Wie man solche Konflikte löst: die Rezepte eines professionellen Streitschlichters.
Es kann schnell gehen. Ein falscher Termin in der Waschküche, ein lauter Fernseher, vielleicht auch nur ein unbedachter Spruch im Treppenhaus – schon ist er da, der Nachbarschaftsstreit. «Über manche Empfindlichkeiten staunt man schon», sagt Bruno Meili, der sich beruflich seit 15 Jahren mit derartigen Konflikten befasst.
Gestritten wird, das weiss er aus eigener Erfahrung, über so gut wie alles. «Da stören sich Leute, dass ihre Nachbarn nachts auf die Toilette gehen, während draussen die LKW vorbeirauschen.»
Für Aussenstehende hat solcher Streit oft etwas Belustigendes: Geraten sich erwachsene Menschen ernsthaft in die Haare, weil ein Ast aufs eigene Grundstück ragt? Weil man den nackten Po des Nachbarn durchs Fenster sieht? Oder weil ein Teich auf der Dachterrasse zu viele Mücken anlockt?
Die Antwort: Ja, sie tun es, und das nicht zu knapp. Fast täglich berichten Medien über solche oder ähnliche Fälle. In einer Reportage porträtierte das Schweizer Fernsehen kürzlich mehrere Nachbarn, die sich mit «arbeitslose Drecksau» und «Happy Birthday, du Nutte» begrüssen.
Alles reale Fälle aus der Schweiz.
Doch so absurd solche Szenen von aussen auch wirken: Für Betroffene stellen sie eine grosse Belastung dar, sowohl psychisch als auch finanziell.
Mediation statt Gericht
Um jahrelange Auseinandersetzungen vor Gericht zu vermeiden, gibt es jedoch eine Alternative: die Mediation. Dabei bieten sich geschulte Fachleute wie Bruno Meili den Streithähnen als neutrale Vermittler an. Statt dass beide Seiten auf ihrem Recht beharren, soll eine Lösung gefunden werden, mit der alle Parteien leben können.
Der wichtigste Schritt: mit der Mediation überhaupt einmal beginnen. Laut Meili herrscht hier eine gewisse Hemmschwelle. Meist seien es Wohnungsverwaltungen, Vermieter oder Genossenschaften, die die Streithähne dazu bewegten, sich an einen Tisch zu setzen. Stimmen sie zu, besucht sie der 78-jährige Zürcher in ihrem häuslichen Umfeld, also etwa in einem Café oder einem Versammlungsraum der Wohnanlage.
Gleich zu Beginn folgt die erste Herausforderung: «Die Kunden müssen sich einigen, wer was bezahlt», sagt der Streitschlichter. «Vorher fange ich nicht an.» Das branchenübliche Honorar liegt laut Meili zwischen 150 und 200 Franken pro Stunde. Rund drei Sitzungen seien im Schnitt nötig, um einen Konflikt zu befrieden, manchmal mehr, manchmal weniger. Der Betrag, der für eine Mediation aufgebracht werden muss, ist also deutlich geringer als allfällige Anwalts- und Gerichtskosten.
Das sieht der Mieterinnen- und Mieterverband ähnlich. «Gerade bei Nachbarstreitigkeiten ist Mediation ein sehr valides Mittel, um Konflikte zwischen Mietenden zu schlichten», sagt Fabian Gloor, der als Jurist die mietrechtliche Hotline betreut. Er rät dazu, Kompromisse zu suchen, statt auf Maximalforderungen zu beharren: «Zum Beispiel am Sonntag Klavier spielen: ja, aber nicht vor 10 Uhr morgens. Oder Grillieren auf dem Balkon: ja, aber nicht mehr als einmal pro Woche.»
Damit solche Vereinbarungen zustande kommen, hört der Mediator Bruno Meili den Betroffenen erst einmal zu. Mal sind es junge Leute, die ihre Nachbarn auf die Palme bringen, weil sie in ihren Wohnungen feiern. Mal pöbeln sich Familien vor der Haustür an, weil sie sich vom Küchengeruch der jeweils anderen gestört fühlen.
Auch kulturelle und sprachliche Barrieren spielen eine Rolle – und psychische. Meili berichtet von einer Seniorin, die sich von ihren Nachbarn verfolgt gefühlt habe, obwohl diese sie nur in die Hausgemeinschaft hätten integrieren wollen: «Die Dame zeigte paranoide Züge. Gelöst war der Konflikt am Ende nicht, aber er ist auch nicht weiter eskaliert. Es ist zumindest eine gewisse Beruhigung eingetreten.»
