Donnerstag, Oktober 3

In ihrem bewegenden Roman demontiert die Berliner Schriftstellerin Ulrike Edschmid die moralische Überheblichkeit des linken Milieus der siebziger Jahre.

Was ist ein Trauma? In ihrem vor elf Jahren erschienenen Roman «Das Verschwinden des Philip S.» hat Ulrike Edschmid über den Tod ihres früheren Lebensgefährten geschrieben. 1972 war Werner Sauber bei einem Schusswechsel mit der Kölner Polizei auf einem Parkplatz ums Leben gekommen. Der aus der Schweiz stammende Filmstudent und Unternehmersohn hatte sich der «Bewegung 2. Juni» angeschlossen, einer linksterroristischen Vereinigung, die später in der RAF aufgehen sollte. Edschmids Roman war eine Spurensuche auch in eigener Sache, ein Traumaüberwindungstext, dessen klare Sprache wohl erst vierzig Jahre nach den tödlichen Ereignissen möglich war.

Niemand sonst schreibt Sätze wie Ulrike Edschmid. Der Rhythmus dieser Sätze ähnelt dem einer tickenden Uhr. Aber während sich das Erzählte in scheinbarer Objektivität unaufhaltsam voranschiebt, geraten die Wirklichkeiten aus dem Tritt. Was ist die Wahrheit? Und ist die Sprache nicht genau dort ein Verschleierungsinstrument, wo sie besonders nüchtern daherkommt?

Ulrike Edschmid, mittlerweile vierundachtzig Jahre alt, hat jetzt wieder einen Roman geschrieben, dessen enorme Brillanz in der Verknappung liegt. In «Die letzte Patientin» verwaltet eine Ich-Erzählerin die Lebensdokumente einer an Krebs verstorbenen Freundin. Es gibt neben Briefen, die sie auf Reisen geschrieben hat, auch noch Tonbänder, die sie in ihren letzten Lebensjahren neben ihrer Arbeit als Psychotherapeutin in Barcelona aufgenommen hat. Selbst schon schwer krank, berichtet sie darauf von ihrer allerletzten Patientin. Der Fall des jungen Mädchens ist erschütternd. Mit ihm gerät auch alles ins Wanken, was es an mühsam ins Alter geretteter linker Restheimeligkeit bei der Therapeutin noch gegeben hat.

Odyssee einer ruhelosen Frau

Edschmids Roman zerfällt in zwei Teile, wobei der eine wie eine Folie hinter dem anderen wirkt. Der erste ist eine Art psychologisch-generationelles Vorspiel, in dem aus der Lebensgeschichte der krebskranken Freundin erzählt wird. Im zweiten geht es um die Geschichte der jungen Klientin, die eines Tages die Praxis in einer Reihenhaussiedlung in Barcelona betritt. Das Reden steht in diesem Roman gegen einen Verlust der Sprache. Briefe und Tonbänder aus vierzig Jahren Verbundenheit liefern einen überquellenden Auskunftsbestand, während die nur N. genannte 16-Jährige für das, was ihr widerfahren ist, keine Worte hat.

Die Ich-Erzählerin und ihre Freundin haben sich 1973 in einer Frankfurter Wohngemeinschaft kennengelernt. Dort war die Freundin als gebürtige Luxemburgerin durch ihre auf und ab schwingende Sprachmelodie aufgefallen. Und auch noch durch anderes: «Wenn sie mit Zigarette, Kaffee und ‹Le Monde› am Küchentisch sass, umgab sie ein lasziver Lebensüberdruss, wie man ihn aus den Filmen der Nouvelle Vague kennt.»

An Stellen wie diesen wird Ulrike Edschmids Roman selbst zum Film. Mit unsentimentaler Schärfe fällt der Blick auf ein linkes Milieu, das die eigenen Verblendungszusammenhänge nicht erkennt und seine politisch naive Energie nicht nur gegen deutsche Obrigkeiten wendet, sondern sich auch als internationales Kriseninterventionsteam begreift.

Den symbolischen Kampf gegen rechte Diktatoren nimmt Edschmids Heldin auf, als sie mit ihrem klapprigen Renault 4 einem geliebten spanischen Anarchisten in dessen Heimat hinterherreist. Als das Land nach dem Tod General Francos auf dem Weg in die Demokratie ist, geht die Beziehung in die Brüche. Der nächste Mann im Leben der jungen Frau ist ein Guerillero aus Uruguay, der wegen der dortigen Militärherrschaft geflohen ist.

Das Gefühl der Heimatlosigkeit schlägt sich in einem wahllosen Wechsel von Beziehungen nieder und in einem Roadtrip, der nach den spanischen Abenteuern über Arizona quer durch Mittel- und Südamerika führt. Per Autostopp gelangt die sinnsuchende Freundin der Ich-Erzählerin von Land zu Land. Sie hält sich mit Sprachunterricht über Wasser oder lässt sich ein paar Tage von zufallsbekannten Männern aushalten. Zwei Mal wird sie unterwegs vergewaltigt und versucht das als Kollateralschaden ihrer unsteten Lebensform wegzustecken.

Als «Unruhe» und «Schwermut» sind ihre Zustände beschrieben. Solche innere Unbehaustheit scheint mit dem ehemaligen Zuhause zu tun zu haben. Die gefühlskalte und schweigsame luxemburgische Mutter ist insgeheim die Adressatin töchterlichen Grolls. Als Therapeutin in eigener Sache führt Edschmids Hauptfigur Rollenspiele auf, die gelungene Gespräche simulieren sollen. Davon weiss die Mutter nichts. Auch vom endlich sesshaften Leben der Tochter weiss sie wenig.

Das Rätsel Mensch

Ulrike Edschmid schreibt in kurzen, kantigen Sätzen, denen das esoterisch-räucherstäbchenhafte Linkssein ausgetrieben ist. Sie nimmt es mit dem Sagbaren ganz genau, und so handelt die Geschichte des jungen Mädchens im Roman nicht nur von einem tatsächlichen Verbrechen, sondern sie hat beinahe auch etwas Parabelhaftes. Hier muss das Sprechen erst wieder gelernt werden. Acht Jahre lang fährt die Patientin 100 Kilometer zu den Sitzungen, um dort kein einziges Wort zu sagen. Im Erschöpfungszustand ihres Traumas entstehen zarte Bindungen an die physische Erschöpfung einer Todkranken.

Die Autorin choreografiert diese Situationen ganz genau, bis sich aus dem Schweigen allmählich eine Geschichte löst und erzählt werden kann, die mit dem Vater von N. zu tun hat, aber auch mit anderen Männern. Während der Therapie kommt es noch einmal zum Drama, aber dann entsteht unter Mitwirkung der Polizei so etwas wie Rettung, etwas wie Trost. Im Sterben wird die Therapeutin schliesslich zur Patientin der jungen Frau.

Ulrike Edschmids Romane, die meist an selbsterlebten Realitäten entlanggeschrieben sind, zeigen die Menschen in Situationen existenzieller Plötzlichkeit. In einem Augenblick, von dem an alles anders ist als bisher. Man sagt über diese leider immer noch unterschätzte deutsche Autorin nichts Falsches, wenn man behauptet, dass das Rätsel Mensch hier das Politikum schlechthin ist. Der Mensch tut seinesgleichen Schlimmes an. Punktum. Aus dieser Perspektive wirken die ideologischeren Zeiten der Ulrike Edschmid, als man glaubte, mit selbstermächtigter Gewalt für Gerechtigkeit sorgen zu müssen, wie doppelt gefährliche Folklore.

Ulrike Edschmid: Die letzte Patientin. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 112 S., Fr. 33.90.

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