Es ist ein Allerweltsgefühl, doch Neugier kann in der Musik unerwartete Wirkungen haben. Welche davon am diesjährigen Lucerne Festival zu erleben sind, verrät der Intendant Michael Haefliger im Gespräch mit Christian Wildhagen.

Herr Haefliger, das Sommermotto Ihres Festivals ist ein kurioses Wort, zusammengesetzt aus den Begriffen «Neu» und «Gier». Grundsätzlich: Was verstehen Sie darunter?

Es ist tatsächlich genau das: die Gier nach Neuem. Ein oft zunächst noch kaum reflektiertes Gefühl, eine Leidenschaft. Aber schon beginnen die Fragen: Was ist überhaupt neu? Wie kreiert man Neues? Wie verändert man Dinge? Wie stellt man sie vielleicht sogar auf den Kopf? Und ist das, was man für neuartig hält, am Ende wirklich neu? In der Musik wurde diese Frage zu allen Zeiten gestellt, denken Sie nur an die wilden Diskussionen in der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg, die zum Teil sehr dogmatisch ausgetragen wurden. Aber dahinter steht eine grundsätzliche Debatte, die in allen Künsten und in vielen gesellschaftlichen Bereichen geführt wird.

Und was hat es mit dem seltsamen Bestandteil der Gier auf sich?

Das ist das Bedürfnis, nicht im Alten zu verharren, die Furcht, zu traditionell zu sein, zu routiniert. Darauf zielt dann ja oft die Kritik ab: Da passiert nichts mehr, da gibt es keine Innovationen. Sich damit auseinanderzusetzen, ist ein zentraler Bestandteil der Debatte.

Gilt der Glaube an das Neue noch uneingeschränkt? Oder gibt es inzwischen nicht auch eine immer stärkere Gegenbewegung, Altes und Bewährtes festzuhalten – weil gesellschaftlich so vieles ins Rutschen gekommen ist?

Keine Frage: Die Gesellschaft braucht eine gewisse Stabilität. Viele Menschen haben Angst davor, ihre Sicherheiten zu verlieren. Es geht dabei um soziale Aspekte, um Anstellungsverhältnisse, sogar um kulturelle Werte, die mittlerweile infrage gestellt werden. Man darf diese Sorgen nicht ignorieren. In der Musik geht es aber von jeher darum, das Erreichte weiterzuführen, manchmal auch disruptiv, jedenfalls ohne Angst vor Veränderungen.

Muss ich unbedingt neugierig sein, wenn ich an ein Konzert gehe? Kann ich mich nicht einfach unterhalten und vom Alltag ablenken lassen?

Wie man Musik rezipiert, ist jedem freigestellt. Ich persönlich kann Musik nicht einfach zum Vergnügen hören. Ich beginne fast automatisch zu beurteilen: Ist es gut, was ich da höre? Warum gefällt mir eine Interpretation? Kann man das so machen? Mich leitet dabei tatsächlich immer die Neugier.

Worauf genau?

Das kommt auf den Anlass an. Als ich mir neulich in Zürich Roman Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper «Amerika» angeschaut habe, ging es beispielsweise zuerst um das Stück selbst, das ja überhaupt erst zwei oder drei Mal aufgeführt wurde. Dann um die musikalische Umsetzung und um die Inszenierung, also die Wirkung auf der Bühne. Als ich über Ostern im Münchner «Parsifal» war, haben mich besonders die Sänger und das szenische Konzept des Malers Georg Baselitz interessiert, aber auch die Frage der Tempi, denn bei kaum einem anderen Stück gibt es zwischen der längsten und der kürzesten gültigen Interpretation eine Spannweite von 70 Minuten. Die schnellste stammt übrigens von Pierre Boulez, dem Gründer unserer Festival Academy.

Das sind allerdings Schmankerl für Profis und Eingeweihte. Was macht Sie bei Aufführungen von Sinfonien oder Konzerten, die Sie schon Dutzende Male gehört haben, weiterhin neugierig?

Wenn es weder eine Premiere noch eine Uraufführung ist, liegt der Fokus ganz klar auf der Interpretation. Ist eine Lesart eigenständig profiliert? Ist sie stimmig? Verfolgt sie vielleicht sogar einen neuartigen Ansatz? Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Wenn ein so gestandener Dirigent wie Herbert Blomstedt Bruckner dirigiert, meint man ungefähr zu wissen, was man bekommt, nämlich eine in jeder Hinsicht ausgewogene Interpretation auf höchstem Niveau. Bei solchen Künstlern bin ich neugierig, wie sie es dann im Moment des Konzerts schaffen, nochmals in eine andere Dimension vorzudringen, sodass es ein ganz grosser Abend wird.