Chat einrichten, um Probleme zu umgehen
Nachdem sich Meili die verschiedenen Sichtweisen angehört hat, erarbeitet er mit den Betroffenen ein Regelwerk, das beide Seiten unterschreiben müssen. Darin wird vereinbart, wer was in welchem Rahmen und zu welchen Uhrzeiten darf – so, wie es auch der Mieterverband empfiehlt.
Beispiel Lärm: Sind Störungen absehbar – etwa, weil eine Party ansteht –, wird dies in Zukunft vorher angekündigt. Und zwar nicht beiläufig im Treppenhaus, sondern respektvoll über einen eigens dafür eingerichteten Chat. «Die Leute sollen lernen, so zu kommunizieren, dass sie in der Lage sind, zukünftige Schwierigkeiten selbst zu lösen», sagt Meili.
Bevor all das passieren kann, muss jedoch erst einmal ein passender Streitschlichter gefunden werden. Das Geschäft boomt, und gleichzeitig ist es unübersichtlich. Da Mediator oder Mediatorin kein geschützter Titel ist, kann sich jeder und jede so nennen.
Der Schweizerische Dachverband Mediation (FSM) spricht von 1500 Mediatorinnen und Mediatoren, die sich bei dem Dachverband organisieren. Davon seien bis zu 800 mit einer 200-stündigen Zusatzausbildung qualifiziert. Auch der Schweizerische Anwaltsverband bietet Weiterbildungen in dem Bereich an.
Franziska Müller Tiberini ist Präsidentin des Mediationsverbandes FSM. Sie empfiehlt Streitschlichter, die die Zusatzqualifikation der FSM abgeschlossen haben. «Es braucht Erfahrung und eine Ausbildung, um solche Konflikte zu lösen», betont Tiberini. «Eine Garantie gibt es natürlich nicht, aber das Risiko einer schlechten Erfahrung kann verringert werden.»
Eine weitere Möglichkeit: eine Ombudsstelle bei der eigenen Liegenschaftsverwaltung aufsuchen, sofern eine solche existiert. Bei manchen Genossenschaften gebe es schon solche Anlaufstellen, sagt Tiberini. Auch das «Enttabuisieren» von Streit sei wichtig. «Konflikte sind normal. Wir müssen miteinander reden, wenn wir unterschiedliche Bedürfnisse und Sichtweisen haben.»
Um Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, rät Franziska Müller Tiberini, einmal im Jahr mit der Nachbarschaft zu grillieren, damit man von Anfang an eine gute Beziehung aufbaut. Bruno Meili empfiehlt, nicht nur dann bei den Nachbarn zu klingeln, wenn man sich über etwas beschwert, sondern auch einfach einmal so: «Früher war es normal, dass sich alle Mietparteien beim Einzug begrüssten. Das kann ich auch heute nur empfehlen.»
Teilen und einander helfen verbindet
Auch im Alltag könne man aufeinander zugehen. «Geräte und Arbeit teilen, Hilfe anbieten – das schweisst zusammen. Mit Nachbarn ist es wie bei einer Krankenkasse: Wenn ich mal krank werde, habe ich eine Grundlage, auf die ich zurückgreifen kann.»
Meili merkt in der Mediation schnell, ob es eine solche Grundlage gibt: Wie begrüssen sich die Beteiligten? Herrscht eisiges Schweigen, oder nennt man sich beim Vornamen? «Mir hat mal eine Nachbarin gesagt: ‹In diesem Haus sagen wir alle du›», erzählt der Profi-Streitschlichter. «Das fand ich gut.»
Manchmal komme es aber auch vor, dass Klienten versuchten, Meili zu instrumentalisieren. «Manche wollen den Mediator auf ihre Seite ziehen. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin kein Anwalt, sondern eine neutrale Partei.»
Seine Erfolgsquote? Darüber, sagt Meili, führe er keine Statistik. Denn was sei schon ein Erfolg? Wenn der Konflikt für immer und ewig gelöst sei? Oder wenn die Betroffenen zumindest wieder zivilisiert miteinander redeten?
Eine gewisse Verständigung gelinge fast immer, wenngleich mit Abstufungen. «Beide Seiten müssen etwas einbringen, damit die Schlichtung gelingt», sagt Meili.
Ein Lieblingsszenario hat er natürlich auch: «Wenn die Leute am Ende das Gefühl haben, sie hätten gar keinen Mediator gebraucht, dann habe ich alles richtig gemacht.»