Die Bundeswehr entwickelt einen Plan, wie sie einen Angriff unterhalb der Kriegsschwelle abwehren will – ein wahrscheinliches Szenario. Eine Analyse aus Schweizer Perspektive.
Eine bewaffnete Gruppe besetzt in einem Handstreich das Swift-Rechenzentrum in Diessenhofen im Kanton Thurgau: Hier laufen die weltweiten Zahlungsflüsse zusammen. Die Kämpfer, die keine Hoheitszeichen an ihren Kampfanzügen tragen, wenden massive Gewalt an. Mit dabei haben sie einen Mörser und modernste Panzerabwehrlenkwaffen. Die Privatarmee verfügt damit also über weit mehr Feuerkraft als die Thurgauer Kantonspolizei.
Gleichzeitig ist über die Drehscheibe Ramstein bei Frankfurt seit Tagen der Aufmarsch von amerikanischen Nato-Truppen im Gang, um Russland von einem Angriff auf Lettland abzuschrecken. Der teilweise Ausfall des Zahlungsverkehrs bringt die Situation vollends durcheinander. Seit Monaten läuft eine Desinformationskampagne, die vor dem Einfluss der USA warnt – vor allem auch auf das internationale Finanzsystem.
Der Überfall auf das Rechenzentrum ist ein fiktives Szenario – und die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas eintritt, sinkt erheblich, wenn sich die Behörden und die Gesellschaft der westlichen Länder konsequent auf eine solche Eskalation vorbereiten. Deshalb entwickelt die Bundeswehr seit März 2023 einen «Operationsplan Deutschland», abgekürzt «OPLAN DEU». Involviert sind insbesondere auch die zivilen Partner.
Vier hybride Bedrohungen stehen im Vordergrund
Das Territoriale Führungskommando stellte den «OPLAN DEU» auf der Bundeswehr-Website bereits im November des vergangenen Jahres vor. Am Wochenende berichteten nun deutsche Medien über die Abwehrmassnahmen gegen einen hybriden Angriff auf Deutschland, unter anderem der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Die wiederholten Warnungen vor einer Ausweitung des Krieges haben die öffentliche Diskussion erreicht.
Zentral für die Planung seien die Forderungen der Nato an Deutschland, die sich aus der geostrategischen Lage des Landes im Herzen Europas ergeben, schreibt die Bundeswehr. Die Aufgabe des Territorialen Führungskommandos sei in diesem Kontext, unter anderem den Aufmarsch der Verbündeten auf der «Drehscheibe Deutschland» sicherzustellen: die eigentliche Grundlage für die Abschreckung und die Verteidigung in den Frontstaaten.
Im «OPLAN DEU» stehen vier Formen der hybriden Bedrohung im Fokus:
- Informationskrieg: Der Gegner versucht, mittels Desinformation die Entscheide der Behörden zu unterhöhlen und die Bevölkerung zu spalten. Diese Angriffe gehören bereits heute zum Alltag, könnten aber im Fall einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland verstärkt werden. Die Schweiz ist mit der direkten Demokratie und einer grösseren Nähe zwischen Behörden und Bevölkerung gegen diese Bedrohung besser geschützt.
- Cyberattacken: Kritische Infrastrukturen wie Telekommunikationsunternehmen oder die Energiewirtschaft sind besonders gefährdet. Diese deutsche Lagebeurteilung gilt auch für die Schweiz – zu berücksichtigen sind auch die Datennetze und die Finanzindustrie.
- Gegnerische Aufklärung: Die Bundeswehr spricht von «gezielter Ausspähung». Gemeint sind unter anderem Aktionen gegnerischer Nachrichtendienste, die im Netz, aber auch konkret im Gelände Nachrichten beschaffen: von den persönlichen Daten der Soldatinnen und Soldaten bis zum materiellen Zustand der Einsatzverbände.
- Sabotage: Je nach Lage könnten gegnerische Spezialkräfte oder auch Militärfirmen wie die einstige Wagner-Privatarmee Häfen, Brücken, die Energieversorgung oder Bahnanlagen beschädigen oder auch besetzen. Ein Angriff auf das Swift-Rechenzentrum in Diessenhofen, wie eingangs dargestellt, wäre eine Extremform von Sabotage, muss aber als besonders gefährliche Möglichkeit mitgedacht werden.
Diese vier Bedrohungen gehörten als «aktive Massnahmen» («aktiwnije meroprijatija») schon zum Repertoire des sowjetischen Geheimdiensts (KGB), wurden aber von dessen russischen Nachfolgeorganisationen weiterentwickelt und digitalisiert. Die sozialen Netzwerke helfen als Brandbeschleuniger. Im Kern geht es um Aktionen unterhalb der Kriegsschwelle mit dem Ziel, den Gegner ohne direkten militärischen Angriff zu unterwandern und zu schwächen.
Innere und äussere Sicherheit sind kaum mehr zu trennen
Seit dem Kalten Krieg gab es in Deutschland keine konkrete Planung für einen militärischen Angriff mehr. Im Unterschied zu damals gehe es aber zunächst nicht um die Abwehr einer direkten Offensive, sondern um den Schutz des rückwärtigen Raumes, erklärt die Bundeswehr. Deutschland sei heute nicht mehr das unmittelbare Frontgebiet, sondern die «rear area», wie es im Nato-Jargon heisst.
