Samstag, Januar 11

Am 15. Januar 2015 hob die Nationalbank den Euro-Mindestkurs überraschend auf. Sechs Lehren für heute.

In der Schweiz gilt die Politik der kleinen Schritte als Tugend. Doch manchmal ändern sich Dinge schlagartig. Ein besonders folgenschwerer Schock fand vor zehn Jahren statt. Am 15. Januar 2015 hob die Schweizerische Nationalbank (SNB) unerwartet den Mindestkurs von 1.20 Franken pro Euro auf. Den Kurs hatte sie zuvor fast dreieinhalb Jahre lang verteidigt.

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Wenige hatten mit dem Schritt gerechnet. Und kaum jemand konnte im Januar 2015 abschätzen, welche Folgen die Aufhebung des im September 2011 eingeführten Mindestkurses haben würde. Aus der Distanz von zehn Jahren lassen sich die Ereignisse besser einordnen. Die damals als «Franken-Schock» bezeichnete Zäsur hält vor allem sechs Lehren bereit:

1. Ein Mindestkurs ist ein Bluff

Die Idee eines Mindestkurses basiert auf folgender Annahme: Eine Zentralbank hat unbegrenzte Munition, um eine Aufwertung der eigenen Währung abzufedern. Denn eine Zentralbank kann neues Geld aus dem Nichts schaffen, in beliebiger Menge. Und je mehr Geld geschöpft und gegen Devisen getauscht wird, desto weniger Wert hat die heimische Währung.

Hinter dieser Annahme verbirgt sich aber ein Bluff. Zwar kann eine Zentralbank unbegrenzt Devisen kaufen. Irgendwann stösst sie jedoch an eine Schmerzgrenze. Diese Grenze war für die SNB im Januar 2015 erreicht. Damals wurde aufgrund der immer lockerer werdenden Geldpolitik im Euro-Raum klar: Der Mindestkurs kann nur noch mit rasch wachsenden und extrem hohen Devisenkäufen durchgesetzt werden.

«Das Festhalten am Mindestkurs hätte zu einer unkontrollierbaren Ausdehnung unserer Devisenbestände und damit unserer Bilanz geführt», erklärte der damalige SNB-Präsident Thomas Jordan im Frühjahr 2015. Er sagte: «Die mit einer solchen Bilanzausweitung verbundenen Risiken wären in keinem Verhältnis zum Nutzen des Mindestkurses für die Schweizer Wirtschaft gestanden.»

Diese Risiken wollte man nicht eingehen. Der Bluff flog auf. Nachdem die SNB jahrelang keine Zweifel am Mindestkurs signalisiert hatte, erklärte sie nach der Kapitulation, es sei eine Fiktion, die Bilanz risikolos ausweiten zu können. «Diese Fiktion widerspricht dem gesunden Menschenverstand und ist vor allem in Akademikerkreisen anzutreffen», sagte SNB-Vizepräsident Jean-Pierre Danthine.

2. Ohne Mindestkurs ist es nicht billiger

Dass die SNB vor zehn Jahren die Waffen streckte, hatte gemäss Jordan vor allem damit zu tun, dass die zur Verteidigung des Mindestkurses nötig gewordenen Devisenkäufe die künftige Handlungsfähigkeit der SNB stark beeinträchtigt hätte. Denn die Devisenanlagen hatten sich von 220 Milliarden Franken zu Beginn des Mindestkurses auf 490 Milliarden per Ende 2014 mehr als verdoppelt.

Wer geglaubt hatte, die SNB würde nach Aufhebung des Mindestkurses zurückhaltender am Devisenmarkt agieren, sah sich aber getäuscht. Umfang und Tempo der Interventionen liessen nicht nach. Der zeitgleich mit der Aufhebung des Mindestkurses auf rekordtiefe –0,75 Prozent gesenkte Leitzins reichte bei weitem nicht aus, um den Franken genügend unattraktiv zu machen und zu schwächen.

