Mittwoch, Februar 5

Die Disziplinarkammer des Schweizer Sports hat den Mountainbiker vom Dopingvorwurf entlastet. Doch der Internationale Sportgerichtshof könnte Gründe haben, das Urteil zu revidieren.

Mathias Flückiger hat gute Tage hinter sich. «Höchst erfreut, aber vor allem erleichtert» sei er gewesen, als ihn die Disziplinarkammer des Schweizer Sports (DK) am 24. Mai vom Dopingverdacht freisprach, liess er mitteilen. Unmittelbar danach erreichte Flückiger im Mountainbike-Weltcup im tschechischen Nove Mesto na Morave Rang sechs. Dann nominierte ihn der Verband Swiss Cycling für die Olympischen Spiele in Paris.

Doch das letzte Kapitel im bereits seit fast zwei Jahren laufenden Verfahren gegen Flückiger ist noch nicht geschrieben. Die Anti-Doping-Instanz Swiss Sport Integrity (SSI) will seinen Freispruch durch die DK nicht akzeptieren. «Wir werden kaum darum herumkommen, den Entscheid an den Internationalen Sportgerichtshof weiterzuziehen», sagt der SSI-Direktor Ernst König. «Es geht dabei auch darum, das bestehende Anti-Doping-System zu verteidigen.»

Am 22. Juni 2022 gab Flückiger am Rande der Schweizer Meisterschaften in Leysin eine Urinprobe ab. Sie enthielt die verbotene Substanz Zeranol in der tiefen Konzentration von 0,3 Nanogramm pro Milliliter, was einem atypischen Resultat entspricht. In einem solchen Fall verlangt die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) von den Kontrolllaboren, im Urin auch nach verwandten Metaboliten wie Zearalenon zu suchen. Eine Präsenz derartiger Metaboliten wird oft als entlastend gewertet, weil sie von kontaminierten Agrarprodukten stammen können. Sind gleichzeitig mit Zeranol auch verwandte Metaboliten vorhanden, gilt die Probe als negativ.

Toxikologe hinterfragt Flückigers Verteidigung

Bereits mit diesem Vorgehen, das verdächtigten Sportlern entgegenkommt, hat Georg Aichinger Mühe. Er ist Toxikologe an der ETH in Zürich. «Metaboliten wie Zearalenon und Taleranol können versehentlich über mit Schimmelpilzen kontaminierte Agrarprodukte konsumiert werden», bestätigt Aichinger zwar. Ein versehentlicher Konsum von Zeranol auf diesem Weg sei jedoch schwer vorstellbar. Es handle sich bei Zeranol um eine synthetische Substanz.

Theoretisch sei eine Kontamination über amerikanisches Fleisch möglich, weil Zeranol dort Rindern verabreicht werde – dieses Fleisch dürfe jedoch in Europa nicht verkauft werden. Dass Zeranol in kleinen Mengen als Abbauprodukt von Zearalenon entstehen könne, sei bisher zwar in Schafen, Schweinen und Kühen nachgewiesen worden, nicht jedoch im Menschen.

Aichinger sagt: «Wenn Zeranol in Urinproben gefunden wird, ist eine Kontamination als Ursache sehr unwahrscheinlich. Dies in einem Dopingverfahren als entlastendes Argument vorzubringen, erscheint mir unsinnig.»

Das Labor in Lausanne findet keine Metaboliten

Die Einschätzung des Toxikologen Aichinger stellt Flückigers Verteidigungslinie infrage. Doch auch wenn im Widerspruch zu den Aussagen des Experten die Sichtweise der Wada als gültig erachtet wird, nach der Zeranol als Metabolit von Substanzen wie Zearalenon entstehen kann, bleibt für den Mountainbiker ein Problem: Das zuständige Kontrolllabor in Lausanne suchte in seinem Urin vorschriftsgemäss nach Metaboliten, die auf den versehentlichen Konsum von kontaminiertem Essen hindeuten könnten – und fand sie nicht.

Im Zuge des Verfahrens soll Flückigers Team, zu dem der ehemalige Antidoping-Schweiz-Chef Matthias Kamber gehört, dafür eine Erklärung präsentiert haben: Die Abbauprodukte könnten beim Transport der Probe zerstört worden sein. Dem widerspricht Martial Saugy, der früher das Lausanner Labor leitete und nun von SSI als Experte berufen wurde. «Bei der Kontrolle und der Analyse lief alles hundertprozentig korrekt ab», sagt er.