Ähnliche Überlegungen wurden in der Schweiz bereits 1995 angestellt. In einer Publikation über «Armee-Einsätze unterhalb der Kriegsschwelle» diskutierten die schweizerischen Nachrichtenoffiziere über die Auswirkungen der «indirekten Kriegsführung» und der damals «neuen sicherheitspolitischen Risiken» auf die militärische Doktrin und Ausbildung. Im Kern ging es um die Unterstützung der zivilen Behörden im Innern.
Die Schweizer Armee hat sich später geradezu auf Hilfs- und Schutzaufträge spezialisiert und dabei die Kernkompetenz der Verteidigung vernachlässigt. Die vier Territorialdivisionen mit ihren Infanterie- und Rettungsbataillonen sind deshalb auf Aufgaben, wie sie der «OPLAN DEU» skizziert, bestens vorbereitet. Seit Anfang Jahr besteht ein eigenes, militärisches Cyberkommando. Das zivile Bundesamt für Cybersicherheit ist ebenfalls im Verteidigungsdepartement (VBS) angesiedelt.
Deutschland hat aus historischen Gründen lange gezögert, den Einsatz der Bundeswehr im Innern über unbewaffnete Aufgaben hinaus konkret zu planen. Das Territoriale Führungskommando wurde erst 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine geschaffen. Auf seiner Website wird der Planungschef des Kommandos, der J5, mit den Worten zitiert, innere und äussere Sicherheit seien kaum mehr zu trennen.
Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen
«Wir werden unsere Aufgaben nur mit der Unterstützung der Länder, der Behörden und der Wirtschaft erfüllen können», erklärt der Planungschef weiter. Die Bundeswehr bezeichnet ihren Beitrag zum «OPLAN DEU» als «militärischen Anteil an der Gesamtverteidigung». Der Begriff ist in der Schweiz bestens bekannt.
Im Kalten Krieg bündelte die Armee unter dieser Affiche die Beiträge des Zivilschutzes, des Gesundheitswesens oder der Privatwirtschaft bis hin zum Atomschlag. 1969 veröffentlichte der Bundesrat gar ein Zivilverteidigungsbüchlein, das den Wehrwillen der Bevölkerung stärken sollte. In der Beschreibung von Andersdenkenden schossen die Autoren damals aber massiv über das Ziel hinaus und bewirkten eine Entfremdung der intellektuellen Szene von der Idee einer geistigen Landesverteidigung.
Die Überreste der Gesamtverteidigung sind in der Schweiz weiterhin vorhanden, allerdings nicht mehr konsequent auf den Kriegsfall ausgerichtet. Was auch im Kalten Krieg nie gelang, fehlt heute noch: eine wirksame, eingespielte Koordination der verschiedenen Elemente. Nach den Erfahrungen in der Pandemie wurde eine Reform des Krisenmanagements zwar angepackt, aber bisher noch nicht konsequent fertig gedacht.
Trotz strukturellen Vorteilen hat sich die Schweiz bisher kaum mit einer Ausweitung des Krieges auseinandergesetzt. Der Kalte Krieg und die Fichenaffäre wirken nach. Tatsächlich ist eine solche mentale Vorbereitung für die Behörden eines demokratischen Landes noch heute ein heisses Eisen: Falsche Feindbilder und Panikmache gehören nicht zu einer offenen Gesellschaft, eine offene Diskussion über Bedrohungen allerdings schon.
In der Schweiz geht es um den Wiederaufbau des Gesamtsystems
Der «OPLAN DEU» soll bis im März dieses Jahres fertig sein und danach laufend angepasst werden. Generalleutnant André Bodemann, der Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos, sagte im MDR, die Verteidigungsplanung sei in erster Linie auf Abschreckung ausgerichtet: «Wir tun etwas, damit erst gar nicht ein Konflikt, ein Krieg entsteht.»
Der Hauptbeitrag der Bundeswehr zur konventionellen Abschreckung am Boden ist der Aufbau einer Panzerbrigade in Litauen. Im Verbund ist die Nato in der Lage, im Nordosten von Europa eine glaubwürdige Verteidigungslinie gegen Russland aufzubauen. Die Verstärkung der Kräfte mit Kampfverbänden aus den USA wird in den kommenden Wochen im Rahmen der Übung «Steadfest Defender 2024» trainiert.
Falls die Ukraine den Krieg gegen Russland verliert, besteht allerdings die Gefahr, dass die östliche Flanke der Schweiz völlig offen ist: Ungarn und die Slowakei könnten ganz auf die Seite des Kremls fallen, Österreich verfügt praktisch über keine Verbände, die ernsthaft Widerstand leisten können. Die Schweiz ist deshalb auf ein militärisches Gesamtsystem angewiesen.
Selbst bei einem Überfall einer bewaffneten Gruppe auf eine kritische Infrastruktur wie das Swift wäre die Polizei auf schwere Kräfte der Armee angewiesen: Panzer, die Sperren durchbrechen können und gegen den Beschuss mit Granaten geschützt sind. Beim Wiederaufbau der eigentlichen Kampfverbände steht der Schweiz ein Kraftakt bevor.