Deshalb intervenierte die SNB weiter massiv am Devisenmarkt. Entsprechend stieg die Bilanzsumme – sie besteht hauptsächlich aus Devisenanlagen – stark an. Sie überschritt im Februar 2021 sogar die Grenze von 1 Billion Franken. Im Vergleich mit dem Niveau bei der Aufhebung des Mindestkurses verdoppelte sich die Bilanzsumme.

Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, kritisierte 2015 den Übungsabbruch der SNB. Er sagt heute, dank Mindestkurs seien weniger Interventionen nötig gewesen als danach. «Die Aufhebung des Mindestkurses hinterliess eine Orientierungslosigkeit an den Märkten, die bis heute anhält.» Denn die SNB habe auch in der Vergangenheit immer ein mehr oder weniger explizites Wechselkursziel verfolgt.

3. Der reale Wechselkurs ist erstaunlich stabil

Zwar existierte nach dem 15. Januar 2015 nicht länger ein Mindestkurs. Dennoch bestimmte unverändert die Kontrolle des Wechselkurses die Schweizer Geldpolitik. Mit einer Kombination von extrem tiefen Negativzinsen und milliardenschweren Devisenkäufen zielte die SNB darauf ab, eine übermässige Aufwertung des Frankens zu verhindern.

Damit war sie erfolgreich. Das zeigt der Index des realen effektiven Wechselkurses zum Euro. Er berücksichtigt die unterschiedliche Inflation im In- und Ausland und misst den Aussenwert des Frankens gegenüber den wichtigsten Handelspartnern im Euro-Raum. Der Index gibt damit einen Hinweis, wie wettbewerbsfähig die Schweiz und ihre Exporte sind.

Dabei zeigt sich: Der Frankenkurs blieb in den vergangenen Jahren erstaunlich stabil. Die Exportunternehmen der Schweiz haben seit der Aufhebung des Mindestkurses keine dramatische Verschlechterung ihrer preislichen Konkurrenzfähigkeit erlitten.

In politischen Debatten entsteht oft der gegenteilige Eindruck. Dies deshalb, weil selten mit realen Wechselkursen argumentiert wird. Für Aufregung sorgt vielmehr, wenn der nominale Kurs bestimmte Marken durchbricht, etwa jene von 0.95 Euro pro Franken gegen Ende 2023. Solche Kurse sind aber wenig aussagekräftig. Sie berücksichtigen nicht, dass die Inflation in der Schweiz meist niedriger ist als im Ausland.

4. Die Schweizer Industrie ist widerstandskräftig

Nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses und dem kurzzeitigen Überschiessen der Wechselkurse war die Furcht gross, dass viele Industriefirmen den Schock nicht überleben würden. Es war die Rede von einer drohenden Deindustrialisierung. SNB-Präsident Jordan wurde in den Boulevardmedien als «Job-Killer der Nation» bezeichnet.

Rückblickend weiss man: Die Widerstandskraft der Industrie wurde unterschätzt. Laut Jean-Philippe Kohl, Leiter Wirtschaftspolitik beim Industrieverband Swissmem, hat die Aufhebung des Mindestkurses zwar rund 5000 Industrie-Jobs gekostet. «Als Folge der Innovationskraft der Schweizer Industrie konnten diese Arbeitsplatzverluste über die folgenden Jahre aber wieder wettgemacht werden», sagt Kohl.

Heute liege die Beschäftigtenzahl im Swissmem-Sektor wieder stabil im langfristigen Durchschnitt von 325 00 bis 330 000. Zwar sei der Franken zum derzeitigen Kurs von rund 94 Rappen pro Euro noch immer um 4 Prozent überbewertet, meint Kohl. Diese Überbewertung sei aber «gerade noch zu bewältigen». Wichtig sei, dass es nicht wieder zu schockartigen Aufwertungen komme wie Ende 2023.

