Smith fliegt auf der alten Bolgenschanze auf 45 Meter. Und prägt mit seinen Brüdern die Schweizer Skigeschichte. Obwohl Smith einst geraucht hat, wird er fast 100-jährig.
Es ist aus heutiger Sicht kaum zu glauben, aber Davos ist Anfang des letzten Jahrhunderts ein Hotspot der internationalen Skisprungszene. Als am 28. Februar 1909 die alte Bolgenschanze eingeweiht wird, gibt es gleich einen Skiflug-Weltrekord zu bestaunen, zum ersten Mal überhaupt auf Schweizer Boden.
Der Norweger Harald Smith landet vor 1200 Zuschauern bei 45 Metern und überbietet seine eigene Bestmarke, die er nur eine Woche davor in Bardonecchia aufgestellt hat. Beim Bau jener Schanze in Piemont, die nach ihm benannt wurde, hatte Smith sogar selber Hand angelegt.
Sein ein Jahr jüngerer Bruder Trygve wäre in Davos noch einen Meter weiter geflogen. Doch weil er bei der Landung stürzt, wird seine Weite nicht als Rekord anerkannt. Chronisten berichten, ihm sei «infolge des starken Aufschlages» eine Skispitze abgebrochen.
Auch Hjalmar, der älteste der drei Smith-Brüder, fliegt über Schanzen. Und gemeinsam prägt das aus dem heutigen Oslo stammende Trio ein Stück Schweizer Skigeschichte. Von ihrem Wirken zeugen Dokumente, die unterdessen im Skimuseum Bad Ragaz ausgestellt sind. Dessen Gründer hat speziell die Karriere von Harald Smith nachgezeichnet.
Aber wie kommt es, dass die Familie Smith hierzulande solche Spuren hinterlassen hat?
Skiproduktion in St. Moritz und im Thurgau
Es ist um 1905, als die Brüder wie andere Norweger in die Schweiz eingeladen werden, damit sie ihr Wissen weitervermitteln, gilt doch ihr Land in der Skientwicklung als sehr fortschrittlich. Das Trio hat in der Heimat erfolgreich mehrere Skidisziplinen ausgeübt; Harald Smith gewann die goldene Holmenkollen-Medaille, die höchste Auszeichnung des norwegischen Skisports, die vom schwedischen König überreicht wurde (der damals noch in Norwegen Einfluss hatte). Smith errang zudem einen «Damenpokal», welcher Athleten ehrte, die nicht nur erfolgreich, sondern auch höflich, charmant und gebildet waren.
Die Brüder hatten eine grundsolide Ausbildung genossen; Harald war bei der Marine und absolvierte ein Architekturstudium. Doch lieber scheinen die Smiths als Ski-Instruktoren tätig gewesen zu sein, vor allem im Engadin und im Berner Oberland. Es gibt Quellen, wonach Harald auch ein Förderer von Karl Molitor gewesen sei, der in seinem Heimatort Wengen als Rekordsieger der Lauberhornrennen in die Annalen eingegangen ist.
Zu den Kunden der Smiths zählen Leute aus dem Volk ebenso wie militärische Gebirgstruppen, Fürstliche und Adlige. Die Kurse der Smiths erfreuen sich grosser Beliebtheit. Originelles Detail am Rande: Aus jener Epoche finden sich Ausschreibungen, in denen betont wird, dass bei entsprechender Hotelbuchung auch «Licht und Heizung» im Preis inbegriffen seien.
In St. Moritz demonstrieren die Brüder nicht nur, was ein Slalom und was Skijöring ist, sie betreiben auch eine eigene Skifabrikation. Und legen Augenmerk darauf, gute Bindungen für ihre Holzski zu entwerfen. Denn damals kommt es gerne vor, dass sich während eines Sprungs ein Ski vom Fuss löst.
