Samstag, Oktober 5

Die Landesregierung hat nach dem Abgang von Berset, Maurer und Sommaruga an Kanten verloren. Mit der Bürgenstock-Konferenz hat das neue Gremium einen ersten Test bestanden. Doch es rumpelt spürbar. In der zweiten Jahreshälfte folgt die kollegiale Bewährungsprobe.

Auf diese Idee muss man zuerst kommen. Sieben Politiker aller grossen Parteien von links bis rechts sollen gemeinsam ein Land regieren, keiner ist der Chef, alle sind gleichberechtigt. Das ist einerseits eine verrückte Idee, andererseits das Konzept der Schweizer Landesregierung seit 1848. So funktioniert der Bundesrat. Wenn er funktioniert. Die Zusammensetzung ist entscheidend. Mitunter sind menschliche Faktoren wichtiger als politische, prallen Charaktere härter aufeinander als Weltbilder. Die Geschichten über Fehden, Fights und Flügelkämpfe sind legendär – und nicht alle sind übertrieben.

Wie läuft es heute? Nach bewegten Jahren ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. In den letzten anderthalb Jahren sind drei der sieben Regierenden neu dazugestossen und wichtige Departemente getauscht worden. Seit Anfang Jahr ist das Septett in der heutigen Formation unterwegs. Die Bühne verlassen haben drei Bundesratsmitglieder, die man in Bern gern als «starke Figuren» bezeichnet: Simonetta Sommaruga, Ueli Maurer und Alain Berset. Alle waren auf ihre Art einflussreich, als Identifikationsfiguren haben sie die Wahrnehmung des Bundesrats im Land geprägt.

Ihre Nachfolger sind, bei allen Unterschieden, etwas durchschnittlicher: weniger auffällig und markant, etwas biederer und braver. Das kann Vor- und Nachteile haben. Grundsätzlich aber hat der Bundesrat mit Elisabeth Baume-Schneider, Albert Rösti und Beat Jans an Ecken und Kanten verloren, an Sicht- und Lesbarkeit wohl auch.

Intern haben sich die gruppendynamischen Kräfte offensichtlich verschoben. Die starken Figuren, die entschlossenen Regenten mit spürbarem Gestaltungswillen sind weniger geworden. Nach breitem Konsens ist Karin Keller-Sutter nunmehr die mächtige Frau im Bundesrat. Viele sehen Albert Rösti als zweiten wichtigen Kopf mit Ambitionen, zumal er gut mit Keller-Sutter harmoniere.

Vermisst wird: die Bundespräsidentin

Gestritten wird weiterhin, aber nicht mehr in dem Ausmass wie vor zwei Jahren, vor allem nicht mehr derart öffentlich. Damals machte in Bern ein böses Wort die Runde: «dysfunktional». Das war übertrieben, aber auch nicht ganz unbegründet. Die Symptome einer Vertrauenskrise traten offen zutage: Indiskretionen, eigenmächtige Ankündigungen, fehlende Absprachen, öffentlich ausgetragene Differenzen. Betroffen waren Fragen zum Krieg in der Ukraine, zum EU-Dossier oder zu den neuen Kampfjets. Später kamen die «Corona-Leaks» hinzu, jene Affäre, die das Vertrauen wohl am stärksten untergraben hat.

Derartige Verwerfungen sind heute kaum zu verzeichnen. Zwar gibt es weiterhin Unstimmigkeiten und gezielte Indiskretionen, daneben sind aber auch Lichtblicke zu erkennen. Der vielleicht wichtigste betrifft die Konferenz auf dem Bürgenstock. Unabhängig davon, wie viel sie zum Frieden in der Ukraine beitragen wird, lässt sich aus einer helvetischen Innensicht Positives konstatieren: Obwohl die Veranstaltung auch innerhalb des Bundesrats sehr umstritten war, ist es dem Gesamtgremium gelungen, sie im grossen Ganzen würdig und störungsfrei über die Bühne zu bringen, ohne Querschüsse und Trotzreaktionen aus den skeptischen Departementen. Man hat sich zusammengerauft.

Das schafft der Bundesrat nicht immer. Eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart – die Finanzierung der Armee – sorgt seit Monaten für Streit im Grenzbereich der Kollegialität. Die schwer interpretierbare Hauptrolle spielt die Verteidigungsministerin Viola Amherd. Da sie dieses Jahr auch als Bundespräsidentin fungiert, scheint das zermürbende Hickhack um das Militärbudget das Gremium über Gebühr zu belasten. Auch wenn die Bundespräsidentin keine echte Regierungschefin ist, hat sie doch wichtige Aufgaben: Sitzungen vorbereiten und leiten, bei Differenzen vermitteln, ein kollegiales Klima schaffen. Davon ist zurzeit laut Aussagen aus mehreren Departementen nicht viel zu spüren.

