Dienstag, Oktober 1

Christian Hugi fühlt sich von der Bildungsdirektorin im Stich gelassen. Jetzt tritt der Präsident des Zürcher Lehrerverbands zurück – und erklärt, warum ihm sein Beruf trotz vielen Überstunden dennoch gefällt.

Er ist der Mann, der Journalisten in den vergangenen sieben Jahren Rede und Antwort stand, wann immer diese etwas wissen wollten zum Thema Kindergarten, Primar- oder Sekundarschule im Kanton Zürich: Christian Hugi, 45, Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands. Hugi unterrichtet Erst- bis Drittklässler in Zürich. Er ist ein geduldiger Zeitgenosse – eine Eigenschaft, die nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch in der Bildungspolitik gefragt ist.

Nun tritt der Berner zurück und übergibt das Amt an die Winterthurer Primarlehrerin Lena Aerni. Zeit für ein Gespräch über Ferien, Schulkinder und Überstunden – und über die Frage, ob die Volksschule alldem noch gewachsen ist, was Lehrer, Eltern und die Politik von ihr erwarten.

Herr Hugi, es sind Sommerferien, das Schulhaus am Wasser in Zürich Höngg ist leer. Was haben Sie gemacht in der vergangenen Woche?

Ich habe mich mit meiner Kollegin getroffen, um das neue Schuljahr vorzubereiten. Mit ihr habe ich bis vor kurzem eine dritte Klasse unterrichtet. Nach den Schulferien werden wir zusammen eine erste übernehmen.

Sie teilen sich den Unterricht auf. Ist das kompliziert?

Auf der Unterstufe ist Teamteaching normal. Meine Kollegin ist auch Heilpädagogin. Sie kümmert sich um die schwächeren und die besonders begabten Schüler unserer Klasse.

Und im neuen Schuljahr, wenn Sie nicht mehr Präsident des Lehrerverbands sind?

Dann erhöhe ich mein Pensum auf 81 Prozent.

Wie bitte? Auf 81 Prozent?

Ich weiss, solche Zahlen muten komisch an. Die Berechnung der Pensen ist kompliziert. Es hat mit der Anzahl Lektionen und den Zuständigkeiten der Lehrpersonen pro Klasse zu tun. Das ist alles genau geregelt. In unserem Fall werden in diesen Berechnungen auch die Ressourcen für die Klassenassistenz mit einbezogen, die uns nach den Sommerferien unterstützen wird, da wir im neuen Schuljahr ein Kind haben werden, das die ganze Zeit begleitet werden muss.

Kürzlich haben FDP, SVP und GLP die Förderklassen-Initiative eingereicht. Sie verlangt die Rückkehr zu Kleinklassen für lernschwache oder verhaltensauffällige Schüler. Ihr Verband ist gegen dieses Vorhaben. Warum?

Bei Problemen mit schwierigen Schülern brauchen Lehrpersonen schnelle Unterstützung. Die Einweisung in eine Förderklasse ist keine schnelle Massnahme. Bis man die Eltern davon überzeugt hat, vergehen oft mehrere Semester. Solche Kleinklassen sind im Kanton Zürich schon heute möglich. Die Schulbehörden können das schon heute verfügen, auch wenn sie zum Wohl der Schülerinnen und Schüler versuchen, einen einvernehmlichen Weg zu gehen.

Nach Angaben der Initianten würde das Volksbegehren keine zusätzlichen Kosten verursachen.

Wie soll das gehen? Heilpädagoginnen sollen aus den Regelklassen abgezogen werden, um in Förderklassen zu unterrichten. So viele Kleinklassen können wir gar nicht einrichten, dass alle Schüler mit besonderen Bedürfnissen einen Platz finden, und die Lehrer in den Regelklassen müssten dann ganz ohne Heilpädagoginnen auskommen. Schwache und starke Schüler erhielten weniger Unterstützung. Das wäre eine klare Verschlechterung. Schülerinnen in den Förderklassen hätten auch keine Vorbilder mehr, an denen sie sich orientieren können. Verhaltensauffällige Schüler sind meist intelligent genug für den regulären Schulunterricht. Unser Ziel sollte sein, diese Kinder und Jugendlichen zusammen mit den anderen durch die Schule zu bringen.

Können Sie der Initiative gar nichts abgewinnen?

Doch, sie spricht eine wichtige Problematik an. Integrativer Unterricht ist eine Belastung für Lehrer und Schulklassen gleichermassen. Statt auf Förderklassen sollten wir aber eher auf Schulinseln setzen, also auf Lernräume, in denen schwierige Kinder punktuell und vor allem schnell in einem passenden Setting begleitet werden können, ohne gleich in eine Kleinklasse abgeschoben zu werden. Das fände ich den besseren Weg.

Was sagen Sie jenen Lehrerinnen, die integrativen Unterricht für eine gute Idee hielten und nun aber feststellen müssen, dass das in der Praxis nicht funktioniert?