Wie viel Vorbildung und Hörerfahrung braucht man, um diesen besonderen Reiz wahrzunehmen?

Es hilft natürlich, wenn man die Musik eines Komponisten vorher schon ein bisschen hört. Man kann auch die Vita lesen, hört sich vielleicht noch zwei, drei andere Werke an, um ein Gespür für den Stil und den Background zu bekommen. Alle diese Informationen und Werkbeispiele sind heutzutage nur einen Mausklick entfernt. Aber wenn es eine wirklich überwältigende Aufführung ist, wirkt grosse Musik auch ohne alles Vorwissen.

Wie erreichen Sie, dass das Interesse bei den Hörern nicht gleich wieder verfliegt? Neugier ist ein flüchtiges Gefühl.

Der Mensch sucht immer die Sensation. Also irgendetwas, das es so kein zweites Mal gibt. Deshalb ist man heute in der Kommunikation, gerade im Festivalbetrieb, viel mehr darauf fokussiert, zu sagen, warum ein Konzert oder eine Darbietung einzigartig ist oder werden kann. Das ist eine Herausforderung, da sich der klassische Musikbetrieb per se stark über die Vergangenheit definiert und das gängige Repertoire im Tourneebetrieb der Orchester leider arg überschaubar ist. Also überlegen wir uns immer wieder: Was ist neu und wie können wir das dem Publikum schmackhaft machen? Immer wichtiger wird dabei digitaler Content auf der Website und auf den Social-Media-Kanälen, nicht zuletzt für die Wissensvermittlung, da man heute nicht mehr voraussetzen kann, dass alle sofort wissen, warum ein Werk, eine Interpretin oder ein Programmkonzept besonders hörenswert sind.

Trotzdem füllen Sie, streng genommen, alten Wein in neue Schläuche.

In diesem Jahr eröffnen wir das Festival mit zeitgenössischer Musik, mit einem neuen Werk von Lisa Streich. Da bekommen Sie ganz frischen Wein. Mit dieser Uraufführung feiern wir zugleich das 20-jährige Bestehen der Lucerne Festival Academy. Dieses Jubiläum steht besonders im Mittelpunkt, denn die Academy ist unser Herzensanliegen. Wir können hier mit hochkarätigen Talenten die zeitgenössische Musik in einer Art und Weise pflegen und auch vorantreiben, wie das sonst nur Spezialfestivals für neue Musik können.

Weil sich das Lucerne Festival aber entscheidend über den Kartenverkauf finanziert, haben Sie immer auch viele altbekannte Werke im Programm. Was soll mich da neugierig machen?

Das war exemplarisch am Frühjahrsfestival zu erleben: Da haben zwei führende Dirigenten mit dem Lucerne Festival Orchestra Beethoven-Sinfonien aufgeführt. An sich nichts Neues, klar. Aber Riccardo Chailly und Pablo Heras-Casado haben diese Musik so unterschiedlich interpretiert, dass noch Tage danach darüber diskutiert wurde, wer denn der Bessere gewesen sei. Bei uns daheim hing deswegen beinahe der Haussegen schief, auch Sie haben ja in der NZZ mitdiskutiert. Für mich ist das der ideale Fall, wie ein Festival selbst bei Standardwerken Interesse wecken kann: indem man die Besten der Besten bittet, sich mit diesen unerschöpflichen Meisterwerken neu auseinanderzusetzen.

Sie bürden damit die Aufgabe, die Menschen immer aufs Neue für klassische Werke zu begeistern, den Interpreten auf. Heisst das, nicht nur das Publikum muss neugierig sein, sondern auch jeder einzelne Musiker, jeder Dirigent sollte sich sein Berufsleben lang die Neugier bewahren?

Das hoffe ich, ja. Neugier ist auch ein Gegenmittel gegen die Routine. In Luzern wiederholen wir deshalb beim Festivalorchester keine Programme mehr. Auch in der übrigen Agenda gleicht nie ein Konzerttag dem anderen. Als Festival müssen wir da einen exklusiveren Anspruch haben als Veranstalter von Tournee- oder Abo-Konzerten, die zwangsläufig mehrmals erklingen.

