Sonntag, September 8

Das «Palmenhaus» ist für durstige Besucher der österreichischen Hauptstadt längst kein Geheimtipp mehr. Das «Bruder» schon eher – und unser Bartester kann das Nachtlokal wärmstens empfehlen.

Innert knapp acht Stunden bringen die Österreichischen Bundesbahnen den Nachtfalter in die Metropole des Schmähs, lebendiger Kaffeehaus- und Barkultur sowie morbider Abgründe: Die Mission im Dienst des Trinkgenusses führt ihn diesmal nach Wien, das sein Stammrevier Zürich schon vor Jahren von der Spitze internationaler Ranglisten zur Lebensqualität verdrängt hat.

Das Palmenhaus im Burggarten ist kein Geheimtipp mehr für durstige Stadtbesucher: Im 15 Meter hohen Glaspalast mit angegliedertem Schmetterlingshaus schlürft auch der Falter zwischen exotischen Pflanzen gerne Drinks. Diesmal aber landet er im Quartier Mariahilf und dort im «Bruder», deklariert als «Bar & Küche» – in dieser Reihenfolge: Heutzutage liefert die Cocktailkultur der Gastronomie viele Impulse, auch in dem Land, dessen Parlamentswahlen nun eine Bierpartei belebt.

Dieser Kokon ist ein wunderbares Refugium vor Wiens winterlicher Bise. Belegschaft und Publikum verbreiten unaufgeregt beste Laune, dank schalldämmenden Elementen ist der Raum auch bei Vollbesetzung erstaunlich konversationstauglich. Drei Dutzend Gäste essen und trinken um 22 Uhr an den Tischen unter dem Gewölbe; zwei Plätze sind gerade noch frei am Tresen, hinter dem sich auf Regalen über hundert hinterleuchtete 5-Liter-Einmachgläser reihen. Darin schwimmen keine Präparate in Formaldehyd, sondern etwa Früchte in hausgemachten Flüssigkeiten der bekömmlichsten Art: Amaro, Wermut, Likör in allen Farben und Geschmacksrichtungen, von Feigenblatt bis Bergheu.

Da oben lagere und reife «nur ein kleiner Auszug aus dem Angebot», erklärt einer der fröhlichen junge Wilden, die hier mit spürbarer Lust wirten. Sie lieben, getrieben von Hefe, das Fermentieren und Vergären, vom Gemüse bis zur Fischsauce. «Drinks sind Häuser und Alkohol ihr Fundament», schreibt die Crew, weshalb alle ihre Mixgetränke auf selbst angesetzten Likören basierten. «Nur so können wir einen soliden und nachhaltigen Rausch garantieren.»

Die fabelhaften Longdrinks des Hauses (€ 13.–) sind aufgeführt unter dem Titel «Du solltest kündigen»; die Version «Oh bitter schön» entfaltet auf der Zunge früh einen Hauch Zirbe, also Arve, ehe Bitterorange und Wermut den Gaumen mit herben und süsslichen Versprechen ölen. Ein Negroni-Variante mit Walnussbitter geht als «Abendröte in Catania» über den Tresen, unter dem Motto «Auf das Leben» findet selbst der vielgeschmähte Orange Wine eine sinnvolle Aufgabe: Mit dem hausgemachten Gin und einem Orangenbitter fügt er sich zur stimmigen Komposition mit Schaumkrönchen.

Für den späten Gluscht auf Süsses gibt’s ein Gläschen Pflaumenwein zu lauwarmen Udon-Nudeln, Mohnschaum, Apfel-Ingwer-Sorbet und Apfelstückchen, eingekocht in Pflaumensaft. So werden hier Klassiker variiert, mitunter mit einem Schuss Ironie, ob im Glas oder auf dem Teller. Der Barkeeper Hubert Peter, im Bregenzerwald auf einem Bauernhof aufgewachsen, hat das Lokal vor genau fünf Jahren zusammen mit dem Küchenchef Lucas Steindorfer gegründet und sagt: «Als einer aus dem Westen des Landes darf ich den Wienern die Berge näherbringen.»

Auf die Frage, ob morgen spätabends vielleicht noch ein Esstisch zu ergattern wäre, meint er lächelnd: «Ihr schaut unkompliziert aus. Kommt gegen 22 Uhr, wir finden schon was.» Der Falter nickt und schlägt vor, sich notfalls auch kopfüber unter die Decke zu hängen. Das würde passen zu «Nosferatu», den er tags darauf in einer düsteren Inszenierung des Burgtheaters sieht: Bühnenblut fliesst, durstige Vampire jagen Schauer um Schauer über die Rücken des zum Teil ratlosen Premierenpublikums.

Als Lohn wartet gleich danach auf den Stadtflatterer und seine Gefährtin im «Bruder» ein Menu (€ 53.–) mit drei wählbaren Gängen. Zunächst gepickelter Blumenkohl (pardon: Karfiol), Pak Choi, Kimchi-artig fermentiert und kurz gebraten, und gepuffter Wildreis; dann hausgemachte Bratwurst vom Bierschwein, Kartoffelstock, Sauerkraut, eine Sardelle drauf; schliesslich Pastinakenkuchen, ein Cousin der Aargauer Rüeblitorte, mit Malzeis.

Die Teller machen satt und glücklich, der omnipräsente Hubert Peter meint: «Es bringt ja nix, wenn ihr irgendwo essen geht und hungrig heimkehrt.» Noch kurz vor Mitternacht – auch das gehört zur Lebensqualität – werden Würste an Tische getragen und die dezente Musik aus der Konserve etwas aufgedreht. Sie führt zurück in die Achtziger, samt Michael Jackson, dessen «Thriller» den Kreis zum Gruseln im Burgtheater schliesst. Wohl bekomm’s!

Bar & Restaurant
Bruder
Windmühlgasse 20
1060 Wien
Sonntag, Montag, Dienstag geschlossen.
Telefon +43 664 135 13 20.

Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in Städte anderer Landesteile.

Die Sammlung aller NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

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