Sonntag, November 17

Der Flugzeugbauer schreibt wegen massiver Qualitätsprobleme und einem langen Streik enorme Verluste. Die Arbeitnehmer haben ein neues Angebot der Geschäftsleitung abgelehnt und streiken weiter.

Es gilt ernst bei Boeing. Am Mittwoch hat der Flugzeugbauer vorläufige Zahlen bestätigt: Boeing hat im dritten Quartal mehr als 6 Milliarden Dollar an Verlust geschrieben. Die Aktien von Boeing, die seit Jahresbeginn bereits über 35 Prozent verloren hatten, gaben im Handel noch einmal um 2 Prozent nach.

Der seit August amtierende CEO Kelly Ortberg hat Mitarbeitern und Investoren nun einen radikalen Kulturwandel und mehr Zuverlässigkeit versprochen. «Das Vertrauen in unsere Firma ist erodiert», teilte er mit.

Offenbar auch das Vertrauen der Belegschaft. Später am Mittwochabend lehnten die Boeing-Arbeiter in Seattle, die sich seit über einem Monat im Streik befinden, ein neues Lohnangebot der Unternehmensspitze deutlich ab: Fast zwei Drittel stimmten für die Fortsetzung des Streiks. «Nachdem wir 10 Jahre lang Opfer erbracht haben, gilt es noch immer Boden gutzumachen», schreibt die Gewerkschaft dazu.

Stillstand in Seattle

Das Verdikt der Arbeiterschaft ist eine schwere Niederlage für Ortberg und verschärft die existenzielle Krise von Boeing weiter. Wie lange der Streik der 33 000 gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter am Hauptsitz bei Seattle noch andauern wird, ist offen. Boeing gerät derweil immer weiter in Lieferverzug und verbrennt täglich wertvolle Finanzreserven. 50 Millionen Dollar soll der Streik Boeing tagtäglich kosten, berechnete der Analyst der Bank of America.

Einzig ein Werk in South Carolina, das nicht gewerkschaftlich organisiert ist, produziert weiter. Allerdings wird dort nur die grosse Boeing 787 zusammengebaut, nicht das profitable «Arbeitspferd», die Boeing 737 Max.

Die Streikenden fordern unter anderem 40 Prozent mehr Lohn über den kommenden Vierjahreszyklus hinweg und die Wiedereinführung eines längst abgeschafften, grosszügigen Pensionssystems. Boeing hatte zunächst 25 Prozent, später 30 Prozent mehr Lohn angeboten. Die Vereinbarung, über die am Mittwoch abgestimmt wurde, hätte in den kommenden vier Jahren gestaffelte Lohnerhöhung von 35 Prozent vorgesehen. Die Pensionsleistungen wären verbessert worden und die Mitarbeiter hätten einen einmaligen Bonus von 7000 Dollar erhalten. Den früheren Pensionsplan hätten die Boeing-Mitarbeiter jedoch nicht zurückbekommen.

Die Probleme überlagern sich

Ratingagenturen warnen derweil, dass sie die Schuldtitel von Boeing auf Ramschniveau herunterstufen werden, wenn sich die finanzielle Lage nicht bessert. Das Unternehmen plant deshalb, bis zu 25 Milliarden Dollar an frischem Kapital aufzunehmen. Ortberg hat zudem bereits angekündigt, 17 000 Stellen zu streichen; das ist fast ein Zehntel der Belegschaft. Zudem verschiebt Boeing erneut die Lancierung des Langstreckenflugzeugs 777X. Jetzt auf 2026, sechs Jahre später als ursprünglich anvisiert.

Der Flugzeugbauer durchlebt ein schwarzes Jahr: Am 5. Januar brach mitten im Flug eine Tür aus einer Boeing-Maschine der Alaska Airlines, glücklicherweise ohne Todesfolge. Untersuchungen der Flugsicherheitsbehörde FAA zeigten jedoch schwere Qualitätsprobleme in der Fertigung, nicht nur bei Boeing selbst, sondern auch beim wichtigen Zulieferer Spirit Aerosystems, der den Rumpf der Flugzeuge zusammenbaut. Das Unternehmen aus Kansas war einst Teil von Boeing, wurde 2005 aber an eine Investmentfirma veräussert. Die Boeing-Spitze versprach diesen Sommer nun, Spirit Aerosystems wieder zurückzukaufen, um die Qualitätsprobleme in den Griff zu bekommen.

Auch im Weltraum- und Rüstungsgeschäft, dem zweiten Standbein von Boeing, steckt der Wurm drin. Der Konzern ist bei wichtigen Rüstungsaufträgen im Rückstand. Weil diese zu einem fixen Preis vereinbart wurden, trägt Boeing die Kosten der Verzögerung; derzeit rechnet der Konzern mit rund 2 Milliarden Dollar.