Ich kann ihre Kritik verstehen. Es funktioniert nicht, weil es zu wenig Heilpädagoginnen gibt und die Politik nie die Ressourcen bereitgestellt hat, die für dieses System nötig wären.

Was gibt am meisten zu tun in Höngg – einem Quartier, in dem die Welt noch in Ordnung zu sein scheint?

Der Kontakt mit Eltern; sei es per E-Mail, telefonisch oder in persönlichen Gesprächen vor Ort. Wir informieren jede Woche mehrmals über den Unterricht. Und wir gehen auf Eltern zu, wenn es Konflikte gibt in der Klasse. Die Beurteilung beziehungsweise die Vermittlung der Beurteilung braucht ebenfalls Zeit, zweimal im Jahr mindestens 45 Minuten, für jedes Kind. In der ersten Klasse können solche Gespräche auch deutlich länger dauern, da wir da noch keine Noten vergeben.

Beurteilungsgespräche gibt es auch im Kindergarten und in Kitas. Sollten Eltern und Lehrerinnen bei Kindern in diesem Alter nicht versuchen, etwas gelassener zu sein?

Da hat sich viel verändert gegenüber früher. Heute sind Kinder oft die Aufgabe im Leben einer Familie. Zu Hause stehen sie im Zentrum. Spätestens in der Primarschule müssen wir sie daran gewöhnen, dass sie eines von vielen Kindern sind und nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen.

Das gilt auch für Eltern.

Ja, das versuchen wir zu kommunizieren. Aber es ist nicht praktikabel , die Auskunft zu verweigern, wenn Eltern etwas wissen wollen. Zumal Beurteilungsgespräche ohnehin zum Pflichtenheft gehören. Die Ansprüche ans Bildungssystem sind gestiegen. Man erwartet fundierte Informationen, wie und warum ein Lehrer zu welcher Beurteilung gekommen ist. Meine Eltern haben, soweit ich weiss, nur einmal nachgefragt, als ich in einer Deutschprüfung eine 1,5 bekommen habe.

Wurden Sie in der Unterstufe auch schon unter Druck gesetzt von Eltern?

Das passiert immer wieder, ja. Als eine Schülerin statt einer 5,5 eine 5 bekam, setzten sich die Eltern mit einer gewissen Vehemenz dagegen zur Wehr. Die Note komme zu einem sehr ungünstigen Moment, das Mädchen befinde sich gerade in einer schwierigen Phase, argumentierten sie.

Was haben Sie darauf geantwortet?

«Das ist jetzt trotzdem so.» Die Beurteilung machen wir Lehrpersonen.

Die 5 könnte man auch als Ansporn verstehen: «Du kannst es doch, gib dir im nächsten Semester etwas mehr Mühe!»

Ganz so einfach ist es nicht. Kinder entwickeln sich, sie sind nicht immer gleich aufnahmefähig. Und sie entwickeln sich nicht immer in jene Richtung, die sich die Eltern wünschen würden. Meine Eltern mussten sich damit arrangieren, dass ich mit Sport wenig anfangen kann. Bildungsnahe Eltern möchten gerne, dass ihre Kinder später aufs Gymnasium gehen.

Machen sich Eltern von Unterstufenschülern bereits Sorgen deswegen?

Ja.

Ist es Aufgabe der Volksschule, jede Schülerin, jeden Schüler individuell zu fördern? Diese Anspruchshaltung hat doch auch dazu geführt, dass viele Lehrer überlastet sind.

Für die veränderten Erwartungen sollte man nicht nur die Eltern verantwortlich machen. Die Politik verspricht genau das: Jedes Kind soll sein Potenzial entfalten und dabei bestmöglich begleitet werden können.

Haben Sie nie die Lust verloren am Lehrerberuf?

Doch, nach der Ausbildung. Da wollte ich nicht als Lehrer arbeiten. In meinen Praktika musste ich sehr genau darlegen, wie ich meine Lektionen zu geben gedachte und warum. Heute verstehe ich, dass Praktikanten ihre Überlegungen dazu aufschreiben und ihrem Betreuer vorher zeigen müssen. Aber damals hatte ich grosse Mühe damit. Schullektionen haben eine Eigendynamik. Sie lassen sich nicht bis ins kleinste Detail vorausplanen. Ein paar Jahre arbeitete ich für ein Marktforschungsinstitut. Später habe ich dann doch zu unterrichten begonnen. Und als ich auf dem Heimweg plötzlich zu pfeifen begann, merkte ich: Es gefällt mir doch.

Ist das immer noch so?

Ja.

Warum?

Weil es eine sinnvolle Tätigkeit ist. Der Job gibt mir viel zurück, etwa, wenn Kinder Fortschritte machen, ein Buch in die Hand nehmen und fast nicht mehr aufhören können mit Lesen.

Ihre Arbeit ist kein gewöhnlicher Beruf. Haben Lehrerinnen und Lehrer verlernt, Idealisten zu sein?