Die Urinprobe sei während maximal zweieinhalb Stunden im Auto transportiert und danach im Kühlschrank der Kontrolleurin gelagert worden. Am nächsten Arbeitstag sandte diese das Fläschchen per Post ins Lausanner Labor. Dieses prüft Urin routinemässig, es gab gemäss Saugy keinerlei Anzeichen für einen Verfall der Flüssigkeit. Transport und Lagerung verliefen laut dem Experten exakt nach einem Protokoll, das vor Jahren zusammen mit Kamber erarbeitet worden sei, als dieser noch Chef von Antidoping Schweiz war.

Für die Analyse wird Urin im Labor während einer Stunde auf 50 bis 60 Grad erhitzt. Jedes Labor der Welt mache das, sagt Saugy. «Und es ist evident, dass dabei keine Substanzen zerstört werden.» In Lausanne wurden mit genau dieser Methode schon oft Spuren von Zeranol und anderen Abbauprodukten gefunden, womit dann ein Dopingverdacht widerlegt war.

Saugy sagt, dass beim Abbau von Mykotoxinen im Körper andere Metaboliten mindestens fünfmal so oft auftreten wie Zeranol. Im Urin von Flückiger wurden 0,3 Nanogramm Zeranol pro Milliliter gefunden. Von den anderen Metaboliten hätten also mindestens 1,5 Nanogramm im Urin sein müssen. Das wäre 50- bis 100-mal mehr, als heutige Maschinen für einen Nachweis brauchen. Saugy sagt: «Das Zeranol, das in Flückigers Urin nachgewiesen wurde, stammt nicht von Mykotoxinen, davon bin ich überzeugt.»

Auch der Toxikologe Aichinger möchte die Verteidigungslinie, nach der die Probe wegen des Transports unbrauchbar war, nicht gelten lassen. «Bei normalen Temperaturen ist ein Verschwinden von Mykotoxinen aus Urinproben innerhalb weniger Stunden auszuschliessen», sagt er. Bei extrem hohen Temperaturen sei ein Abbau denkbar. «Allerdings verschwände dann gleichzeitig mit den Mykotoxinen höchstwahrscheinlich auch die Substanz Zeranol.»

Olympia-Start trotz offenen Fragen praktisch sicher

Warum sich die DK trotz dieser Sachlage für einen Freispruch entschied, ist unklar. Bisher hat das Gremium auf eine öffentliche Aussage zu dem Fall verzichtet. Im Gespräch mit der NZZ nimmt der DK-Präsident Carl-Gustav Mez erstmals Stellung. Er betont, weil der Entscheid noch nicht rechtskräftig sei, wolle er sich nicht detailliert zum Inhalt äussern. Allerdings sagt er, dass Flückigers Freispruch nicht ausschliesslich aufgrund der Zweifel an der Verwertbarkeit der Probe erfolgt sei. Es seien weitere Punkte in die Bewertung eingeflossen. Die «Gesamtheit der Erwägungen» habe schliesslich zur Entlastung Flückigers geführt.

Das Verfassen der schriftlichen Urteilsbegründung werde noch einige Wochen dauern, sagt Mez. Ob der Schriftsatz bis zum Beginn der Olympischen Spiele fertig sei, könne er nicht sagen.

Swiss Sport Integrity muss mit einem möglichen Rekurs warten, bis die Urteilsbegründung vorliegt. Nicht nur deswegen ist es praktisch sicher, dass Flückiger trotz der juristischen Hängepartie an den Olympischen Spielen starten kann. Denn er dürfte selbst in dem Fall, dass der Internationale Sportgerichtshof seinen Freispruch revidiert, zunächst weiterhin an Rennen teilnehmen. Das Verfahren müsste dann von der Disziplinarkammer erneut aufgenommen werden. Zu einer sofortigen Suspendierung käme es nicht.

Was für Flückiger zunächst erfreulich tönt, könnte sich als heikel erweisen. Sollte der Mountainbiker in Paris erfolgreich sein, später aber doch noch rückwirkend gesperrt werden, wäre das nicht nur für die beteiligten Athleten ärgerlich – nicht zuletzt für jene Schweizer Mountainbiker, die bei der Nominierung das Nachsehen gegen Flückiger hatten. Kommt es nach allen Ereignissen doch noch zu einer Verurteilung, wäre darüber hinaus die Blamage fürs Schweizer Anti-Doping-System perfekt.

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