Montag, September 30

Ein deutscher Ingenieur wird ohne Grund zum gewerbsmässigen Betrüger. Er hat Glück, dass er die Schweiz nicht verlassen muss.

Er habe das Geld eigentlich gar nicht nötig gehabt, sagt der 34-jährige verheiratete Familienvater im Saal des Bezirksgerichts Dietikon. Als Ingenieur verdiene er 120 000 Franken im Jahr. Im Nachhinein könne er sich selber nicht erklären, warum er seine Versicherung betrogen habe – immer und immer wieder. «Gute Frage», sagt der Beschuldigte.

Erstaunlich sind an diesem Fall die Häufigkeit der Taten und der offenbar vorhandene Glauben, nicht erwischt zu werden. Zwischen Oktober 2019 und Februar 2022 beging der Beschuldigte nicht weniger als 22 Mal Versicherungsbetrug, hinzu kamen zehn Versuche.

Die ungerechtfertigten Auszahlungen beliefen sich gemäss Anklage auf insgesamt 36 105 Franken und 22 Rappen. Es ist die Summe einer Vielzahl von eher geringen Einzelbeträgen.

Ein Mobiltelefon sei vom Skilift gefallen, gab der Beschuldigte an; ein Mobiltelefon sei im Tram gestohlen worden, ein Mobiltelefon sei in den Blausee gefallen, ein Mobiltelefon sei in die Limmat gefallen. Eine Cola sei über einen Laptop verschüttet worden, eine Apple-Watch sei bei einer Wandertour in eine Schlucht gefallen, eine Apple-Watch sei bei einem Ballonausflug beschädigt worden.

Zum Teil delinquierte der 34-Jährige allein, zum Teil mit Komplizen. Für die Schadensmeldungen fälschte er Lieferscheine, Rechnungen und Auftragsbestätigungen für angebliche Datensicherungen. Und er erstattete mehrfach Strafanzeigen bei der Polizei zu angeblichen Diebstählen.

Am Anfang sei er erstaunt gewesen, wie leicht es gewesen sei, wie gut es funktioniert habe, erklärt der Beschuldigte vor Gericht – und dann habe er einfach weitergemacht. «Ich weiss nicht, was mich da geritten hat.» Ob es aus Vergnügen gewesen sei, will der Gerichtsvorsitzende wissen. Vergnügen sei das falsche Wort, entgegnet der Beschuldigte, er finde das richtige Wort dafür nicht. «Eher aus Neugier.»

In einem zweiten Anklagekomplex geht es um die Fälschung von 53 Covid-19-Tests zwischen Dezember 2020 und Januar 2022 für sich selber oder Bekannte. In den Tests wurden wahrheitswidrig negative Covid-19-Testergebnisse attestiert, obschon der Beschuldigte wusste, dass die Personen gar nicht getestet worden waren. Als angebliche Aussteller der Test-Ausweise wurden die Zürcher Stadtspitäler Triemli und Waid und verschiedene Labors angegeben.

Es sei ihm darum gegangen, nicht eingeschränkt zu sein, zum Beispiel beim Restaurantbesuch, erklärt der Mann im Gerichtssaal. Er begreife heute nicht mehr, was er da gemacht habe. Es tue ihm leid, und es belaste ihn sehr.

Ein Landesverweis wäre eigentlich zwingend

Der 34-jährige Deutsche, der nicht vorbestraft war, ist geständig. Er hat den Schaden inzwischen vollumfänglich zurückbezahlt. Sein Verteidiger einigte sich mit dem Staatsanwalt auf ein abgekürztes Verfahren.

Der Beschuldigte akzeptiert den Urteilsvorschlag, eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten bei einer Probezeit von 2 Jahren – wegen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher Irreführung der Rechtspflege sowie mehrfacher Fälschung von Ausweisen (Covid-Tests).

Gewerbsmässiger Betrug ist aber eigentlich eine sogenannte «Katalogtat», für die zwingend ein obligatorischer Landesverweis ausgesprochen werden müsste. Dennoch hat der Staatsanwalt explizit auf einen entsprechenden Antrag verzichtet.

Der Gerichtsvorsitzende stellt auffallend viele Fragen zu diesem Thema. Wie gut ist der Beschuldigte, der seit 2014 in der Schweiz lebt, integriert? Was würde eine Wegweisung aus der Schweiz für ihn bedeuten? – «Es würde mein ganzes Leben auf den Kopf stellen», erklärt der Ingenieur, ihn komplett aus der Bahn werfen. «Ich müsste halt wieder von vorne beginnen.»

Weil er Deutscher ist, darf er bleiben

Für ein abgekürztes Verfahren, bei dem es nur den Urteilsvorschlag gutzuheissen gilt, dauert die Beratung des Gerichts auffallend lange; fast eineinhalb Stunden. Das Bezirksgericht Dietikon erhebt den Vorschlag dann aber doch zum Urteil. Der vorsitzende Richter hält allerdings fest: «Mit 15 Monaten sind sie wirklich sehr gut weggekommen!»

Die Gewerbsmässigkeit des Betrugs sei klar erfüllt. Der Beschuldigte habe «quasi als Sport» delinquiert. Er sei organisiert und planmässig vorgegangen. Er habe ausgenutzt, dass die Versicherungen bei solch kleinen Beträgen keine Abklärungen träfen, weil die Kosten dafür höher als die Auszahlungsbeträge wären.

Eigentlich wäre es ein klarer Fall für einen Landesverweis, hält der Richter fest. Ein Härtefall sei der Ingenieur jedenfalls nicht. Es gebe einen einzigen Grund, warum das Gericht auf einen Landesverweis verzichten müsse: weil der Beschuldigte deutscher Staatsangehöriger sei.

Im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens funktioniere der Automatismus mit den Katalogtaten nicht. Der Beschuldigte könne als Deutscher nur bei einer schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung des Landes verwiesen werden. Und das sei bei ihm nicht der Fall. Die Rechtsprechung dazu sei sehr streng.

Urteil DH240015 vom 26. 8. 2024, abgekürztes Verfahren.

Exit mobile version