Mittwoch, Januar 15

Der 100-Meter-Final am Sonntag in Paris ist nicht nur ein Kampf um Medaillen, sondern auch ein Ausloten der Limiten. Die Wissenschaft glaubt, dass ein Leistungsplafond erreicht ist. Doch es gibt noch ganz verrückte Möglichkeiten.

Wenn sich am Sonntag die besten Sprinter der Welt in die Startblocks falten, steht über der Frage nach dem Sieger jene nach der Zeit: Wird es einen Weltrekord geben? Die Wahrscheinlichkeit ist klein. Usain Bolts 9,58 sind seit fünfzehn Jahren unangetastet, kein Mensch der Welt ist ihm auch nur bis auf eine Zehntelsekunde nahegekommen.

Noah Lyles gilt als herausragender Sprinter, er könnte in Paris das schaffen, was Bolt dreimal in Folge zwischen 2008 und 2016 auf die Bahn getrommelt hat: das olympische Double über 100 und 200 Meter. Lyles ist auch ein Mann der vollmundigen Ansagen. Doch wenn es um die 100 Meter geht, bleibt er zurückhaltend. Bei 9,81 liegt sein persönlicher Rekord, 9,65 traut er sich zu.

Geht es überhaupt schneller, als Bolt lief? Mit dieser Frage beschäftigt sich auch die Wissenschaft. Und es sieht ganz so aus, als komme der Mensch allmählich an seine Grenzen. Das gilt nicht nur für sportliche Leistungen, sondern ganz allgemein. Ein französisches Forscherteam um Jean-François Toussaint veröffentlichte 2017 eine Studie, die zu einem ernüchternden Fazit kommt.

Alter, Grösse, Sport – der Mensch stagniert

Der Mensch wird nicht mehr älter: Die Französin Jeanne Calment, die 1997 im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen starb, ist unübertroffen. Zwar nimmt die Zahl der 100-Jährigen weltweit zu, doch scheint der Plafond irgendwo in der Nähe von Calments Rekord zu liegen. Gleiches gilt für die Körpergrösse. Die Niederländer halten die Bestleistung mit einem Durchschnitt von 1,82 Metern bei den Männern. Doch sie stagnieren seit zwanzig Jahren auf diesem Niveau.

Im 20. Jahrhundert hatten vor allem Fortschritte in der Medizin und in der Ernährung dazu geführt, dass die Menschen in die Höhe schossen und länger lebten. Nun beginnen sich laut der Studie negative Einflüsse bemerkbar zu machen: Klimaerwärmung, Abwärtstrend bei der biologischen Vielfalt, Verknappung der Ressourcen.

Die Forscher folgern daraus, dass es biologische Grenzen gibt und wir diese annähernd erreicht haben. Sie haben sich auch über die Statistiken der Leichtathletik gebeugt und dort ebenfalls eine Stagnation festgestellt. 1912 wurde erstmals ein Weltrekord über 100 Meter homologiert. Der Amerikaner Donald Lippincott siegte an den Olympischen Spielen in Stockholm in 10,6 Sekunden.

2009, also fast hundert Jahre später, war Bolt bei 9,58 angelangt. Eine Sekunde in hundert Jahren? Das ist keine bombastische Steigerung, zumal wenn man bedenkt, dass Lippincot im Vergleich mit Bolt gewaltige Nachteile hatte. Er lief auf einer Aschenbahn, und weil es noch keine Startblöcke gab, musste er mit einem Schäufelchen kleine Vertiefungen in den Belag graben. Seine Spikes waren keine Wunderwerke moderner Technologie, und er konnte sich im Training auch nicht auf wissenschaftliche Methoden abstützen.

Das wirft die Frage auf, ob der Mensch überhaupt besser geworden ist oder ob es einfach die Umstände sind, die zu Verbesserungen führen. 1912 waren die besten Leichtathleten noch Studentensportler aus wenigen Ländern dieser Welt. Heute ist gerade der Sprint globalisiert, auf jeder kleinen Insel kann man 100 Meter weit rennen. Die Allerbesten sind Profis, ihre Trainer erfassen mit Highspeed-Kameras und Druckmessplatten jedes kleine Detail der Bewegung; Schlaf, Ernährung und mentale Bereitschaft werden optimiert.

