Mittwoch, Oktober 2

Der Historiker Allan Lichtman hat fast alle Sieger der vergangenen zehn Präsidentschaftswahlen korrekt prognostiziert. In diesem Jahr setzt er auf Kamala Harris. Wie und warum er dazu kommt, erklärt der 77-Jährige im Interview.

Allan Lichtman hat manche Talente und viel Ausdauer. In seiner Jugend glänzte er als Hindernisläufer. Später lernte ihn das amerikanische Fernsehpublikum in der Quizsendung «Tic Tac Dough» als Mann unerschöpflichen Wissens kennen – er gewann über 100 000 Dollar. Der 77-jährige Jogging-Sportler rennt immer noch täglich seine Runden. Auch bei der nächsten Senioren-Olympiade geht er an den Start. Und der Geschichtsprofessor unterrichtet weiterhin – wie seit 1973 – an der American University in Washington.

So richtig berühmt wurde Lichtman aber durch seine dreizehn «Schlüssel zum Weissen Haus». Bei diesen handelt es sich um Faktoren, die bei Präsidentschaftswahlen über Sieg oder Niederlage entscheiden können: wie etwa das Charisma der Kandidaten, die Wirtschaftslage, Skandale im Weissen Haus oder erfolgreiche Gesetzesprojekte der Regierungspartei. Mit diesem System sagte Lichtman bei 9 der 10 letzten Präsidentschaftswahlen den Sieger korrekt voraus. Deshalb gilt er als «Nostradamus» oder «Prophet» für das Rennen um das Weisse Haus. Kürzlich wagte Lichtman auch in diesem Jahr eine Prognose.

Herr Lichtman, Sie sind überzeugt, dass Kamala Harris die Präsidentschaftswahl gewinnen wird. Aber die Umfragen sind nicht so eindeutig. Warum sind Sie sich zwei Monate vor dem Wahltermin so sicher?

Meine Prognose ignoriert die Umfragen. Das sind nur Momentaufnahmen, keine Voraussagen. Ich gehe von dem aus, wie amerikanische Präsidentschaftswahlen wirklich funktionieren. Die dreizehn Schlüssel messen die Stärke und den Leistungsausweis der Partei im Weissen Haus. Dabei gibt es eine exakte Entscheidungsregel. Wenn sich sechs oder mehr Schlüssel gegen die Regierungspartei wenden, wird sie verlieren. Wenn nicht, wird sie gewinnen. Dieses System hat eine unübertroffene Erfolgsbilanz – seit Ronald Reagans Wiederwahl 1985. Meine Prognose erfolgte schon drei Jahre vorher, während der schwersten Rezession seit der Grossen Depression, als Reagans Umfragewerte im Keller waren.

Kritiker werfen Ihnen jedoch vor, dass Sie im Jahr 2000 fälschlicherweise einen Sieg von Al Gore gegen George W. Bush prognostizierten. Sie aber behaupten, Ihre Prognose sei auch damals richtig gewesen. Warum?

Bill Maher fragte mich in seiner Late-Night-Show, warum ich die Prognose 2000 vermasselt hätte. Aber ich habe sie nicht vermasselt, Florida hat es verbockt. Ich sagte die Absicht der Wähler richtig voraus. Gore hätte gewinnen sollen. Florida sortierte jede neunte bis zehnte Stimme eines Afroamerikaners aus. Bei weissen Wählern wurde nur jede fünfzigste Stimme für ungültig erklärt. Wäre die Ausschussquote (bei Schwarzen und Weissen) gleich gross gewesen, hätte Gore Zehntausende von Stimmen mehr erhalten. Bei der Mehrheit der aussortierten Stimmen handelte es sich um sogenannte «overvotes». Die afroamerikanischen Wähler stanzten ihre Wahlkarten bei Gore. Aber um sicherzugehen, schrieben sie auch noch seinen Namen rein. Florida hat diese Karten rausgeworfen. Eine unabhängige Studie bestätigte dies. Deshalb sage ich, dass ich richtiglag. Aber wir könnten ewig über 2000 streiten.