Wer kann und will die grossen Linien erklären?

Auch bei anderen Themen liefert sich der Bundesrat öffentlich sichtbare Dispute. Auffällig oft ist der Novize Jans involviert. Bereits zweimal ist er mit bürgerlichen Kollegen kollidiert: bei der Frage, ob das geplante Paket von Verträgen mit der EU dem Ständemehr unterstehen soll, sowie beim Umgang mit dem umstrittenen Klima-Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte.

Im zweiten Fall hat das Departement Rösti dem Vernehmen nach ein Exempel statuiert: Als Jans an einer Bundesratssitzung mit einer Info-Notiz kurz und knapp kundtun wollte, wie das Bundesamt für Justiz beim Klima-Urteil vorzugehen gedenke, grätschte Rösti mit einem ausgewachsenen Mitbericht dazwischen und pochte vehement auf die materielle Zuständigkeit seines Departements. Seither herrscht öffentlich Funkstille in dem Dossier.

Untätig ist der Bundesrat in einer fundamental wichtigen Frage: wie weiter mit der Neutralität? Den dornenreichen Fragen rund um Waffenlieferungen und Sanktionen geht er seit zwei Jahren aus dem Weg. Aussenminister Ignazio Cassis scheiterte bei den Kollegen mit seinem Konzept der «kooperativen Neutralität»; die heutige Praxis genüge, befand das Gremium. Kritiker finden, der Bundesrat reagiere, statt zu regieren. Er lasse sich treiben und komme seiner ureigenen Aufgabe in der Aussenpolitik nicht nach: strategische Orientierung schaffen.

Diese Klage ist oft zu hören: Dem Bundesrat in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung gelinge es nicht, die grossen Linien seiner Politik zu zeichnen und überzeugend zu erklären, seine Pläne und Argumente klar und mutig darzulegen. Was hat er denn nun mit der Armee genau vor? Wie geht es weiter mit der AHV? Was bringen die neuen Verträge mit der EU? Falls der Bundesrat es weiss, was zu hoffen ist, sollte er es auch dem Volk erklären. Wohltemperierte Reden vor freundlichem Publikum werden wohl nicht reichen.

Das Geld und die EU – der doppelte Stresstest

In der zweiten Jahreshälfte haben die sieben Gelegenheit, sich zu beweisen. Gleich zwei Themen stehen auf dem Programm, die jedes für sich die Kollegialität auf eine harte Probe stellen: die Sanierung des Bundeshaushalts und das EU-Dossier. Der Streit um das Geld dürfte im Spätsommer eskalieren, wenn die vom Bundesrat eingesetzte Expertengruppe ihre Sparvorschläge präsentiert. Die Fehlbeträge sind gross, die Widerstände gegen Kürzungen noch grösser, auch in den betroffenen Departementen und Ämtern – also in praktisch allen.

Nicht minder explosiv ist das EU-Vertragspaket. Die Verhandlungen werden voraussichtlich frühestens Ende Jahr abgeschlossen. Die Signale über den Fortgang der Gespräche sind unterschiedlich. Grösster Streitpunkt ist die Zuwanderung, insbesondere das Anliegen der Schweiz, einen Schutzmechanismus festzulegen für den Fall, dass die Zuwanderung aus den EU-Ländern überdurchschnittlich hoch bleibt. Auch hier stehen sich Rösti («Es braucht kein Stromabkommen mit der EU um jeden Preis») und Jans («Wir brauchen eine Einigung mit der EU») als Antipoden gegenüber.

Es ist gut möglich, dass der Bundesrat bald einmal zu vielstimmig wird. Zumal sich seine Stabsstelle, die Bundeskanzlei, die für die (einheitliche) Kommunikation verantwortlich ist, in einem personellen Umbruch befindet. Die Suche nach einem neuen Bundesratssprecher und Vizekanzler, der die Stelle des im Mai unerwartet verstorbenen André Simonazzi übernehmen soll, läuft. Der Bundeskanzler Viktor Rossi ist erst seit Anfang Jahr im Amt. Er gilt als fähig und integer, doch punkto Autorität und politischen Einflusses kommt er an seinen Amtsvorgänger Walter Thurnherr nicht heran. Die zweite Vizekanzlerin Rachel Salzmann hat ihre Stelle gerade erst angetreten. Es wird Zeit brauchen, bis sich die neue Spitze der Bundeskanzlei gefunden hat.

Diese Zeit hat der Bundesrat nicht. Die Spardebatte drängt, das EU-Dossier ebenfalls. Wie die sieben diesen doppelten Stresstest meistern, wie viele Dissonanzen sie sich erlauben, wie viele Hängepartien und wie viele Indiskretionen – daran wird man erkennen, ob das Kollegium tatsächlich eines ist.

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