Das hat sich vor allem in der Breite ausgewirkt. Zur Zeit von Lippincott gab es eine Handvoll Weltklassesprinter, in diesem Jahr blieben 32 Männer unter der magischen Grenze von 10 Sekunden, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Bei den Frauen erreichten dieses Jahr 26 Athletinnen eine Zeit unter 11 Sekunden, 2014 waren es noch 6.

Wenn also der Mensch nicht unbedingt besser wird, so steigt immerhin die Anzahl von Athletinnen und Athleten, die mit immer besseren Methoden trainieren, um die Grenzen doch noch zu verschieben. Die französischen Forscher, die für den Menschen als solchen kaum noch Potenzial sehen, sind deshalb im Sport immerhin verhalten optimistisch. Sie sehen in der Leichtathletik noch ein Verbesserungspotenzial von rund 0,5 Prozent. Das entspricht im 100-Meter-Lauf der Männer knapp fünf Hundertstelsekunden.

Wenn man von den absoluten Leistungsgrenzen von Menschen spricht, geht es in der Regel um Männer. Das hängt damit zusammen, dass sie einen biologischen Vorteil haben. Vergleicht man die Rekorde, so sind Männer durchschnittlich um rund 10 Prozent besser als Frauen. Das wird vor allem mit dem Sexualhormon Testosteron erklärt, von dem männliche Körper deutlich mehr produzieren als weibliche.

Der schnellste Mensch der Welt wird also immer ein Mann sein. Doch wie steht es mit der Ausdauerfähigkeit? Es gibt Theorien, die besagen, dass Frauen mit zunehmender Distanz aufholen und die Männer irgendwann sogar abhängen. Dafür könnte sprechen, dass bei ihnen der Fettstoffwechsel besser funktioniert, der bei sehr langen Belastungen entscheidend ist. Die Schweizerin Isa Pulver hat zum Beispiel im Race Across America, bei dem mit dem Velo fast 5000 Kilometer zurückgelegt werden, 2023 sämtliche Männer besiegt.

Ob das ein wissenschaftlicher Beweis für die bessere Ausdauerfähigkeit der Frauen ist, bleibt allerdings fraglich. Denn die Zahl der Leute, die so extreme Wettkämpfe absolvieren, ist sehr klein. Nimmt man die Ironman-Distanz im Triathlon, die weltweit jährlich von Zehntausenden absolviert wird, so beträgt der Unterschied beim Weltrekord immer noch 9 Prozent zugunsten der Männer.

Was ein Windhund über den Menschen aussagt

Wo aber liegen die Grenzen dieser testosterongestählten Wettkampfmaschinen? Der amerikanische Biologe Mark Denny hat sich auf der Suche nach der Antwort auf diese Frage zuerst einmal mit Rennpferden und Windhunden befasst. Die Tiere werden seit Jahrhunderten gezielt gezüchtet, die besten Gene werden zusammengeführt, um die Schnellsten hervorzubringen. Auch Trainingsmethoden und Futter wurden gezielt auf Leistung optimiert.

Das Ergebnis ist ernüchternd: Denny weist in seiner 2008 publizierten Studie nach, dass Pferde und Hunde schon seit vierzig bis sechzig Jahren stagnieren. Ihr Potenzial scheint ausgereizt. Denny führt sogar an, dass die Zucht irgendwann fragilere Tiere hervorbringt, was zu einem Abwärtstrend führen könnte. Menschen werden nicht gezüchtet, die natürliche Selektion verläuft weniger gezielt. Das ist mit ein Grund, weshalb Denny bei ihnen noch Luft nach oben sieht.

