelt es sich um junge Männer.

Tatsache ist allerdings, dass Flüchtlinge im Mittelmeer zu Hunderten ertrinken.

Ja, und in Wahrheit ist diese Tragödie noch viel grösser: Viele der Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika und dem Nahen Osten sterben bereits auf dem Landweg zur Küste. Sie werden an den Landesgrenzen von Grenzwächtern, Polizisten oder Milizionären regelmässig ausgeraubt, bedroht und misshandelt. Tagelang sind sie in der Wüste unterwegs, manche verdursten. Sie überqueren das Mittelmeer auf den überfüllten und veralteten Booten, die wir aus den Nachrichten kennen. Doch damit ist die Situation der Männer auf dem Boot nicht zu vergleichen. Hier geht es um irreguläre Migration aus dem Maghreb, aus Ägypten und Libanon.

Und wo genau liegt der Unterschied?

Die Leute aus dem Maghreb fliehen weder vor Krieg noch vor Verfolgung. Sie sind auf der Suche nach mehr Wohlstand und einem westlichen Lebensstil. Sie sind auch nicht wochenlang oder monatelang unterwegs. Die Wege sind verhältnismässig kurz, und das Risiko ist kalkulierbar. Viele der irregulären Migranten sind in modernen Booten unterwegs und innert ein paar Stunden in Europa. Mit den Handybildern von der Überfahrt wollen sie genau das zeigen: Wir haben es geschafft, wir sind unterwegs zu neuen Ufern.

Algerien und Marokko gehören zu den Ländern, die in der schweizerischen Asylstatistik besonders stark vertreten sind. Weshalb eigentlich?

Die Maghrebstaaten weisen alle einen hohen Migrationsdruck auf. Tunesien ist deutlich kleiner, was sich statistisch auswirkt, aber auch dort wollen sehr viele junge Menschen nach Europa emigrieren. Auch die geografische Ausgangslage ist in den drei Ländern ähnlich: Alle liegen am Mittelmeer. Spanien und Italien sind nahe, und es ist relativ einfach, dorthin zu gelangen.

Also ist die Nähe entscheidend?

Ja, und damit ist nicht nur die geografische Nähe gemeint. Die Maghrebstaaten pflegten über Jahrhunderte einen engen Kontakt zu Europa. Die Bevölkerung ist von Europa geprägt, und viele beherrschen auch europäische Sprachen. Mit der Einführung des Schengen-Dublin-Raums wurde der Maghreb in den 1990er Jahren praktisch abgekoppelt. Ähnliches gilt auch für Ägypten und Libanon. Das hat in diesen Ländern einen grossen Frust ausgelöst. Es wird als ungerecht empfunden. Die Leute sagen: Wir, die eine Beziehung zu Europa pflegten, dürfen nicht kommen. Aber Menschen aus viel weiter entfernten Ländern erhalten ein Bleiberecht.

Historisch gesehen wäre es also besser, man würde die Maghrebstaaten in den Schengen-Raum integrieren?

Kurzfristig ist dies vollkommen unrealistisch. Das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und all diesen Staaten ist viel zu gross. Doch es braucht dringend eine enge Zusammenarbeit mit diesen Staaten südlich und östlich des Mittelmeers. Denn faktisch schützen diese Staaten Europa vor grossen Flucht- und Migrationsbewegungen, auch aus Subsahara-Afrika und dem Nahen Osten.

Wie schlecht geht es den Leuten in Algerien, Marokko und Tunesien?

Vor allem Tunesien befindet sich politisch wie auch wirtschaftlich in einer schwierigen Lage. Ein grosser Teil der Bevölkerung, vor allem im Hinterland und in den armen Vorstädten, lebt in prekären Verhältnissen. Das staatliche Bildungswesen hat stark gelitten. Allein in Tunesien brechen jedes Jahr gegen 100 000 Menschen die Schule ab. Marokko geht es deutlich besser. Doch auch hier sind die Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren stark angestiegen, und einige Millionen Menschen leben am Rande der Armut. Auch wenn diese Menschen nicht hungern, haben sie nichts zu verlieren. Algerien und auch Libyen stehen dank grossen Öl- und Erdgasvorkommen wirtschaftlich besser da, dafür ist die politische Lage schwierig. Sehr viele junge Menschen in allen Maghrebstaaten sehen keine Perspektive mehr.

Ausser Europa.