Um Ihre dreizehn Schlüssel zu finden, haben Sie alle Präsidentschaftswahlen seit 1860 analysiert. Aber dieses Jahr ist die Ausgangslage speziell. Ein abgewählter Präsident tritt erneut an, die Demokraten nominieren die Vizepräsidentin statt den Amtsinhaber. Das ist doch einmalig?

Alle vier Jahre sagen viele zu mir: Oh, diese Wahl ist anders, du musst deine Schlüssel ändern. Aber die Schlüssel sind der Nordstern der Wahlprognose. Sie bleiben bei allen Veränderungen konstant. Sie im Flug zu ändern, wäre fatal. Wie Sie erwähnt haben, geht das System zurück bis 1860. Frauen hatten damals kein Stimmrecht. Die Afroamerikaner waren Sklaven. Es gab keine Autos und keine Flugzeuge, kein Radio und kein Fernsehen. Wir hatten eine Agrarwirtschaft. Dass die Schlüssel sich als derart zuverlässig erwiesen, gibt mir Zuversicht – unabhängig von den stets einzigartigen Umständen einer Wahl.

Ihre Schlüssel haben Sie vor 40 Jahren gemeinsam mit dem sowjetischen Seismologen Wladimir Keilis-Borok entwickelt. Wie kam es dazu, dass ein amerikanischer Historiker damals auf einen sowjetischen Erdbebenspezialisten traf?

Im Jahr 1981 waren wir beide Gastwissenschafter am California Institute of Technology und wurden sofort Freunde. Keilis-Borok hatte die Idee für eine Zusammenarbeit. Er war der weltführende Experte für die Voraussage von Erdbeben. Aber er sagte mir, er habe seine Methode zur Prognose von Erdbeben schon immer auf Wahlen anwenden wollen. Er meinte: «Ich lebe in der Sowjetunion. Da gibt es keine Wahlen. Aber du bist ein Experte für die wichtigsten Wahlen der Welt, die amerikanischen Präsidentschaftswahlen.» Und so wurden wir zu diesem seltsamen Paar der politischen Analyse.

Und was genau haben Erdbeben mit amerikanischen Wahlen gemeinsam?

Wir machten zwei entscheidende Innovationen. Erstens verstanden wir Präsidentschaftswahlen nicht als Carter gegen Reagan oder Demokraten gegen Republikaner. Wir gingen von Stabilität oder einem Erdbeben aus. Bei Stabilität bleibt die Regierungspartei im Weissen Haus an der Macht. Bei einem Erdbeben verliert sie die Macht. Zweitens schauten wir bewusst nicht auf Wählergruppen oder Umfragen. Stattdessen wendeten wir Keilis-Boroks Methode während sämtlicher Präsidentschaftswahlen von Abraham Lincoln 1860 bis Ronald Reagan 1980 an. So fanden wir die dreizehn Schlüssel und die entscheidende Sechs-Schlüssel-und-du-bist-draussen-Regel.

Also wenn ein Amtsinhaber wieder gewählt wird, heisst dies Stabilität. Wenn er abgewählt wird, ist es ein Erdbeben?

Ein politisches Erdbeben. Wenn der Amtsinhaber mehr als sechs Schlüssel verliert, ist er draussen.

Können Sie auch voraussagen, ob es einen klaren oder knappen Wahlsieg gibt?

