Montag, Dezember 23

Seit einem Sturz im Engadin vor knapp zwei Jahren ist Philipp Kutter Tetraplegiker. Er sagt, wie sein Leben jetzt funktioniert, was für ein Verhältnis er zu seinem Körper hat und was er macht, wenn er traurig ist.

Herr Kutter, es ist nun fast zwei Jahre her, dass Sie beim Skifahren schwer verunfallten. Seither sind Sie gelähmt. Wie schauen Sie heute auf den Skisport?

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Es ist schizophren. Einerseits schaue ich mir Skirennen weiterhin an, weil ich sie interessant finde. Gleichzeitig bin ich immer noch wütend darüber, was mir widerfahren ist. Ich habe meinen Frieden mit dem Skifahren noch nicht gefunden.

Was ist an jenem 3. Februar 2023 in Scuol passiert?

Ich weiss es nicht so genau. Ich erinnere mich noch, dass ich auf einer Talabfahrt war. Die Piste machte eine Rechtskurve, in eine Traverse im Wald.

Hat jemand den Sturz gesehen?

Nein. Ich war mit zwei Kollegen unterwegs, aber etwas vor ihnen. Es war kein spektakulärer Sturz, ich war nicht schnell unterwegs. Vermutlich hatte ich einen Verschneider, dann habe ich mich überdreht und bin auf den Kopf oder den Nacken gefallen.

Das klingt nach einem Sturz, der jedem passieren kann. Ist der Skisport gefährlicher, als wir es glauben – oder hatten Sie einfach unfassbares Pech?

Es war sicher eine Verkettung von unglücklichen Umständen. Gleichzeitig unterschätzen wir den Skisport. Ich hätte nie gedacht, dass mir auf Ski etwas passieren kann, ich habe mich immer sehr sicher gefühlt. Aber meine Geschichte zeigt, was da für Kräfte wirken. Das hat auch mit den modernen Ski zu tun, den Taillierungen. Spass macht es ja erst, wenn man richtig auf die Kante steht. Da kann es einen schnell aushebeln. Aber zum Glück passiert in 99 von 100 Fällen nichts.

Bei Ihnen war es anders.

Als ich im Schnee lag, habe ich meine Beine nicht mehr gespürt. Da wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert ist.

Haben Sie da schon daran gedacht, dass Sie gelähmt sein könnten?

Ich hatte zu Beginn keine wirkliche Vorstellung davon, was es sein könnte. Ich dachte, dass ich vielleicht vorübergehend nichts mehr spüre.

Beim Unfall haben Sie zwei Halswirbel gebrochen und haben seither eine inkomplette Tetraplegie. Was bedeutet das?

Tetraplegiker sind ab dem Hals gelähmt, aber weil bei mir gewisse Nervenbahnen noch intakt sind, kann ich die Arme bewegen. Darum das Wort «inkomplett».

SRF hat einen Film darüber gedreht, wie Sie sich ins Leben zurückkämpfen. Man sieht, wie Sie etwa wieder gelernt haben, aus einem Glas zu trinken. Und was für eine Willensleistung es dazu brauchte.

Ja, die Therapien waren sehr anstrengend, man muss da an die Grenzen gehen, darüber hinaus. Das ist heute noch so.

Gibt es jetzt noch Dinge, die Sie neu lernen können?

Das ist schon vor allem am Anfang passiert, im Paraplegikerzentrum in Nottwil. Es gibt ab und zu noch kleine Schritte, kleine Verbesserungen.

Zum Beispiel?

Dass ich den rechten Arm besser bewegen kann. Das war am Anfang gar nicht möglich. Oder dass ich die Rumpfmuskulatur etwas besser spüre. Aber die Chance, dass ich irgendwann aus dem Rollstuhl aufstehen werde, tendiert gegen null.

Hatten Sie am Anfang die Hoffnung, dass Sie irgendwann wieder aufstehen?