Der Forscher hat bei Läuferinnen und Läufern die gleichen mathematischen Modelle angewandt wie bei den Pferden und Hunden. Dabei stellte er fest, dass je nach Distanz noch Steigerungen möglich sind. Bolt war zum Zeitpunkt der Studie den heute gültigen Rekord noch nicht gelaufen, Denny sagt voraus, dass auch dieser noch nicht das Maximum ist: 9,48 sollten möglich sein.

Interessanter ist hier jedoch ein Blick auf die langen Distanzen. Für den Marathon der Männer sah Denny die Grenze bei 2:00:28, und den Frauen traute er maximal 2:14:58 zu. Schauen wir in die Rekordliste von World Athletics: Kelvin Kiptum lief 2023 bis auf sieben Sekunden ans Limit, im gleichen Jahr war Tigst Assefa bei den Frauen mit 2:11:53 sogar drei Minuten schneller, als es eigentlich möglich sein sollte.

Das zeigt, dass mathematische Modelle immer nur so gut sind wie die Zahlen, auf denen sie basieren. Rennpferde und Windhunde laufen seit Jahrzehnten mit unveränderten Voraussetzungen. In der Leichtathletik aber wird das Material ständig verbessert.

Hätte Denny ein hypothetisches Maximum für den Stabhochsprung errechnet und dabei nur Daten aus der Zeit verwendet, als die Sportler noch Bambusstäbe verwendeten, wäre er nie und nimmer darauf gekommen, dass Armand Duplantis mit einem Stab aus glasfaserverstärktem Kunststoff irgendwann 6,24 Meter hoch fliegen würde. Der letzte Weltrekord mit dem Bambusstab lag bei 4,77 Metern.

An diesem Punkt ist es interessant, auf eine Sportart zu schauen, die Denny in seiner Studie nicht thematisiert. Im Gegensatz zu den Leichtathleten liefern nämlich die Schwimmer immer noch regelmässig Rekorde ab, die Entwicklung scheint ungebremst. In Paris überraschte der Chinese Pan Zhanle, als er die Bestmarke über 100 Meter Freistil auf 46,40 verbesserte. Solche Leistungen sind umso erstaunlicher, als hier eine technologische Revolution zurückgenommen wurde. Kurz nach der Jahrtausendwende waren Ganzkörperanzüge eingeführt und in der Folge ständig perfektioniert worden.

Für die Oberfläche wurde schliesslich Polyurethan verwendet, was die Gleitfähigkeit massiv erhöhte und die Weltrekorde in vermeintlich ausserirdische Dimensionen verschob. Seit 2010 sind diese Anzüge verboten, und doch stammen nur noch sechs von siebzehn Bestzeiten aus der Plastik-Ära.

Der Amerikaner Russell Mark gilt als bester Schwimmexperte der Welt. Er sagt, dass man seinen Sport erst noch richtig begreifen müsse. Der Mensch ist ein Landtier und rennt schon seit anderthalb Millionen Jahren. Schwimmen ist für ihn weit weniger natürlich, und als Wettkampfsport entwickelte es sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts. «Wir versuchen immer noch herauszufinden, wie wir uns im Wasser am effizientesten bewegen», sagt Mark.

Im Laufsport haben sogenannte Superschuhe eine ähnlich spektakuläre Entwicklung ausgelöst wie die Plastikanzüge im Schwimmen. Nike brachte das erste Modell für den Marathon heraus, das eine dicke Sohle aus reaktivem Schaumstoff mit einer Carbonplatte kombinierte. Später wurde die gleiche Technologie auf Bahnspikes übertragen. Seither purzeln Rekorde, die teilweise als unantastbar gegolten hatten. Über 10 000 Meter blieb Joshua Cheptegei 6,5 Sekunden unter dem alten Rekord; bei den Frauen beträgt die Differenz zwischen der Bestzeit mit herkömmlichen und jener mit modernen Spikes sogar 23 Sekunden.

