Freitag, Oktober 18

Zwischen Süd- und Nordengland ist das Wohlstandsgefälle grösser als zwischen West- und Ostdeutschland oder Nord- und Süditalien. Paul Collier fordert mehr Dezentralisierung und Investitionen für abgehängte Regionen.

Herr Collier, im Sommer haben Sie die Reaktion der britischen Labour-Regierung auf die ausländerfeindlichen Ausschreitungen kritisiert. Warum?

Es handelte sich offensichtlich um einen Hilferuf der ärmsten Gegenden Grossbritanniens. Rotherham, Blackpool, Grimsby, Hartlepool – diese Orte sind unglaublich arm. Darum war die Antwort unseres neuen Premierministers völlig ungenügend. Keir Starmer war Leiter der Staatsanwaltschaft gewesen. Darum setzte er auf drakonische Haftstrafen. Viele Studien zeigen, dass gerade junge Männer aus diesen benachteiligten Gegenden glauben, sie hätten keine Zukunft. Darum hätte Starmer wie einst Bill Clinton sagen müssen: «Ich fühle euren Schmerz!»

Hiesse das auch: «Ich fühle euren Schmerz über das hohe Niveau der Migration»?

Die Regierung will die Migration ja reduzieren. Aber es ist viel zu bequem, die Proteste vom Sommer als rassistische Ausschreitungen abzutun. Der Auslöser war zwar das falsche Gerücht, ein Asylsuchender habe eine Messerattacke auf Mädchen in einer Tanzklasse verübt. Aber was die Leute letztlich auf die Strasse trieb, war das Gefühl, dass der Staat sie völlig vernachlässige und selbst irreguläre Migranten besser behandle als sie. Die Regierung brachte Asylsuchende ausgerechnet in Hotels in armen Gegenden unter, weil dort die Zimmer billiger sind. Das Hauptproblem der jungen Einheimischen aus der Unterschicht sind aber nicht die Migranten, sondern eine seit Jahren fehlgeleitete Politik. Anders als in der Schweiz und Deutschland gibt es in Grossbritannien beispielsweise kein ausgebautes System der Berufsbildung, das auch Jugendlichen, die keine Universität besuchen können und wollen, eine wirtschaftliche Perspektive gibt.

In Ihrem neuen Buch, «Aufstieg der Abgehängten», befassen Sie sich mit strukturschwachen Orten wie Ihrer Geburtsstadt Sheffield in South Yorkshire. Wie nehmen Sie Sheffield wahr, wenn Sie heute dorthin zurückfahren?

Ich bin unglaublich traurig über den Zustand der Stadt. Sheffield war einst ein boomendes Zentrum der Metallindustrie. Mein Grossvater zog Ende des 19. Jahrhunderts aus Deutschland dorthin und betrieb eine Metzgerei, welche die hungrigen Fabrikarbeiter versorgte. Der Erste Weltkrieg nährte die Fremdenfeindlichkeit gegen Deutsche, und mein Grossvater musste die Familie mit einer Brechstange gegen einen Mob verteidigen. Insgesamt aber erging es meiner Familie gut, bis die Fabriken schlossen und Sheffield in die Krise schlitterte. Viele Verwandte leben immer noch dort, und ich habe die Folgen von Armut, Hoffnungslosigkeit und Vernachlässigung gesehen. Meine Cousine wurde als Teenager schwanger und hatte ein Leben voller Entbehrungen. Meine Frau und ich haben zwei ihrer Enkelkinder adoptiert, die in sehr problematischen sozialen Verhältnissen aufzuwachsen drohten. Ich bin nicht stolz darauf, Sheffield verlassen zu haben. Es ist eine Tragödie, dass junge Leute wie ich wegziehen mussten, um Erfolg zu haben.

Deindustrialisierung gab es auch in anderen Ländern. Dennoch ist das regionale Wohlstandsgefälle zwischen Süd- und Nordengland bis heute grösser als jenes zwischen West- und Ostdeutschland oder Nord- und Süditalien.

Kein anderes Land hat sich derart buchstabengetreu an die Markttheorien von Milton Friedman gehalten wie Grossbritannien. Unser Finanzministerium, das Treasury, stellte sich auf den Standpunkt, dass nach der Schliessung von Industrien die sinkenden Löhne und Immobilienpreise neue Firmen anziehen würden – auch ohne Zutun der Regierung. Leider sah die Realität anders aus, und immer mehr Kapital floss ab. Gemäss Friedman müsste man in diesem Fall die deindustrialisierten Orte aufgeben, woran die arroganten Beamten im fernen London tatsächlich zu glauben schienen. Sheffield hat eine halbe Million Einwohner und ist die viertgrösste britische Stadt. Man kann dort nicht einfach alle Läden schliessen und die Bevölkerung umsiedeln.

In Ihrem Buch nennen Sie die amerikanische Stadt Pittsburgh als Gegenbeispiel. Was lief dort besser?