Natürlich. Ich bin nach dem Unfall von der Rega ins Kantonsspital Chur geflogen worden. Dort habe ich zum ersten Mal den Begriff der inkompletten Tetraplegie gehört. Inkomplett, das macht Hoffnung. Dann geht man nach Nottwil. Dort wird einem von den Ärzten zuerst gesagt, dass man noch nichts sagen könne, weil der Körper sich in einer Art Schockzustand befinde und ein paar Wochen Zeit brauche.

Und dann?

Dann hofft man. Geht in die Therapie. Und merkt irgendwann, ob man zu denen gehört, bei denen es schnelle Verbesserungen gibt – oder zu den anderen. Ich war leider in der zweiten Gruppe. Ich habe gesehen, dass andere Patienten wieder Übungen mit den Beinen machen konnten. Bei mir war das kein Thema. Und mit der Zeit wird einem klar, dass wahrscheinlich nichts mehr zurückkommen wird.

Der nächste Rückschlag.

Ja, da hatte ich schon zu beissen.

Menschen ohne Beeinträchtigung können sich kaum vorstellen, wie es ist, wenn man sich nicht mehr bewegen kann. Reisst da ein Graben auf, weil man sich manchmal nicht verstanden fühlt?

Nein, den gab es bei mir nicht. Meine Familie hat mich sehr unterstützt, vor allem meine Frau, aber auch meine zwei Töchter. Es ist herzig, wie sie mir helfen. Jetzt sind sie es, die für mich den Zmittag kochen. Für sie ist es das Wichtigste, dass ich wieder da bin.

Wie lange waren Sie weg?

Zu Beginn war ich neun Monate in Nottwil, danach haben sich die Kinder einfach gefreut, dass ich wieder bei ihnen bin. Aber natürlich gibt es auch viele traurige Momente. Ich hatte zum Beispiel mit meiner kleineren Tochter die Tradition, dass wir beim ersten Schnee einen Schneemann bauen. Das haben wir immer durchgezogen. Als es kürzlich schneite, musste sie alleine nach draussen. Das tat sehr weh.

Denken Sie noch oft an den Tag des Unfalls zurück?

Oft würde ich nicht sagen. Aber ab und zu schon. Ich denke dann: Hätte es doch keinen Schnee gehabt. Oder wären wir doch im Restaurant einen Kaffee trinken gegangen. Wir hatten das noch diskutiert, es war schon Nachmittag. Aber es war so ein schöner Tag. Da wollten wir lieber noch eine Abfahrt machen. Ich habe das Skifahren immer sehr genossen, es war ein Teil meines Lebens, meines Lebensgefühls.

Was hat es Ihnen gegeben?

Ich bin sehr gerne draussen, ich mag Naturerlebnisse. Wind und Wetter haben mir nie etwas ausgemacht. Ich mag den Schnee, als Unterlage. Das Gefühl, eine Kurve zu fahren. Das Tempo. Das Gesellige auch. Skifahren war für mich Erholung, Abstand vom Alltag.

Welchen Stellenwert nahm der Sport in Ihrem Leben ein?

Einen wichtigen. Im Handball war ich Flügel, beim HC Wädenswil. Ich liebe die Berge, habe mit meiner Frau und den Kindern immer Aktivferien gemacht, wir waren viel unterwegs, zu Fuss vor allem. Wir sind Velo gefahren. Gingen bräteln. Haben in Berghütten übernachtet. Gingen baden. Ski fahren. Keine spektakulären Sachen, für unser Familienleben aber bedeutend und wertvoll. Heute kann ich davon fast nichts mehr machen.

Ist Ihnen der Zugang zur Natur jetzt völlig verbaut?

Es gibt schon Möglichkeiten, zum Beispiel Mietrollstühle, mit denen man sich auf holprigerem Terrain bewegen kann. Man muss sich auch das zurück erkämpfen.