Unglücklicher Ausflug ins All

Zudem weist der Starliner, das erste bemannte Raumschiff von Boeing, eklatante Mängel auf. Der lange herbeigesehnte Testflug im Juni entwickelte sich zum PR-Desaster. Zwei amerikanische Astronauten flogen zwar mit einem Starliner zur Internationalen Raumstation. Der Start war zuvor aber mehrfach wegen technischer Probleme verschoben worden. Beim Flug zeigte sich, dass diese Probleme noch immer nicht richtig behoben waren.

Die Besatzung hätte nur wenige Tage im All bleiben sollen, doch die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa erachtete den Starliner als zu unzuverlässig, um ihr Personal darin zurück zur Erde zu transportieren. Anfang September kehrte das Raumschiff schliesslich unbemannt zurück. Die beiden Astronauten werden erst 2025 zurückgebracht – mit einem Raumschiff von SpaceX, dem von Elon Musk geführten Konkurrenten von Boeing.

Nicht nur die Aufsichtsbehörden, auch die Investoren verloren schliesslich die Geduld mit dem Flugzeugbauer. Im August ersetzte Kelly Ortberg den glücklosen David Calhoun als Boeing-Chef. Calhoun war 2020 selbst als Feuerwehrmann inmitten einer Krise an die Spitze des Unternehmens geholt worden, schaffte es aber nicht, das Blatt zu wenden. Analysten haben Ortberg, einen Veteran der Flugzeugbranche, in höchsten Tönen gelobt.

Ortberg sagt, dass der Kulturwandel von Boeing an der Spitze beginnen müsse, dass er und die Geschäftsleitung stärker in der Produktion und Entwicklung involviert sein müssten. «Wir müssen in den Fabrikhallen sein, in den Reparaturwerkstätten und in den Laboren», fordert Ortberg sein Führungsteam auf.

Er versucht gleichzeitig, die verbleibenden Stärken des Konzerns zu betonen. Die Kunden würden Boeing weiterhin das Vertrauen aussprechen. Das Unternehmen habe offene Bestellungen im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar.

Ist Boeing «too big to fail»?

All diese Aufträge müssen aber erst erfolgreich und möglichst profitbringend abgearbeitet werden; eine grosse Herausforderung. Boeing hat seit 2018 keinen Jahresgewinn mehr geschrieben.

2018 und 2019 stürzte je eine Boeing 737 Max 9 in erster Linie wegen fehlerhafter Software ab, in Indonesien und in Äthiopien. Fast 350 Flugpassagiere starben. Das brachte einen enormen Reputationsverlust und aufwendige Gerichtsprozesse mit sich. Diesen Sommer bekannte sich Boeing in den USA schuldig, die Luftfahrtbehörden im Vorfeld der Unfälle in die Irre geführt zu haben. 2020 brachte die Pandemie die Lieferketten durcheinander; zudem gerieten die Airlines, die wichtigsten Kunden von Boeing, in schwere Nöte.

Der Konzern hat zweifellos die Kapazität, wieder abzuheben, wenn er die Produktions- und Qualitätsprobleme in den Griff bekommt. Rund 6000 Flugzeuge haben Airlines bei Boeing bestellt, aber noch nicht erhalten. Die Kunden bleiben dem Flugzeugbauer auch deshalb so treu, weil ihnen wenig anderes übrigbleibt. Der grosse Konkurrent Airbus ist zwar erfolgreicher unterwegs, kann die Produktion aber auch nicht beliebig steigern. Auch bei Airbus stehen die Fluggesellschaften jahrelang Schlange, bis sie ihre bestellten Flugzeuge erhalten.

Zudem haben in den USA Protektionismus und Industriepolitik derzeit Aufwind. Spitzenpolitiker erklären selbst zweitrangige Unternehmen wie den Stahlhersteller US Steel zu nationalen Heiligtümern, die vor einem Verkauf ins Ausland gerettet werden müssen. Es scheint daher undenkbar, dass die Vereinigten Staaten einen Konzern wie Boeing – der für die amerikanische Luftfahrt- und Rüstungsindustrie tatsächlich ein zentraler Akteur ist – untergehen liesse. Es erstaunt nicht, dass die Regierung von Joe Biden auch bei den jüngsten Lohnverhandlungen von Boeing mit der Gewerkschaft als Vermittlerin stark engagiert war.

Es ist aber fraglich, ob Boeing je wieder so profitabel sein wird wie in den Boomjahren bis 2018. Der Flugzeugbauer investierte damals zu wenig in die Qualität der Fertigung und in technische Innovation, und zahlte die Gewinne stattdessen seinen Aktionären aus. Auch die Verstimmung der Belegschaft in Seattle, die sich im Streik niederschlägt, geht auf jene Jahre zurück.

Um langfristig mit Airbus mitzuhalten, kann Boeing aber nicht nur auf Verbesserungen seiner bestehenden Verkaufsschlager setzen. Irgendwann wird Boeing auch wieder ein neues Flugzeug entwickeln müssen.

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