Zuerst einmal sind die USA als föderalistischer Staat viel weniger zentralistisch aufgebaut. Es gab den Gliedstaat Pennsylvania und einen Bürgermeister mit finanziellen Ressourcen und politischer Macht, die einen Plan schmiedeten. Natürlich schlitterte auch Pittsburgh in die Krise, als die Stahlindustrie einging. Aber Pittsburgh erholte sich und ist heute auf dem zwölften Platz der prosperierenden Städte Amerikas. Ein Erfolgsrezept war die Bildung von Firmen-Clustern rund um die Universität. Der Staat stellte Land zur Verfügung und schuf finanzielle Anreize zur Gründung von Startups. In Sheffield gab es sogar zwei gute Universitäten. Doch die University of Sheffield sah sich als nationale Institution und interessierte sich nicht für South Yorkshire. Und einen regionalen Bürgermeister gibt es erst seit 2018.

In den letzten Jahren haben viele britische Metropolitanregionen Bürgermeister erhalten. Was halten Sie von dieser Dezentralisierung?

Sie reicht bei weitem nicht aus. Die Bürgermeister können keine Steuern erheben, sondern erhalten Geld vom Treasury in London zugeteilt. Doch bekommen sie die Mittel jeweils bloss für ein Jahr und müssen jeden einzelnen Budgetposten vom Zentralstaat bewilligen lassen. Es ist ein völlig absurdes System, geprägt vom Mikromanagement aus London. Die Wähler merken, dass die Bürgermeister machtlos sind, darum geht bei ihrer Wahl auch niemand an die Urne. Grossbritannien wird viel Zeit und einen grundlegenden Kulturwandel benötigen, will es Macht und Finanzen wirklich dezentralisieren.

2016 stimmten die benachteiligten Regionen klar für den Brexit. 2019 wählten sie Boris Johnson, der versprach, das Wohlstandsgefälle zwischen Süd- und Nordengland zuzuschütten. Hat sich gar nichts verbessert?

Der Brexit hat die britische Peripherie stärker getroffen als London. Der Finanzplatz ist global ausgerichtet. Demgegenüber müssen sich Firmen, die Güter herstellen und diese in die EU exportieren, mit der neuen Zollbürokratie herumschlagen. Boris Johnsons «levelling up» blieb leider ein Schlagwort. Von den geplanten Investitionen von 4 Milliarden Pfund innert dreier Jahre sind bloss 400 Millionen ausgegeben worden. Also praktisch nichts. Johnson ist ein guter Kommunikator, aber er hatte nicht den Durchhaltewillen, um Ideen zu konkretisieren und umzusetzen. Zu spät betraute er mit Michael Gove einen kompetenten Minister mit dem Dossier. Der scheiterte aber daran, dass ihm der damalige Schatzkanzler Rishi Sunak und die Beamten im Finanzministerium kaum Ausgaben bewilligten. Als Sunak zum Premierminister aufstieg, war «levelling up» endgültig toter Buchstabe.

Sie sehen die Lösung in weniger Zentralismus und mehr Investitionen in strukturschwache Regionen. Das föderale Deutschland hat Hunderte von Milliarden Euro in die neuen Bundesländer investiert, trotzdem feiern dort Protestparteien Wahlerfolge.

Die Deutschen sehen die Erholung Ostdeutschlands als Versagen. Und es stimmt: In der ehemaligen DDR gibt es ähnliche Gefühle der Vernachlässigung und der Hoffnungslosigkeit, wie wir sie in Nordengland kennen. Darauf hat die Regierungskoalition in Berlin nicht reagiert, und man hat wohl auch die Finanztransfers von West nach Ost zu früh gestoppt. Aber immerhin hat sich die Ungleichheit stark verringert: Die Produktivität in Ostdeutschland liegt heute bei etwa 85 Prozent von jener in Westdeutschland, 1991 hatte sie 20 Prozent jener des Westens betragen. Damals war Sheffield noch deutlich wohlhabender als die ehemalige DDR. Heute ist Sheffield ärmer als Ostdeutschland.

Wie gross sind Ihre Hoffnungen in die Labour-Partei, die seit rund hundert Tagen regiert?

Ich habe Labour gewählt, aber meine Hoffnungen sind nicht gross. Unser ganzes Regierungssystem ist reformbedürftig. Angefangen beim unrepräsentativen Wahlrecht, das Labour bei einem Stimmenanteil von bloss 35 Prozent eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus beschert hat. Zudem ist viel zu viel Macht in der Verwaltung und vor allem im Treasury konzentriert. Die Schatzkanzlerin Rachel Reeves denkt zu traditionell, um einen grundlegenden Kulturwandel herbeizuführen. Und ich befürchte, dass Premierminister Keir Starmer im falschen Job gelandet ist. Er ist ein guter Jurist, aber kein Kommunikator, der die Leute mitreissen kann.

Zur Person

Paul Collier – Ökonom

Der 75-jährige Entwicklungsökonom arbeitet bis heute als Professor für Ökonomie und öffentliche Politik an der Blavatnik School of Government an der Universität Oxford. 2014 wurde er von Königin Elizabeth II. für seine Forschungen zu Afrika zum Ritter geschlagen. Sein jüngstes Buch, «Aufstieg der Abgehängten», ist am 16. Oktober im Penguin-Verlag auf Deutsch erschienen.

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