Sie haben vor dem Unfall gerne Sport gemacht – können Sie das noch, in einer anderen Form?

Ja, ich trainiere meinen Körper, mit Physiotherapie, auch Krafttraining. Und dann ist es wie früher: Wenn man trainiert, versucht man, an die Grenzen zu gehen, damit die Ausdauer besser wird, die Beweglichkeit, die Kraft.

Wie trainieren Sie das?

Zum Beispiel mit Gewichtsmanschetten. So stärke ich den Bizeps oder andere Muskeln.

Und danach fühlt sich Ihr Körper ähnlich an wie früher nach dem Sport?

Nach einer strengen Therapiestunde ist es ähnlich wie früher nach dem Joggen. Die Bewegung tut gut, sie ermüdet. Aber ich habe schon nicht die gleichen Glücksgefühle wie früher nach einem Waldlauf.

Haben Sie Ihren Körper eigentlich noch gern?

Das ist eine schwierige Frage. Wir sind uns noch am Angewöhnen. Dass mein Körper viele Dinge nicht mehr kann, das ist sehr schwer zu akzeptieren. Gern haben, das würde ich im Moment nicht unterschreiben.

Sie politisieren für die ehemalige CVP, sind gläubig. Welche Rolle spielt Ihr Glaube, spielt Gott seit dem Unfall?

Ich bin weiterhin katholisch und glaube weiterhin an Gott. Aber nach dem Unfall bin ich auf Distanz zu ihm gegangen, und das ist immer noch so. Ich frage mich schon, welchen Plan Gott mit mir verfolgt. Darum fällt es mir schwer, wieder richtig Vertrauen zu fassen.

Haben Sie den Austausch mit Gott, den es vorher in einer Form gab, eingestellt?

Ja, der findet nicht mehr so häufig statt. Und wenn ich dann doch einmal ein Anliegen habe, ertappe ich mich dabei, dass ich denke: Bringt das überhaupt noch etwas? In meinem Verständnis zweifelt man als Gläubiger immer ein wenig. Und ich zweifle zurzeit sicher ein wenig mehr. Aber vielleicht kommt das Vertrauen zurück.

Waren Sie seit dem Unfall wieder in Scuol?

Nein. Ich denke, ich gehe schon einmal zurück. Ich mag Scuol. Aber an die Unfallstelle möchte ich im Moment nicht gehen. Ich suche das nicht, gleichzeitig wäre es vielleicht gut, für die Verarbeitung.

Wo wir gerade beim Verarbeiten sind: Haben Sie das schon geschafft, kann man das überhaupt?

Es gibt Leute, die sagen, dass es zehn Jahre daure, bis man den neuen Zustand akzeptiert habe. Ob es so lange dauert, weiss ich nicht, aber ich bin sicher noch nicht da.

Sie haben Ihre Situation noch nicht akzeptiert?

Nein. Der Schmerz kommt ab und zu zurück. Der Gedanke, wie es wäre, wenn es anders wäre. Nicht täglich, es ist nicht so, dass der Gedanke mich nachts wach hält. Ich kann ihn auf die Seite stellen. Aber er taucht hin und wieder auf.

Wie stellen Sie ihn dann auf die Seite?

Ich versuche, die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, indem ich mir einrede, dass sie nichts bringen. Und mir sage: Schau, was du noch alles machen kannst. Du kannst politisch aktiv sein. Ins Bundeshaus kommen. Die Zukunft der Schweiz mitgestalten.

Sie sind immer noch Stadtpräsident von Wädenswil und Nationalrat. Dieses Pensum würde viele überfordern, die gesund sind. Ist das Ihre Art, mit Ihrem Schicksal umzugehen?

Meine Ämter brauchen Energie, aber sie geben mir auch Energie. Es gibt mir Mut, auch Lebensmut, sie zu haben. Darum mache ich das. Es tut mir gut. Ich wollte um keinen Preis jemand sein, der ab und zu in die Therapie geht und sonst unzufrieden daheimsitzt und allen auf die Nerven geht.