Richtig, und die Handyfotos, von denen wir vorher gesprochen haben, üben eine riesige Wirkung aus. Sie vermitteln Aufbruchstimmung und motivieren andere Männer, ihr Land zu verlassen. Die jungen Männer sehen Bilder ihrer Freunde, Cousins und Bekannten, die voller Zuversicht auf dem Weg nach Europa sind. Sie sehen Bilder aus Frankreich, Deutschland oder der Schweiz. Für die Leute aus diesen Ländern sind das Traumdestinationen mit vielen Konsumgütern und Freiheiten.

Das Smartphone und die sozialen Netzwerke werden so zum Treiber der irregulären Migration.

Genau. Und wie es bei Handybildern und Instagram-Posts üblich ist, werden die negativen Aspekte völlig ausgeblendet. Es handelt sich um Selbstinszenierungen, die mit der Realität wenig zu tun haben. Dennoch vergrössern diese Bilder die Diskrepanz zwischen einem Leben voller Einschränkungen in der Heimat und dem scheinbar ungehinderten Zugang zur europäischen Konsumwelt. Diese Kluft ist riesig und erzeugt einen enormen Leidensdruck. Wer irgendwie kann, nimmt das Risiko auf sich. Oft werden junge Männer und immer mehr auch Minderjährige von ihren Familien dazu ermutigt, weil diese damit rechnen, dass ihre Söhne Geld in die Heimat senden.

In welchen sozialen Verhältnissen leben die jungen Leute, die unbedingt emigrieren wollen?

Viele kommen aus armen und vernachlässigten Regionen. Oft haben sie die Schule abgebrochen, und sie kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen. Manche sind schon in ihrer Heimat in Kontakt mit Drogen oder haben Erfahrungen mit Medikamentenmissbrauch. Auch Kleinkriminalität ist keine Seltenheit.

Weshalb ist den Menschen in diesen Ländern nicht bewusst, dass sie kaum Chancen auf ein Bleiberecht in Europa haben?

Es ist gar nicht so klar, dass sie nicht bleiben können – jedenfalls war es das lange nicht. Bis vor kurzem konnten irreguläre Migranten auch ohne Asyl in Europa bleiben und sich irgendwie durchschlagen. Ich habe viele Leute getroffen, die es aus dem Maghreb nach Italien und von dort in eine Banlieue in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden geschafft haben. Dort gibt es Cousins, Onkel oder Freunde, die ihnen dabei helfen, Fuss zu fassen. So kämpfen sich diese Leute mit Schwarzarbeit durch oder halten sich mit Diebstählen oder Drogengeschäften über Wasser. Auf diese Weise ist es gut möglich, zwei oder drei Jahre durchzuhalten. Und wem es gelingt, in dieser Zeit eine Frau aus dem Maghreb mit europäischem Pass zu heiraten, hat es geschafft. Allerdings sind solche Geschichten seltener geworden.

Warum?

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der grossen Zahl der Schutzsuchenden ist der Druck auf die Regierungen massiv angestiegen, etwas gegen die irreguläre Migration zu tun. In Italien sieht man das deutlich. Gleichzeitig verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage in Europa, was es schwieriger macht, hier Geld zu verdienen. Die Stimmung hat sich verändert, und das realisieren die Migranten.

Weshalb geht der Migrationsdruck trotzdem nicht zurück?

Weil der subjektive Leidensdruck einfach immer noch zu gross ist. Das Risiko, es in Europa zu versuchen, lohnt sich aus Sicht der Betroffenen weiterhin, auch wenn die Chance auf eine Aufenthaltsbewilligung und ein westliches Leben vielleicht nur noch eins zu hundert beträgt. Es ist auch ein gewisser Fatalismus feststellbar: Vor allem in Tunesien versuchen junge Migranten, «Harraga» genannt, um jeden Preis aus ihrem Land wegzukommen. Und wenn es schlecht ausgeht, ist es vielleicht gottgewollt.

Aus den Maghrebstaaten kommen besonders viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA). Was sind die Gründe?

Viele Menschen aus dem Maghreb sind sehr gut über die Lage in Europa informiert. Sie wissen, wie sie vorgehen müssen: welche Länder gerade streng sind oder mit welchen Tricks man etwas erreichen kann. Es gibt viele geschlossene Facebook-Gruppen, in denen dazu Empfehlungen herumgeboten werden. Natürlich ist auch bekannt, dass Minderjährige besonders gute Aussichten haben. Sie werden in Europa besser behandelt, sie erhalten eher eine Ausbildung, und sie können länger bleiben. Auf manche Familien lastet deshalb der Druck, den 15-jährigen Sohn nach Europa zu schicken – auch wenn es unendlich hart ist.

