Donnerstag, November 13

Starmer erstickte souverän die Anarchie Tausender Protestierender mit kurzen Prozessen und hohen Haftstrafen. Die dahinter stehenden sozialen Probleme sind aber eine ganz andere Herausforderung.

Die Startbedingungen waren ein Albtraum. Kaum waren die Parlamentswahl gewonnen und der Einzug des neuen Premierministers Keir Starmer im Regierungssitz an der Downing Street geschafft, brachen in Grossbritannien die schwersten Unruhen seit mehr als einem Jahrzehnt aus. Das Parlament weilte in den Sommerferien, Starmer war auf dem Weg in die Ferien, und plötzlich brannten die Strassen zahlreicher britischer Städte.

Es gibt kaum einen Politiker, der besser auf diese Herausforderung hätte vorbereitet sein können, als Keir Starmer. Während der letzten schweren Unruhen in London 2011 stand der Jurist der englischen Generalstaatsanwaltschaft vor. Er war federführend für das damalige harte Vorgehen der Justiz verantwortlich, welche die Gewalt und Anarchie Tausender Protestierender mit kurzen Prozessen und hohen Haftstrafen nach zwei Wochen erstickte.

Als Starmer 2020 die Führung Labours übernahm, räumte er mit eindrücklicher Konsequenz und Härte in der eigenen Partei auf, um sie nach dem gescheiterten Flirt mit dem altbackenen Sozialisten Jeremy Corbyn wieder mehrheitsfähig zu machen. Viele Anhänger Corbyns wurden aus der Partei gedrängt, das unter ihm grassierende Übel des Antisemitismus wurde ausgemerzt, der uneinsichtige frühere Parteichef wurde aus der Fraktion ausgeschlossen. Der überwältigende Wahlsieg Labours am 4. Juli gab Starmers Strategie und Konsequenz recht.

Härte, Recht und Ordnung schaffen Ruhe

Mit denselben Stärken hat Starmer auch die erste Bewährungsprobe seiner jungen Amtszeit als Premierminister bestanden. Ohne eine Sekunde zu zögern, prangerte er die Gewalt auf englischen Strassen an und drohte den Randalierern mit der vollen Härte des Rechtsstaats. Dabei hatte er alle grossen Parteien und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Mit dem gleichen Vorgehen wie 2011 wurden schliesslich die Krawalle beendet: Kaum waren die Festnahmen sprunghaft angestiegen und die ersten abschreckend hohen Gefängnisstrafen von mehreren Jahren gegen Randalierer ausgesprochen, verliefen sich die Proteste und Plünderungen rasch.

Seither ist Ruhe auf britischen Strassen eingekehrt. Und auch die politischen Debatten über die schockierende Eruption roher Gewalt in der britischen Öffentlichkeit halten sich in gemässigten Bahnen. Doch damit sind keine der Probleme gelöst, die hinter dem jüngsten Gewaltausbruch stehen. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis sie Keir Starmer wieder beschäftigen werden.

Noch am einfachsten lösbar scheint das Problem zu sein, dass die von Starmer geforderten harten Strafen gegen Hunderte Randalierer das britische Gefängnissystem zusätzlich belasten werden. Dieses steht jetzt schon vor dem Kollaps wegen Überfüllung, weshalb Kriminelle im Normalfall bereits nach Absitzen der Hälfte ihrer Strafe freigelassen werden. Als Notlösung wird eine Entlassung schon nach Absitzen von 40 Prozent der Strafe diskutiert.

Ungelöste soziale Probleme

Viel schwieriger ist die Entschärfung der sozialen Hintergründe der Unruhen. Deren Schwerpunkte lagen in wirtschaftlich zurückgebliebenen nordenglischen Provinzstädten. Die bis anhin bekannten Profile von verurteilten Randalierern zeigen, dass viele einer sozialen Unterschicht entstammen: Sie leben von Sozialhilfe, sind schlecht ausgebildet, gehen keiner geregelten Tätigkeit nach und sind oft schon vorbestraft.

Diese Schwierigkeiten sind keineswegs neu. Schon die letzten Labour-Regierungen unter Tony Blair und Gordon Brown hatten vor einem Vierteljahrhundert versprochen, diesen Leuten und Regionen neue Zukunftsperspektiven zu geben. Unter Blair wurden bahnbrechende Sozialreformen lanciert. Auf sie folgte mit David Cameron ein konservativer Premierminister, der sich denselben Zielen verschrieb und ebenfalls eine Sozialreform umsetzte. 2019 kam Boris Johnson an die Macht, der dem Norden Englands grosse Investitionen versprach und damit grosse Hoffnungen weckte, ohne diese zu erfüllen. Das Problem ist über die Zeit immer nur grösser geworden.

Die jüngsten Unruhen standen im Zeichen des Protests gegen Einwanderer. Auch das hat einen realen Hintergrund, die Nettoeinwanderung ist in den letzten zwanzig Jahren markant gestiegen und lag jüngst mit Werten von mehr als 600 000 pro Jahr auf einem Rekordniveau. Zwar ist Grossbritannien sehr gut im Integrieren von Zuwanderern aus aller Welt, doch laut Umfragen hält eine Mehrheit der Bevölkerung das Tempo für zu hoch. Besonders die soziale Unterschicht fühlt sich davon bedrängt.

Wie die Vorgängerregierungen macht auch das neue Kabinett von Keir Starmer grosse Versprechungen, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Doch auch sie hat keine überzeugenden Konzepte, wie die Strukturschwäche im deindustrialisierten Norden Englands, die soziale Abhängigkeit und die Verwahrlosung grosser Teile der Unterschicht, die Neid und Abwehr auslösende Asyl-Einwanderung oder die wirtschaftlich motivierte hohe legale Einwanderung markant reduziert werden könnten. Nicht zuletzt fehlt es auch Labour, wie der letzten Tory-Regierung, überall an Geld für Investitionen. Nach dem starken Start von Premierminister Starmer sind Enttäuschung und Rückschläge programmiert.

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