Die Probleme des Lehrerberufs haben nichts mit mangelndem Idealismus zu tun. Sie sind systembedingt. Wenn man all die Aufgaben im Berufsauftrag der Zürcher Volksschullehrerinnen und -lehrer herunterbricht auf die Klassengrössen von heute, kommt man zwangsläufig auf einen höheren Personalbedarf als jenen, den der Kanton dafür vorgesehen hat.

Wie gehen Sie persönlich damit um?

Ich bin dem Berufsverband beigetreten. Jetzt verstehe ich, warum es so kompliziert ist, bessere Anstellungsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer durchzusetzen.

Warum ist es kompliziert?

Weil man viele Leute überzeugen muss, die glauben, sie wüssten, wie Schule funktioniert, da sie selber einmal zur Schule gingen oder weil sie schulpflichtige Kinder haben. Das führt zu ganz anderen Einschätzungen der schulischen Realität. Schüler haben 13 Wochen Ferien im Jahr, um drei Uhr nachmittags ist vielerorts die Schule aus. Solche Bilder werden immer noch auf die Lehrpersonen übertragen. In der Politik wird Schule zudem vor allem als Kostenfaktor verstanden und weniger als Investition in die Zukunft.

Die Politik investiert doch. Das jüngste Paket der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner will Klassenlehrer, Berufseinsteiger und die Schulleitungen entlasten.

Tatsache ist: Die ursprünglich geplanten Mittel wurden kräftig heruntergefahren, das Resultat ist enttäuschend. Klassenlehrer erhalten für ihre Aufgaben viel weniger Zeit, als aus unserer Sicht nötig wäre. Zur Vorbereitung des Unterrichts gibt es gar keine zusätzlichen Stunden. Das ist Pflästerlipolitik.

Das Volksschulamt argumentiert, dass mehr Zeit für Vor- und Nachbereitung der Schulstunden einen zusätzlichen Bedarf von 600 Lehrerinnen und Lehrern generieren würde, da die entlasteten Lehrpersonen weniger Stunden geben könnten.

Dieses Szenario geht von einem 100-Prozent-Pensum aus. Viele Lehrpersonen sind jedoch derart überlastet, dass ein Grossteil von ihnen ihr Pensum reduziert, um all diese Aufgaben stemmen zu können. Es ärgert mich, dass das Volksschulamt immer wieder die gleiche Milchbüchleinrechnung bemüht.

Wie lautet Ihre Rechnung?

Wenn Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit bekommen für ihre Schulstunden, würden sie ihre Pensen erhöhen, zum Beispiel von 80 auf 100 Prozent. Sie würden gleich viel unterrichten wie vorher oder etwas mehr. So würden keine Lektionen entfallen, die von weiteren Lehrpersonen aufgefangen werden müssten.

Das würde auf eine Lohnerhöhung hinauslaufen.

Nein. Es ginge lediglich darum, den Lehrern für ihre vielen Aufgaben ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen. Damit würden wir nicht mehr so viel unbezahlte Überzeit leisten müssen wie heute.

In Männedorf erhalten Viert- bis Sechstklässler Farben statt Prüfungsnoten. Blau bedeutet: Aufgabe verstanden. Orange heisst: Das musst du noch üben. Das könne Leistung und Entwicklung der Kinder besser zum Ausdruck bringen als eine nackte Zahl, heisst es. Ist dem wirklich so?

Noten bringen nicht die Klarheit zum Ausdruck, die ihnen zugeschrieben wird. Eine 5,5 beim Hugi ist nicht dasselbe wie eine 5,5 bei Frau Moser. Das merkt man bei der Gymiprüfung. Aber die Bildungsforschung hat bisher kein anderes System hervorgebracht, das dieses Problem besser lösen könnte.

Aber eine 5,5 ist doch ein klares Signal: gut bis sehr gut gemacht.

Ja, aber vielleicht benotet der Hugi strenger als Frau Moser oder umgekehrt. Es ist sinnvoll, wenn Schulen nach anderen Lösungen suchen und neue Beurteilungssysteme ausprobieren. Dies nicht zuletzt mit Blick auf schwächere Schüler, die ständig schlechte Noten bekommen und daher die Motivation verlieren. Ich verstehe die Vehemenz nicht, mit der man sich gegen solche Versuche wehrt.

Diese Experimente dürften Ihnen und Ihren Kolleginnen noch mehr Arbeit bescheren.

Das kommt drauf an. Die bisherigen Zahlen in Worten auszudrücken, also für jedes Schulkind einen eingehenden Bericht zu verfassen, das wäre tatsächlich nicht zu schaffen. Beurteilungen mit Kompetenzrastern oder anhand der Lernziele im Lehrplan 21 wären nicht so aufwendig, soweit ich das beurteilen kann.

Nun treten Sie ab als Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands. Sind Sie froh darüber?

Das ist die falsche Frage. Ich war gerne Präsident, obwohl es schwierig war, abzuschalten. Man muss zu allen Schulthemen etwas sagen können. Ich wollte immer gut vorbereitet sein.

Haben Sie als Präsident auch schon Positionen vertreten, die nicht Ihre eigenen waren?

Ja.

Welche?

Das behalte ich für mich.

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