Dennoch dürften die Spitzenmusiker des Festivalorchesters selbst bei Mahlers 7. Sinfonie, mit der Sie eröffnen, nicht mehr neugierig sein auf den Notentext. Der ist teuflisch schwer, doch den haben sie eingeübt und wahrscheinlich schon mit mehreren Dirigenten gespielt. Was ermöglicht ihnen trotzdem einen frischen Zugang?

Da geht es zunächst entscheidend um die Ideen und Impulse, die der Dirigent dem Orchester vermittelt: Wie fasst der Mann oder die Frau am Pult das Werk auf? Kann ich mich damit identifizieren? Gefällt mir das? Dann geht es ebenso um das Zusammenspiel im Ensemble: Wie funktioniert es in der Gruppe, kann ich mich selbst voll einbringen und so weiter. Das ist eine andere Art von Neugier als die, die ich habe, wenn ich ein komplett neues Werk erarbeiten muss, also etwa die Uraufführung von Lisa Streich. Eine Metaform der Neugier.

Glauben Sie, das Publikum spürt, wenn Interpreten selbst neugierig sind? Ist Neugier ansteckend?

Absolut! Gerade bei Uraufführungen, wenn ein Werk erstmals öffentlich erklingt, kann man dieses Mitfiebern vor und auf der Bühne spüren. Aber auch bei Künstlern und Ensembles, die ihr Festivaldebüt im KKL geben. Oder bei Konzerten, die bereits durch die beteiligten Interpreten oder die äusseren Umstände eine besondere Aura besitzen, etwa die Aufführung einer Chorsinfonie von Mahler. Als Claudio Abbado früher noch Programme mit dem Festivalorchester mehrmals dirigiert hatte, war der Vergleich aufschlussreich: Die Konzerte waren nie gleich, die Spannung – aber auch die Anspannung – war beim ersten Abend grösser; dafür war der zweite Abend technisch fast immer noch sicherer, ohne dass man schon von Routine reden konnte. In solchen Fällen verspüren Musiker vermutlich selbst eine gewisse Neugier, wie sich ein Konzertprogramm entwickelt.

Und welche Rolle spielt sie bei Komponisten? Ich kann mir Mozart leicht als wissbegierigen, experimentierfreudigen Menschen vorstellen, Bruckner dagegen weniger. Irre ich mich?

Mozart hatte halt diese Leichtigkeit des Schreibens. In anderer Form gibt es das heute bei Wolfgang Rihm, bei dem jedes Werk eine Expedition ins Offene ist, eine Art komponierte Welterkundung. Bei Bruckner, bei Beethoven und vielen anderen spürt man mehr das Ringen mit dem Material, auch Unsicherheiten und gelegentlich Unzufriedenheit. Aber das entspringt ja immer der Suche nach dem Eigentlichen und dem Eigenen. Das ist noch eine Form von Neugier: die Suche nach sich selbst.

War der epochale Übertritt in die Atonalität, den Arnold Schönberg um 1910 fast parallel zum Aufkommen der abstrakten Malerei vollzog, ebenfalls ein Akt der Neugier?

Schönberg selbst hat es als Notwendigkeit dargestellt. Wir spielen anlässlich seines 150. Geburtstags und zum Abschluss des Sommerfestivals die «Gurre-Lieder». Die gelten eigentlich als Hauptwerk seines frühen tonalen Schaffens im Geiste der Spätromantik; die irrsinnig aufwendige Orchestrierung wurde aber erst nach dem Aufbruch ins Neue fertiggestellt. Und man hört das: wie er immer fortschrittlicher wird, sich immer weiter vorwagt. Da wird der Übergang in die Moderne organisch zelebriert.

Eine neugierige Frage zum Schluss: Sie hören Ende 2025 auf eigenen Wunsch als Intendant in Luzern auf – was darf man für Ihre letzte Saison erwarten?

Da müssen Sie sich noch etwas gedulden. Aber für mich persönlich kann ich sagen, ich verstehe die Rolle des Intendanten ein bisschen so wie die des Wanderers in Wagners «Ring»: Er ist eine Zeit dabei und dann wieder weg. Er kommt nie dauerhaft irgendwo an, das Festival geht weiter. Wir werden über das Erreichte nachdenken, aber auch nach vorne schauen. Im Sinne einer Öffnung wie bei einem Doppelpunkt: Das ist der Duktus für das Finale.

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