Weil unter Erfindern ein grosser Konkurrenzkampf herrscht, melden die Smiths ihre Innovationen unverzüglich beim Patentamt an. Sie präsentieren ihre Produkte auch an der Schweizerischen Landesausstellung von 1914 in Bern. Zu jenem Zeitpunkt sind sie mit ihrer Fabrikation bereits nach Diessenhofen im Kanton Thurgau gezügelt, später ziehen sie nach Oberösterreich weiter.
Der jüngste Bruder, Trygve, ging zunehmend eigene Wege. Er nahm als Tennisspieler an den Olympischen Spielen 1912 teil und stand im Dienste einer französischen Baroness. Er soll sie beraten haben, als sie im Ersten Weltkrieg Pläne schmiedete, um in ihrem Heimatland ein Skigebiet nach St. Moritzer Vorbild zu konzipieren. Ihre Wahl fiel auf das Bauerndorf Megève, das sonst kaum je einen Boom erlebt hätte.
Das Skispringen können die Smith-Brüder noch lange nicht lassen. Sie wirken auch als Sprungrichter.
Harald Smith überlebt die Bolgenschanzen bei weitem
1931 gibt es noch einmal einen Skiflug-Weltrekord in Davos, zum zweiten und letzten Mal. Sigmund Ruud, einem Landsmann des früheren Rekordhalters Harald Smith, gelingt ein Satz auf 81,5 Meter. Ruud springt bereits über die neue und grössere Bolgenschanze, die ein paar hundert Meter neben der alten errichtet worden ist.
Harald Smith dürfte auch mit Interesse verfolgt haben, wie nach dem Zweiten Weltkrieg ein gebürtiger Davoser in die Weltelite der Skiflieger vordrang: Andreas Däscher. Ist die Generation um Smith noch mit weit nach vorne gestreckten Armen gesprungen, revolutioniert Däscher seinen Sport in den fünfziger Jahren, indem er seine Arme nah am Körper nach hinten drückt, was an die Achtungsstellung aus dem Militär gemahnt. Eine zunächst umstrittene Technik, die auch Fisch-Stil genannt wird. Oder Finnen-Stil, weil die finnischen Springer mit diesem die norwegische Dominanz durchbrechen.
Smith wird in der Schweiz sesshaft und verbringt seine letzten Dezennien in Bad Ragaz. Im St. Galler Kurort vertreibt er norwegische Sportartikel, und er soll bis ins Alter von achtzig Jahren als Ski- und Tennislehrer gearbeitet haben. Seine Frau, eine Wienerin, führt einen Laden im Dorf.
Harald Smith ist auch dabei, als der örtliche Golfklub zu einem der wichtigsten der Schweiz aufsteigt. Die Golfplätze in Bad Ragaz waren im Zweiten Weltkrieg vom «Plan Wahlen» und der Anbauschlacht tangiert, die der Bevölkerung die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sichern sollte. Es wurden auf den Greens plötzlich Mais, Kartoffeln, Rüebli und Sommergerste angepflanzt. Doch nach dem Krieg erlebt der Golfklub eine Hausse – und Smith übernimmt als sogenannter Golf-Pro die Oberaufsicht auf der Anlage und erteilt auch in dieser Sportart Lektionen.
Die Davoser Bolgenschanzen werden nicht allzu alt; die neuere der beiden wird Mitte der sechziger Jahre geschlossen. Es hätte sich eine Renovation aufgedrängt, aber es fehlt an Geld. Und so überlebt Harald Smith diese Schanzen bei weitem. Obwohl er einst geraucht hat, erfreut er sich lange guter Gesundheit. Kurz vor seinem Tod im Frühling 1977 sagt Smith im Gespräch mit einer Redaktorin, er laufe in Bad Ragaz mit knapp 98 immer noch regelmässig zum Bahnhof, um sich die Zeitung «Sport» zu besorgen.
Am Ende sollte er trotzdem einmal nicht die Nummer eins in seiner Familie sein – denn der ältere Bruder Hjalmar wird über 100-jährig.