Es gibt einen leichten Zusammenhang zwischen den Schlüsseln und einer klaren oder knappen Wahl. Aber das sage ich nicht voraus. Ich nenne die wichtigste Sache: die Gewinner und Verlierer. Alle vier Jahre lehne ich mich deshalb weit aus dem Fenster, weil ich entweder richtig oder falsch liege. Und ich sage Ihnen, alle vier Jahre werde ich sehr nervös – auch mit 77 Jahren. Alle vier Jahre mache ich das halbe Land wütend auf mich. Und nach 40 Jahren ist das ganze Land wütend auf mich. Aber meine Prognosen haben nichts mit meiner politischen Einstellung zu tun. Ich habe die zwei konservativsten Präsidenten unserer Zeit vorausgesagt: Reagan und Trump. Genauso wie progressive Präsidenten wie Obama und nun Harris.

Schauen wir die Schlüssel in diesem Jahr etwas genauer an. Welche Schlüssel waren 2024 für Sie die entscheidenden?

Der entscheidende Schlüssel hat mit Bidens Rückzug zu tun. Ich habe die Demokraten hart dafür kritisiert, dass sie ihren amtierenden Präsidenten öffentlich demontierten. Ich dachte, dass sie auf eine Katastrophe zusteuern, dass sie den Schlüssel des Amtsinhabers verlieren und einen parteiinternen Streit riskieren würden. Eine offene Kampfwahl hätte sie einen weiteren Schlüssel – den «contest key» – gekostet. Aber dann besannen sich die Demokraten und stellten sich geeint hinter Harris. Deshalb verloren sie nur den Schlüssel des Amtsinhabers.

Und welche Schlüssel waren auch noch entscheidend?

Die Nomination von Harris wirkte sich positiv auf zwei andere Schlüssel aus. Mit Harris im Rennen müssen die Wähler sich nicht mehr zwischen zwei alten weissen Männern entscheiden. Das trug dazu bei, dass die Kampagne von Robert F. Kennedy sich totlief. Das sicherte den Demokraten den «third-party key» (den Schlüssel der unabhängigen Kandidaten). Harris hatte auch einen positiven Einfluss auf den Schlüssel der sozialen Unruhen. Biden war der Architekt der Regierungspolitik. Da er nun nicht mehr im Vordergrund steht, schwächten sich die sozialen Proteste (gegen den Krieg in Gaza) ab. Um diesen Schlüssel zu wenden, müssten die Proteste massiv und anhaltend sein, so dass die gesellschaftliche Stabilität gefährdet wäre.

Und bei welchen Schlüsseln war auch für Sie eine Prognose schwierig?

Die unsichersten Schlüssel sind jene zu aussenpolitischen Erfolgen und Misserfolgen. Sie sind immer noch unklar, weil es zwei anhaltende Kriege gibt. Und niemand weiss, was in einem Krieg noch passieren kann. Aber es würde keine Rolle spielen. Auch wenn sich diese beiden Schlüssel gegen die Demokraten wenden, gäbe es keine sechs negativen Schlüssel, und die Prognose spräche immer noch für Harris.

Sie sehen Harris auch bei der Wirtschaftsentwicklung im Vorteil. Gemäss Umfragen sehen die Wähler jedoch die Inflation als ihr grösstes Problem. Wie passt das zusammen?

Umfragen zur Wirtschaft hängen stark davon ab, wie die Fragen formuliert sind. Zudem ist die Fehlerquote viel grösser als die oft genannten 3 Prozent. Hinzu kommen Leute, die nicht antworten, die lügen oder keine Meinung haben. Und schliesslich weiss niemand, wer wirklich wählen gehen wird. Unser System hingegen ist stabil, die Schlüssel sind unveränderlich. Kurzfristig ist keine Rezession zu erwarten. Langfristig bleibt das reale Pro-Kopf-Wachstum in der laufenden Amtszeit mindestens gleich gross wie in den beiden vorherigen Amtszeiten. Beide Schlüssel zur Wirtschaft, der kurzfristige und der langfristige, sind positiv für Harris.

Das zweite grosse Thema, das den Amerikanern unter den Nägeln brennt, ist die rekordhohe Zahl von Migranten, die unter Biden illegal über die Südgrenze kamen. Das können Sie doch nicht ignorieren?