Die Veränderung bei den Frauen ist deshalb besonders spektakulär, weil diese besonders im Langstreckenlauf weiter vom Plafond entfernt sind als die Männer. Der Marathon der Frauen wurde erst 1984 olympisch, die 10 000 Meter sogar erst 1988. Ausserdem mussten ostafrikanische Frauen lange gegen Rollenklischees kämpfen, ehe sie wie die Männer die Leichtathletik erobern konnten. Der erste Afrikaner, der im Marathon Weltrekord lief, war Abebe Bikila 1960, die erste afrikanische Frau war Tegla Loroupe 1998.

Bei den Frauen gibt es Weltrekorde, die seit rund vierzig Jahren unangetastet bleiben: 47,60 über 400 Meter von Marita Koch seit 1985 und 1:53,28 über 800 Meter von Jarmila Kratochvilova seit 1983. Man kann noch die 10,49 über 100 Meter dazunehmen, die Florence Griffith-Joyner 1988 lief. Doch die Fachwelt ist sich einig, dass damals die Windmessung nicht stimmte und die Amerikanerin von einem Orkan ins Ziel geblasen wurde. Die anderen beiden Frauen stammen aus dem Ostblock, wo in den 1980er Jahren besonders dreist gedopt wurde.

Niemand weiss, welche Rekorde mit unerlaubten Hilfsmitteln erzielt wurden, denn längst nicht alle Betrüger werden erwischt. Bei der Frage nach den absoluten Grenzen des Menschen kann man deshalb die rote Linie überschreiten und sich einfach einmal fragen, was passiert, wenn man die Sportler mit allen denkbaren Methoden optimiert. Das ist auch das Prinzip der Enhanced Games, die 2025 erstmals durchgeführt werden sollen.

EPO-Mäuse zeigen, was vorstellbar ist

Was wäre zum Beispiel möglich, wenn man den Körper zu Leistungszwecken genetisch manipulierte? Max Gassmann führte zu Beginn dieses Jahrhunderts Experimente mit Mäusen durch, die genetisch so optimiert waren, dass ihr Körper deutlich mehr EPO produzierte. Dieses Hormon kann auch synthetisch hergestellt werden und wurde in den 1990er Jahren im Radsport quasi flächendeckend eingesetzt. Es produzierte Leistungsschübe von bis zu 10 Prozent. Gassmanns beste EPO-Mäuse waren um bis zu 30 Prozent ausdauernder als unmanipulierte Tiere. Es gibt auch Kraftmäuse, die riesige Muskeln haben, obwohl sie nie Hanteln stemmen.

John Brenkus sucht in seinem Buch «100 Meter in 8 Sekunden?» nach dem, was er als Perfektionspunkt definiert: die alleräusserste vorstellbare Grenze. Dazu hat er den Rekord von Bolt auf ideale Bedingungen umgerechnet. Wäre der Jamaicaner mit dem gerade noch zulässigen Rückenwind und auf 1000 Metern über Meer gelaufen, und hätte er so schnell auf den Startschuss reagiert, wie es gerade noch zulässig ist, so ergäben sich 9,36 Sekunden.

Um den Perfektionspunkt zu ermitteln, hat sich Brenkus mit Bassil Aish unterhalten, einem Experten für Sportmedizin und Laufforschung. Dieser geht davon aus, dass Bolt zwar überragend, aber bei weitem nicht perfekt war. «Ein Sprinter mit idealen Proportionen könnte derart hoch beschleunigen und seine Geschwindigkeit so lange halten, dass er die 100 Meter um 3,7 Prozent schneller schaffen würde als Bolt», sagt Aish. Die Evolution könnte irgendwann einen solchen Menschen hervorbringen. Oder er könnte im Reagenzglas geschaffen werden.

Rechnet man die 3,7 Prozent Steigerung auf Bolts bei idealen Bedingungen mögliche 9,36 um, so ergibt sich ein äusserstes Limit von 9,01 Sekunden. Aber weil Brenkus ein Buchautor ist, argumentiert er, dass so nahe an der Schallmauer noch ein mentales Momentum hinzukommt. Deshalb legt er den Perfektionspunkt auf 8,99 Sekunden.

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