Das Krafttraining mit elektrischer Stimulation boomt. Ein Experte erklärt, wie effektiv es wirklich ist und weshalb es selbst Olympiasieger in ihrem Training anwenden.
Die Vorstellung ist für Sportmuffel fast zu schön: 20 Minuten pro Woche trainieren, dabei den Körper stählen und erst noch den Strom die ganze Arbeit machen lassen. Eins vorweg: So funktioniert das nicht mit dem EMS-Training, also dem Training per Elektromyostimulation (wobei das «myo» angelehnt ans Altgriechische für Muskel steht). Die Methode hat ihre Vorteile und ist effektiv – aber sie ist kein Training für Faule oder ein Wundermittel.
Was kann das EMS-Training also? Wer profitiert davon am meisten, und wo wird es eingesetzt?
Die elektrische Muskelstimulation wird seit Jahrzehnten erfolgreich in der Therapie oder Rehabilitation verwendet. Etwa nach einer Operation, wenn ein Muskel trainiert werden soll, der Patient aber nicht das ganze Bein bewegen kann. Mit EMS wird die Muskulatur mittels elektrischer Impulse gezielt von aussen angesteuert und stimuliert. Der Körper unterscheidet dabei nicht, ob die Muskelkontraktion vom Hirn oder von einem externen Stromimpuls ausgelöst wird. Oder, wie es Heinz Kleinöder von der Deutschen Sporthochschule Köln sagt: «Der Muskel ist nicht wählerisch.»
Erst später wurde das EMS von der Fitnessbranche für Freizeitsportler entdeckt, vor allem durch die Erfindung von Ganzkörperanzügen, mit denen der ganze Körper gleichzeitig trainiert werden kann. Kleinöder forscht seit rund 15 Jahren zu EMS-Training in verschiedenen Bereichen, er sagt: «EMS ist im Prinzip eine Verstärkerfunktion im Krafttraining, es bedeutet eine doppelte Ansteuerung des Muskels.» Der Sportler oder die Sportlerin macht also eine dynamische Bewegung wie eine Kniebeuge oder hält eine Position wie im Stabilisationstraining, und der Strom verstärkt den Reiz im belasteten Muskel. Die Elektroden im Anzug stimulieren gleichzeitig aber auch die Antagonisten der beanspruchten Muskeln, man kann so bis zu 90 Prozent der Muskeln im Körper gleichzeitig ansteuern.
Das ist intensiv – und kann gerade für Anfänger, die Krafttraining auch ohne Strom nicht gewohnt sind, schnell zu intensiv werden. «Ein unvorbereiteter Körper und ein leistungsorientiertes Training passen nicht recht zusammen», sagt Kleinöder. «Wenn dann noch EMS dazukommt, ergibt das keinen Sinn. Deswegen sollte man diese Methode mit einem Trainer erlernen.» Die Intensität gilt es nach und nach zu steigern, wie bei allen Sportarten.
Mit EMS lässt sich fast beliebig spielen
Die meisten Studios bieten das EMS als 1:1-Training mit einem Coach an. Dieser kann am besten auf den aktuellen Fitnessstand und die individuellen Ziele eingehen, denn es lässt sich fast beliebig mit EMS spielen. Man kann den ganzen Körper gleichzeitig trainieren oder sich auf einen Teil wie den Rumpf konzentrieren. Kleinöder führt aus: «Ich kann den Reiz modulieren, mit höheren Frequenzen arbeiten, um die Schnellkraft zu fördern, oder mit niedrigeren für die langsamen Muskelfasern; ich kann die Dauer des Stromflusses erweitern oder die Impulsbreite verändern, damit der Reiz tiefer ins Gewebe reingeht.»
Ein weiterer Vorteil ist, dass EMS eine erhöhte Anspannung und Anspannungsdauer im Muskel erreichen kann, ohne den passiven Bewegungsapparat, also Sehnen oder Bänder, übermässig zu belasten.
Die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten nutzen auch Leistungssportler. Kleinöder hat in verschiedenen Sportarten Projekte und Studien mit EMS durchgeführt. Beim Rodel-Olympiasieger Georg Hackl etwa ging es um die gezielte Stärkung einer sehr kleinen Muskulatur, die für die Anschubbewegung wichtig ist. Bei Langläufern intensivierte er mit EMS das Stabilisationstraining für den Oberkörper, da dieser beim Doppelstockschub sehr stark gefordert ist. Bei Fussballern ergaben die Studien gute Ergebnisse bei der Schusshärte oder der Sprintfähigkeit, im Radsport bei der Haltung des Oberkörpers.
Im Schweizer Leistungssport scheint ein solch gezielter Einsatz des EMS-Trainings nicht gross verbreitet sein; Vertreter von Swiss Olympic wie auch vom Bundesamt für Sport (Baspo) sagen auf Anfrage, dass ihnen kein solches Projekt bekannt sei.
Ähnliche Resultate für Krafttraining mit oder ohne EMS
Während man im Leistungssport individuell herausfinden muss, wer wie auf welche Reize anspricht, um einen Nutzen zu erzielen, ist das im Breitensport einfacher. Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von mindestens 150 Minuten moderater Bewegung wöchentlich sind hinlänglich bekannt, das A und O für die Gesundheit ist regelmässige Bewegung. Kleinöder sagt, ein EMS-Training einmal pro Woche sei gut, zweimal wäre besser – mehr nicht, dafür ist es zu intensiv. Im Optimalfall kombiniert man es mit anderen Sportarten.
Dass das EMS-Training wirkt, ist bewiesen, da sind die Studien eindeutig. Die Frage ist eher, ob die Methode im Vergleich mit einem herkömmlichen, mechanischen Krafttraining ohne Strom tatsächlich Vorteile bringt. Hier sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse eher ernüchternd. Es gibt nicht allzu viele Studien, bei denen die Kontrollgruppe dasselbe Training ohne die elektrische Stimulation machte. 2023 führte die Sporthochschule Köln eine solche mit Blick auf die maximalen Kraft- und Leistungsparameter der Beinmuskulatur durch. Nur bei der Kniestreckung schnitt die EMS-Gruppe signifikant besser ab als die Kontrollgruppe. Die Wissenschafter kommen zu dem Schluss, dass «die erzielten Verbesserungen bei jungen, männlichen Sportlern vergleichbar mit denen des dynamischen Krafttrainings ohne EMS sind».
Ein Argument für das EMS-Training ist die Zeit. Einerseits, weil so viele Muskeln gleichzeitig angesprochen werden können, dass das Training kürzer ist. Anderseits, weil die 20 Minuten mit einem Personal Trainer auch wirklich effizient genutzt werden – und man nicht zwischen den Übungen noch auf dem Smartphone herumdrückt oder mit einem Trainingsgspänli plaudert. Der hohe Preis und fixe Termine sind für Menschen, die nicht unbedingt freudig ins Fitnessstudio rennen, zusätzliche Argumente für ein regelmässiges, qualitativ hochstehendes Training mit EMS.
Die Preise für EMS-Training in Zürich variieren von 30 Franken bis weit über 100 Franken für 20 Minuten, je nachdem, was alles inbegriffen ist und ob die Einheiten zusätzlich an ein Abo gebunden sind. Kontraindikationen sind Infekte, Herzschrittmacher, Hautinfekte oder Diabetes – am besten konsultiert man einen Arzt, wenn man gesundheitliche Vorbelastungen hat.