Und was bedeutet das für die Kinder und Jugendlichen?

In Italien kommen sie in der Regel zunächst in eine Einrichtung für Minderjährige. Viele wollen aber weiterziehen, nach Frankreich, Deutschland oder in die Schweiz, eben dorthin, wo sich die Verwandten befinden. Unterwegs landen sie auf der Strasse, übernachten irgendwo. Falls sie nicht schon in ihrer Heimat mit Drogen in Kontakt gekommen sind, ist es jetzt so weit. Sie erleben Gewalt, auch sexuellen Missbrauch. Oft rutschen sie in die Kriminalität ab, denn sie müssen ja von etwas leben. Ich halte den Zustrom von UMA aus diesen Gründen für eine besonders problematische Entwicklung. Sie wird Europa wohl schon bald überfordern.

In welcher Hinsicht?

Eine gute Betreuung von Jugendlichen, die einen ganz anderen kulturellen Hintergrund haben, eine miserable Schulbildung aufweisen und derart krasse Erfahrungen hinter sich haben, ist extrem aufwendig. Hinzu kommen die sprachlichen Probleme. Der Betreuungsaufwand ist bei UMA um ein Mehrfaches grösser als bei Erwachsenen. Dafür fehlen in der Schweiz und den meisten europäischen Ländern schlicht die nötigen Strukturen.

Die von Ihnen geschilderte Situation würde aber bedeuten, dass die europäischen Länder tun können, was sie wollen – die Menschen kommen so oder so.

Dieser Meinung bin ich nicht. Die Ausgangslage ist zwar schwierig, aber es gibt Wege, die irreguläre Migration einzudämmen. So zeigt sich zum Beispiel, dass die Ausreisen aus Tunesien und Libyen via die Mittelmeerroute derzeit stark zurückgehen. Dies wegen der Abkommen, die Italien mit den beiden Ländern geschlossen hat: Diese Staaten unternehmen alles, um Migration nach Europa zu verhindern – und werden im Gegenzug von Italien, aber auch von der EU finanziell und anderweitig unterstützt.

Der Deal wird heftig kritisiert: Tunesien und Libyen würden selber massive Menschenrechtsverletzungen begehen, um das Ziel zu erreichen.

In Libyen emigrieren sehr wenig junge Einheimische, doch es gibt mindestens 700 000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara, die dort arbeiten oder auf dem Weg nach Europa sind. Tatsächlich kommt es in Libyen seit Jahren zu schweren Menschenrechtsverletzungen vor allem gegenüber Transitmigranten.

Und in Tunesien?

Dort sieht die Lage anders aus. Junge Tunesier, die an der Ausreise gehindert oder auf dem Meer abgefangen oder gerettet werden, haben nichts zu befürchten. Schwierig ist die Lage aber auch dort für die Transitflüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara. Sie sind mittellos und vegetieren unter prekären Bedingungen in improvisierten Camps. Bereits mehrfach hat die tunesische Regierung solche Menschen an den Grenzen zu Libyen und Algerien ausgesetzt.

Dann ist die Kritik also berechtigt?

Ja. Die EU steht in der moralischen Verantwortung, sich um diese Menschen zu kümmern. Sie muss Aufnahmezentren finanzieren, in denen diese Flüchtlinge korrekt untergebracht werden. Für besonders verletzliche Personen ist ein Resettlement in einen EU-Staat oder in die Schweiz ins Auge zu fassen. Aber das Vorgehen Italiens zeigt dennoch, dass die europäischen Länder dem Migrationsdruck etwas entgegensetzen können.

Kann es die Lösung sein, die Eindämmung von Fluchtmigration an die Maghrebstaaten zu delegieren, um in Europa ein Problem loszuwerden?

So zynisch es klingt: Ich glaube, Europa hat gar keine andere Wahl. Wir müssen Abkommen auch mit autokratischen Regimen abschliessen, um die Ausreise irregulärer Migranten zu unterbinden und die Weiterreise von Transitflüchtlingen zu verhindern beziehungsweise einzudämmen. Diese Staaten sind de facto ein Schutzwall für Europa, auch hinsichtlich jihadistischer Gruppen in der Sahelregion. Wenn diese Eindämmung nicht gelingt, werden noch viel mehr Menschen kommen. Man darf nicht vergessen, dass die Situation in der zweiten Reihe – in Mali, Niger, dem Sudan – noch viel dramatischer ist. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass sich in Ägypten schon heute sechs bis neun Millionen dieser Transitflüchtlinge befinden. Zudem leben in Libanon bekanntlich rund eineinhalb Millionen Syrer. Sobald es eine Chance gibt, es nach Europa zu schaffen, wird dies ein Teil versuchen.