Sagen Sie nicht, dass ich Dinge ignoriere! Nichts ändert sich, bis etwas einen Schlüssel beeinflusst. Eine Wahlprognose ist nicht möglich, indem man einzelne Themen oder Kampagnen analysiert. Auf dieser Grundlage hätte Hillary Clinton einen überwältigenden Sieg feiern sollen. Sie gewann jede Debatte, sammelte mehr Spendengelder, schaltete mehr Werbung, war besser organisiert und erfahrener. Aber entgegen allen Experten und Meinungsforschern sagten unsere Schlüssel den Sieg für Trump korrekt voraus.

Gehen wir zum wichtigen Bisherigenbonus zurück. Viele Experten ziehen Parallelen zu 1968. Damals verzichtete Präsident Lyndon Johnson auf eine Wiederwahl, und die Demokraten erlitten eine Niederlage. Könnte sich das nicht wiederholen?

Das ist eine oberflächliche Betrachtung. Heute und 1968 lassen sich nicht vergleichen. Damals herrschte in Vietnam ein desaströser Krieg. Die Partei des Amtsinhabers verlor beide Schlüssel zu aussenpolitischen Erfolgen und Misserfolgen. Zudem gab es grosse soziale Unruhen. Die Städte standen in Flammen, Millionen von Menschen protestierten in den Strassen. Und wir hatten einen schrecklichen und tragischen Machtkampf innerhalb der Demokratischen Partei um die Präsidentschaftskandidatur.

Sie haben Ihre Prognose noch nie im Nachhinein angepasst. Und ich glaube, Sie machen diese Vorhersage ja stets zwei Monate vor der Wahl nach dem Labor Day Anfang September.

Nein, das stimmt nicht. Es gibt keine bestimmte Zeitspanne, in der sich die Schlüssel abzeichnen. Manchmal ist das spät wie bei den letzten paar Wahlen – im August und September. Aber es kann auch früher sein. Bei Obamas Wiederwahl 2012 lagen viele Experten falsch. Ich prognostizierte die Wahl bereits 2010, weil ich schon sah, wie die Schlüssel liegen werden.

Bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen gibt es die Tradition der sogenannten «Oktober-Überraschungen». Wir erinnern uns etwa an Trumps «Access Hollywood»-Tape, in dem er mit sexuellen Übergriffen auf Frauen prahlte. Könnte ein ähnlicher Skandal Ihre Prognose nicht doch noch ändern?

Die «Oktober-Überraschung» ist einer der grossen Mythen in der amerikanischen politischen Analyse. Was im Oktober passiert, hat meine Prognose noch nie verändert. Meine Vorhersagen zeichnen das grosse Bild. Meine Schlüssel basieren auf der Geschichte und sind sehr zuverlässig. Ich spreche nicht mit dem Allmächtigen oder einer Glaskugel.

Sie sind 77 Jahre alt und machen das nun seit 40 Jahren. Wie lange werden Sie dies noch tun? Und haben Sie vielleicht einen möglichen Nachfolger im Auge, der Sie als Nostradamus für die Prognose von amerikanischen Präsidentschaftswahlen ablösen könnte?

Das ist eine grossartige Frage. Ich bin 77, aber ich habe auch zwei Medaillen auf der Laufbahn an den Olympischen Spielen der Senioren in Maryland gewonnen. Und ich habe mich über 800 und 1500 Meter für die nationalen Olympischen Spiele der Senioren qualifiziert. Ich bin bei sehr guter Gesundheit. Meine Empfehlung an Ihre Leser ist: Das Wichtigste für ein erfolgreiches hohes Alter ist regelmässiges Ausdauertraining. Aber natürlich kann ich nicht ewig weitermachen, und ich arbeite mit meinem Sohn daran, dass er der neue Nostradamus wird.

Ist er auch Historiker?

Nein, ist er nicht. Er ist ein Kommunikationsexperte und sträubt sich sehr dagegen. Wir werden also sehen.

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