«Der starke Franken ist kurzfristig unser härtester Feind und langfristig unser grösster Freund», sagte Swissmem-Präsident Martin Hirzel vor kurzem der NZZ. Er meinte damit, dass die laufende Aufwertung der Währung zur Spezialisierung und Erfüllung höchster Qualitätsanforderungen zwinge, um höhere Preise einfordern zu können. In den letzten zehn Jahren scheint dies der Schweizer Industrie gut gelungen zu sein.

5. Sicherheit ist zweischneidig

Die SNB hat den Mindestkurs stets mit ihrem Mandat der Preisstabilität begründet. Denn eine starke Aufwertung des Frankens führt zu sinkenden Preisen, weil die Importe billiger werden. Doch auch der Mindestkurs reichte nicht aus, um für eine leicht positive Inflation zu sorgen. Vielmehr sanken die Preise. Erst recht war dies in den zwei Jahren nach Aufhebung des Mindestkurses der Fall.

Die Schweizer Firmen beschäftigte hingegen nicht primär die Inflation oder Deflation. Sie waren vielmehr an Planungssicherheit interessiert. Diese erhielten sie mit der Kursuntergrenze. Denn nun waren die Wechselkursrisiken zu einem grossen Teil durch die SNB abgesichert.

Sicherheit ist aber ein zweischneidiges Schwert, sie verleitet zu Leichtsinn. Das zeigte sich auch zu Zeiten des Mindestkurses. «Manche Industriefirmen haben damals wohl die Währungsabsicherung vernachlässigt», vermutet Yvan Lengwiler, Professor für Ökonomie an der Universität Basel. «Das ist zwar verständlich, führte aber mit der plötzlichen Aufhebung der Untergrenze zu stressigen Situationen.»

Tatsächlich erzeugte der Mindestkurs die Illusion von Stabilität. Firmen konnten Anpassungen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, auf die lange Bank schieben. Zwar betonte die SNB, dass der Mindestkurs nur eine temporäre Massnahme sei. Doch je länger er andauerte, desto grösser wurde die Versuchung, mit seiner dauerhaften Fortsetzung zu rechnen.

6. Der Ausstieg ist ruppig

Faktisch übernahm die SNB mit dem Mindestkurs das Währungsrisiko, das normalerweise der Privatsektor trägt. Kritiker sahen darin eine Art Strukturpolitik – zugunsten der Exporteure und zulasten der Konsumenten, deren Geld aufgrund des künstlich abgeschwächten Frankens weniger Kaufkraft hatte.

Ob Strukturpolitik oder nicht: Ein Mindestkurs ist ein radikaler Markteingriff. «Er ist eine Ultima Ratio und darf nicht zum Normalfall der SNB werden», sagt der Swissmem-Vertreter Kohl. Denn die Kehrseite der Franken-Stabilisierung sei die massive Ausdehnung der Geldmenge und das damit verbundene Inflationsrisiko. Und Inflation sei genauso giftig für die Wettbewerbsfähigkeit wie ein zu starker Franken.

Hinzu kommt: Der Ausstieg aus einem Mindestkurs ist immer sehr ruppig. Eine sanfte Beendigung ist kaum möglich. Jede noch so vage Andeutung der Notenbank, die Politik bald zu beenden, würde massive Spekulationen auslösen und den angedeuteten Schritt vorwegnehmen. Wenig stichhaltig ist daher die Kritik, die SNB habe die Öffentlichkeit über den Übungsabbruch im Dunkeln gelassen.

Welche Lehre lässt sich daraus ziehen? Der Basler Ökonom Lengwiler sagt: «Bei der Einführung einer radikalen Massnahme sollte bereits eine Idee bestehen, wie man sie wieder loswird». Ob die SNB diese Idee hatte, bleibt offen. Fest steht: Auch zehn Jahre nach dem Mindestkurs überlasst sie den Franken nicht dem Markt. Dessen Wechselkurs ist noch immer ein Resultat von angedeuteten und tatsächlichen Interventionen.

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