Auch Ägypten gehört zu den Mittelmeerstaaten. Weshalb erscheinen fast keine Leute von dort in der Asylstatistik?

Ägypten ist ein Sorgenkind, weil dort die Armut deutlich grösser ist als etwa in Tunesien oder Marokko. Doch weil das Regime die Ausreise via ägyptische Küste verhindert, bleibt Europa bis jetzt weitgehend verschont. Es gibt allerdings immer mehr Ägypter, die via Libyen nach Italien gehen. Die Ägypter sind in Italien bereits die zweit- oder drittwichtigste Flüchtlingsgruppe.

Die europäischen Länder versuchen bereits – mit Abkommen mit den Ländern im Maghreb, mit Ägypten und Libanon – dafür zu sorgen, dass von dort weniger Menschen nach Europa kommen. Doch das klappt nicht richtig. Weshalb?

Es funktioniert teilweise schon. Wenn Mittelmeeranrainerstaaten gar nichts unternehmen würden, hätten wir noch sehr viel mehr Asylbewerber und irreguläre Migranten in Europa. Dies gilt für alle diese Staaten. Aber es stimmt: Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit europäischen Ländern ist begrenzt.

Was können die Schweiz und andere Länder anbieten?

Am wichtigsten wäre die Öffnung von legalen Migrationswegen. Alle Mittelmeeranrainerstaaten leiden unter einer hohen Arbeitslosigkeit und haben ein Interesse daran, dass ihre jungen Bürgerinnen und Bürger legal in Europa arbeiten können. Und Europa hat umgekehrt ein Interesse an Fachkräften. Ebenso wichtig wären in all diesen Staaten aber private Investitionen, damit junge Menschen nach ihrer Ausbildung eine Arbeit finden und in ihren Ländern bleiben können. Denn realistischerweise wird Europa nur eine kleine Minderheit der Ausreisewilligen aufnehmen können.

Aber ist es richtig, tunesische Ärzte und Ärztinnen in die Schweiz zu holen, die dann dort fehlen?

Natürlich darf man nicht die Personen holen, die in ihrer Heimat am meisten gebraucht werden. Alle diese Staaten leiden unter der Abwanderung der am besten ausgebildeten Personen. Sie werfen Europa vor, diese Leute regelrecht abzuwerben. Es gibt aber Berufsgruppen – etwa Handwerker, IT-Fachleute und Pflegepersonal –, die recht gut ausgebildet sind und deren Rekrutierung kein Problem darstellt. Wichtig ist, dass man mit den betreffenden Staaten auf Augenhöhe verhandelt und gemeinsame Interessen auslotet. Heute fühlen sich viele dieser Länder von Europa paternalistisch behandelt. Deshalb müssen wir ihre Bedürfnisse besser verstehen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie ausser den erwähnten Kontingenten für die legale Einreise?

Im Bereich der Ausbildung und besonders der Berufsbildung könnte Europa viel tun. Es könnte die Länder dabei unterstützen, Kinder und Jugendliche von der Strasse zu holen und ihnen damit eine Perspektive im eigenen Land zu bieten. Das wäre viel einfacher und effizienter als dieselben Jugendlichen später als UMA in der Schweiz zu integrieren.

Es gibt auch die Idee, Asylverfahren nach Rwanda oder in andere Länder auszulagern, um Menschen davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. Was halten Sie davon?

Ich bin skeptisch, ob solche Drittstaatenmodelle wirklich funktionieren. Sie weisen alle extrem hohe politische, rechtliche und praktische Hürden auf. Sehr viel wichtiger wäre es, die im Rahmen des neuen europäischen Asyl- und Migrationspakts (Geas) vorgesehenen Aufnahmezentren für Menschen mit geringen Chancen auf Asyl an den EU-Aussengrenzen so rasch als möglich zu realisieren und zu testen, ob das Ganze überhaupt funktioniert. Zudem ergibt es Sinn, mit weiteren Herkunftsstaaten Verhandlungen über Rückübernahmeabkommen zu führen.

Sie pflegen auch in der Schweiz Kontakt mit Asylbewerbern aus dem Maghreb. Wie leben diese hier?

