Sonntag, Oktober 27

In Maria Montessoris erstmals ins Englische übersetztem Hauptwerk offenbart sich Erschütterndes. Das könnte vor allem der Vermarktung der Schulen schaden. Denn die Pädagogik hat sich längst weiterentwickelt.

Die jüngsten Enthüllungen über Maria Montessori zeigen Erschütterndes: Die in Rom tätige Ärztin vertrat wohl bis zu ihrem Tod im Jahre 1952 rassenideologisches Denken und betrachtete körperlich oder intellektuell eingeschränkte Menschen als «minderwertig». Das zeigt ihr 1910 erschienenes Hauptwerk, das erst kürzlich aus dem Italienischen übersetzt worden ist. Was bedeutet das jetzt für die heutige Pädagogik?

Man stelle sich vor, ein Elektriker würde mit Thomas Edison für seinen Betrieb werben. Jedem wäre klar, dass er mehr kann als Kohlefadenbirnen zu montieren. Schliesslich hat sich die Elektrotechnik in den letzten gut hundert Jahren weiterentwickelt.

Montessori-Schulen und -Kindergärten sind weltweit verbreitet. Es ist zu wünschen, dass auch diese Einrichtungen nach zeitgemässen pädagogischen Prinzipien unterrichten und nicht eine Pädagogik aus den 1920er Jahren nachspielen.

Heute steht Montessori längst nicht mehr für eine besondere, vom gesellschaftlichen Standard abweichende Erziehung. Sie ist zur Marke und zum Synonym für individuelle Förderung des Kindes geworden. Und nicht zuletzt sprechen die farbigen und naturnahen Lernmaterialien das ästhetische Auge vieler Eltern an. Das hilft den Schulen. Denn private Bildung folgt marktwirtschaftlichen Prinzipien.

Damals war Pädagogik eine Frage der Ideologie

Montessori war schon zu Lebzeiten eine Ikone und gilt bis heute als eine wichtige Reformpädagogin. Das kommt nicht von ungefähr. Bis weit ins 20. Jahrhundert ging es in der Pädagogik weniger darum, was Kinder brauchen, als darum, zu welcher Rolle sie in der Gesellschaft erzogen werden sollten. Es ging um die Frage der «guten» Erziehung.

Wer sich in diesem Diskurs durchzusetzen vermochte, war redegewandt und charismatisch. Das galt für Montessori genauso wie beispielsweise für den hundert Jahre vor ihr in der Schweiz tätigen Pestalozzi. Ob ihr Status als Ikonen auch ihrer Erziehungspraxis entsprach, ist fraglich. Von Pestalozzi wissen wir, dass er ein ausnehmend schlechter Pädagoge war.

Ideologische Pädagogik ist nicht mehr zeitgemäss

Wie damals soll es auch heute Vereine und Interessengruppen geben, die andächtig über einzelne Sätze etwa aus Pestalozzis Schriften diskutieren, und das mag auch für die Werke von Maria Montessori gelten. Zeitgemäss ist solch religiös-ideologisches Denken allerdings nicht.

Eine bahnbrechende Idee ist keine Garantie, dass jeder Satz aus dem Mund derselben Person wichtig und richtig ist. Diese Erkenntnis hat sich heute wohl durchgesetzt. Vor allem aber ist pädagogisches Handeln dank entwicklungspsychologischen Erkenntnissen nicht mehr nur eine Frage des Glaubens, sondern auch der empirischen Evidenz.

Damit sind auch die Texte der Reformpädagogen – einst als «Bibeln» der Erziehung gehandelt – zu einfachen Zeitzeugnissen geworden. Unter dem historischen Blickwinkel waren einige Gedanken von Maria Montessori radikal neu.

Vordenkerin eines heute gültigen pädagogischen Prinzips

In Italien war um 1900 durch die Industrialisierung gerade eine neue Arbeiterschicht entstanden, die in prekären Verhältnissen lebte und Grossindustriellen als billige Humanressource diente. Das galt für Erwachsene wie Kinder. Und wenn sich Letztere nicht gut entwickelten, wurden sie in psychiatrische Institute gesperrt, wo sie weitgehend sich selbst überlassen waren.

Maria Montessori war privilegiert und konnte studieren. Als Frau und Ärztin war ihr beruflicher Handlungsspielraum allerdings klein. Sie sollte die Kinder in der Psychiatrie medizinisch im Auge behalten. Stattdessen begann sie zu untersuchen, ob und wie sie deren Entwicklung fördern konnte.

Sie beobachtete, dass Kinder dann am besten lernen, wenn sie sich für etwas interessieren. Diese Momente der «polarisierten» Aufmerksamkeit nutzte sie, indem sie den Kindern die von ihr entwickelten Lernmaterialien gab. Das Kind sollte durch Erfahrung und Ausprobieren lernen.

Die Grundidee ist aus der Pädagogik nicht wegzudenken

Heutige Pädagogen sprechen von «scaffolding», also dem Bereitstellen eines «Lerngerüstes», entlang dessen das Kind sich entwickeln kann. Ob das am besten mit den schönen Materialien von Montessori gelingt, bezweifeln viele. Aber die zugrunde liegende pädagogische Haltung ist längst Teil der zeitgemässen Pädagogik geworden.

Montessoris Gedankengut hatte auch dunkle Seiten. Gerne sprechen Pädagogen von ihrer «mystischen Überhöhung» der kindlichen Anlage. Es ist ein Euphemismus für die Tatsache, dass sie die biologischen Voraussetzungen eines Kindes als fixen Rahmen für seine Entwicklung sah.

Und offenbar erlaubte sie sich ein Urteil über diese Anlagen basierend auf rassistischen und diskriminierenden Kriterien. Das ist mit der Übersetzung ihres Hauptwerks nochmals unmissverständlich klargeworden. Damit könnte ihr Name als Gütesiegel für einen guten privaten Kindergarten ausgedient haben. Für die heutige Pädagogik ist dies aber folgenlos.

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