Beschäftigen Sie als Politiker mit einer Beeinträchtigung die gleichen Themen wie früher?

Grundsätzlich schon, aber es sind neue dazugekommen. Wie wichtig die Gleichstellung und die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung ist, wie viele Hürden es für sie noch gibt im Alltag – das erfasst man erst richtig, wenn man betroffen ist.

Was sind das für Hürden?

Es gibt viele, aber jene, die man beseitigen könnte, sind die baulichen. Eigentlich müssten die Schweizer Bahnhöfe ja seit dem 1. Januar 2024 barrierefrei sein, nach 20-jähriger Übergangsfrist . . .

. . . aber viele sind es noch nicht. Was sagt das über den Stellenwert der Inklusion aus?

Dass man ein wenig so tut, als würde man das wollen. Aber es wird nicht genug dafür gemacht.

Kommt das bei Ihnen so an, dass das Thema den Gesunden letztlich ein wenig egal ist?

Das kann man so sagen. Oder vielleicht: nicht wichtig genug.

Wenn ein Bahnhof nicht barrierefrei ist, können Sie sich nicht allein bewegen.

Ja, und wenn man im Rollstuhl sitzt, dann ist es etwas Riesiges, etwas Unglaubliches, wenn man eigenständig reisen kann. Ich fühle mich dann wie ein richtiger Mensch. Als Mensch mit einer Beeinträchtigung will man autonom sein, beim Reisen, bei der Arbeit, beim Wohnen. Es geht um Teilhabe.

Wie eigenständig sind Sie in Ihrem Alltag noch?

Es gibt in meinem Fall viele Situationen, in denen ich Hilfe brauche. Darum ist es für mich auch so wichtig, dass das nicht auch noch dort der Fall ist, wo es anders ginge.

Wann brauchen Sie Hilfe?

Die schwierigste Zeit ist der Morgen. Ich kann nicht selber aufstehen. Brauche Hilfe beim Duschen, beim Anziehen. Wenn ich dann im Rollstuhl sitze, bin ich mobiler. Dann fühle ich mich wohl. Dann geht der Tag los.

Können Sie sich alleine fortbewegen?

Über kürzere Distanzen, ja, und wenn es trocken ist. Bei Regen wird es schwieriger. Und Schnee ist sehr schlecht. Längere Strecken sind komplizierter, da komme ich mir manchmal vor wie ein Reisebüro, weil ich so vieles abklären muss. Ist der Bahnhof barrierefrei? Wo brauche ich Hilfe? Von wem? Zum Glück bekomme ich viel Unterstützung.

Wie gehen Sie mit dem Autonomieverlust um?

Ich vermisse die Autonomie, auch die Flexibilität. Früher war ich auf der Überholspur unterwegs. Jetzt bin ich eingeschränkt. Man muss lernen, mit weniger zufrieden zu sein.

Wenn man nicht mehr der Alte sein kann – kann man dann einfach ein Neuer werden?

Ich sage mir, dass das ein neues Leben ist. Und aus diesem hole ich das Beste heraus. Natürlich verändert man sich, man lernt sich auch ganz anders kennen, wenn man so eingeschränkt ist. Ich bin eigentlich ein ungeduldiger Mensch, und das wird man nicht einfach so los. Jetzt brauche ich in ganz vielen Momenten Geduld, und muss lernen, das zu akzeptieren. Einfach ist das nicht.

Haben Sie einen Traum?

Der Traum wäre schon, dass wir wieder eine Art Aktivferien machen können, als Familie. Dass wir Erlebnisse wie früher haben. Das wäre grossartig. Über die Festtage fahren wir nach Sörenberg. Dort gibt es spezielle Rollstühle, die auf Ski stehen und von Skilehrern geführt werden. Ich habe mir vorgenommen, das auszuprobieren. Ich hoffe, dass ich mich traue.

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