Die meisten wissen, dass sie hier keine Chance auf ein Bleiberecht haben. Sie versuchen sich durchzuschlagen und so lange wie möglich zu profitieren. Sie tauchen vielleicht unter, reisen in Europa kreuz und quer umher und lassen sich dort nieder, wo sie Leute kennen oder im informellen Sektor Geld verdienen können. Irgendwann stellen sie vielleicht ein Asylgesuch. Bis der definitive Entscheid erfolgt, vergehen weitere Wochen oder Monate. Und das bedeutet noch lange nicht das Ende des Aufenthaltes in Europa.

Weshalb nicht?

Um die Rückführung in die Wege leiten zu können, müssen die Behörden Reisepapiere beschaffen, und das dauert extrem lange, in der Schweiz mehr als ein Jahr. Die Asylsuchenden haben keinerlei Interesse an einer Mitwirkung, die allermeisten lassen ihre Papier schon auf der Reise nach Europa verschwinden. Denn sie wissen, dass sie, solange sie keine Papiere haben, nicht zurückgeschafft werden können. Und die Behörden in der Schweiz wissen nie, mit wem sie es zu tun haben. Es gibt Personen, die mit zahlreichen Identitäten unterwegs sind – mit allen Folgeproblemen.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie nur die Kriminalität. Bei den abgewiesenen Asylbewerbern aus Algerien betrug die Kriminalitätsrate letztes Jahr gemäss polizeilicher Kriminalstatistik rund 90 Prozent. In welchen Ländern diese Personen auch schon straffällig geworden sind, ist längst nicht immer bekannt. Und oft ist das Unrechtsbewusstsein sehr gering. Es dominiert stattdessen eine Mischung aus Wut, Rachegefühl und Verzweiflung. Die Leute sagen sich, wir holen uns, was man uns nicht geben will oder was man uns in der Kolonialzeit gestohlen hat. Das höre ich oft.

Tatsache ist, dass die Behörden dagegen wenig ausrichten können.

Ja, und ich finde das schwer erträglich. Viele in der Schweiz regt das auf, und ich kann es verstehen. Es kann doch nicht sein, dass der Staat gegenüber Personen, die sich respektlos verhalten und serienmässig Delikte begehen, machtlos ist, nachdem man ihnen ein Asylverfahren gewährt hat und sie monatelang untergebracht oder sogar medizinisch versorgt hat!

Was schlagen Sie vor?

Am wichtigsten scheint mir die rasche Identifikation der Asylsuchenden. Es braucht hier eine echte Mitwirkungspflicht: Wer keine Papiere vorlegt, soll innert Wochenfrist via Handy Bilder von Papieren beschaffen müssen. Zum Beispiel einen Fahrausweis, eine Geburtsurkunde oder ein anderes offizielles Dokument. Das ist leicht möglich und würde es erlauben, wenigstens die Herkunft und die genaue Schreibweise des Namens zu kennen. So aber bleibt es ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel. Da gibt es die unglaublichsten Geschichten.

Erzählen Sie!

Ich habe den Fall eines jungen Marokkaners recherchiert, der als Minderjähriger während mehrerer Jahre in der Schweiz lebte. Schliesslich fand er eine Freundin und wollte heiraten. Doch dafür brauchte er Papiere, die er nun plötzlich problemlos auftreiben konnte. Erst jetzt realisierten die Behörden, dass sich der Mann jahrelang mit falschem Namen, falscher Herkunftsangabe und falschem Alter in der Schweiz aufgehalten hatte. Aber niemand konnte den Schwindel aufdecken.

Darauf hat die Schweiz allerdings reagiert: Ab kommendem Jahr können die Behörden auf das Handy von Asylbewerbern zugreifen, wenn diese sich nicht kooperativ verhalten.

Das ist ein Fortschritt, aber meines Erachtens braucht es eine Pflicht, Kopien oder Bilder von Ausweisen zu beschaffen. So könnte der Bund auch Druck auf die Herkunftsländer ausüben: Er könnte den betreffenden Ländern eine Liste mit den Personalien aller abgewiesenen Asylbewerber aushändigen und darauf bestehen, dass sie diese zurücknehmen. Dass dies bis heute nicht möglich ist, zeigt meines Erachtens, dass die Schweiz das Problem der irregulären Migration noch immer unterschätzt.

*Beat Stauffer: Die Sackgasse der irregulären Migration. Warum eine Neuausrichtung der europäischen Politik dringend nötig ist. 2025 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, 206 Seiten.

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