Keine andere Branche exportiert und investiert so viel in der Schweiz und in Deutschland wie die Pharmaindustrie. Das bringt auch Herausforderungen mit sich. Ausserdem: Givaudan ist «priced to perfection» – und damit nicht allein. Also zeigt die Krux mit dem Markttiming.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an die Schweizer Wirtschaft denken?
Mit Blick aus dem Ausland lauten die Antworten auf diese Frage oft: Banken, Uhren, Schokolade. Je nach Wohlwollen der Schweiz gegenüber in unterschiedlicher Reihenfolge.
Doch tatsächlich ist seit rund zwanzig Jahren eine andere Branche der absolute Star der Schweizer Exportwirtschaft: die chemisch-pharmazeutische Industrie. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, aber die langfristige Export- und Importstatistik lässt mich jedes Mal staunen. In den vergangenen 34 Jahren – soweit reichen die Daten des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit zurück – sind die Ausfuhren der Chemie- und Pharmaindustrie auf über 135 Mrd. Fr. im Jahr 2023 gestiegen, während die restlichen Kategorien zuletzt höchstens leicht zugelegt haben.
Damit machen chemisch-pharmazeutische Produkte mittlerweile knapp die Hälfte der Schweizer Exporte im Umfang von zuletzt insgesamt 274 Mrd. Fr. jährlich aus – Tendenz steigend. Edelmetalle und Kunstwerke sind in diesen Zahlen nicht eingerechnet.
Diese Entwicklung hat gesamtwirtschaftliche Implikationen: Im vergangenen Jahr trug die Pharmaindustrie laut dem Bundesamt für Statistik rund 7% zum Bruttoinlandprodukt bei. Keine andere Industrie investiert ähnlich viel in Forschung und Entwicklung, jährlich stellt sie Tausende von Arbeitskräften ein. Und nicht nur in der Schweiz wächst die Bedeutung, gerade auch in Deutschland legt die Pharmaproduktion stärker zu als die Gesamtwirtschaft. Konzerne aus der ganzen Welt bauen ihre Kapazitäten im deutschsprachigen Raum aus. Der französische Pharmakonzern Sanofi plant laut dem «Handelsblatt» den Bau einer neuen Produktion in Frankfurt am Main im Wert von bis zu 1,5 Mrd. €. Das weckt sogar Hoffnungen auf eine Trendwende bei den lahmenden ausländischen Investitionen in Deutschland.
Die Argumente für einen Produktionsstandort in der Schweiz oder Deutschland sind zahlreich. Die duale Berufsbildung und renommierte technische Hochschulen bringen gut ausgebildete Fachkräfte hervor. Anders als in anderen Branchen fallen Energie- und Lohnkosten weniger stark ins Gewicht, Investitionen in die Infrastruktur, in Anlagen und Instrumente sind viel entscheidender, und in diesem Bereich war die Inflation in der Schweiz und in Deutschland zuletzt weniger stark als etwa in den USA. Hinzu kommen Rechtssicherheit und guter Patentschutz – und schliesslich wirken starke Clustereffekte: Pharmaunternehmen ziehen neue Pharmaunternehmen an.
Eine Region der Schweiz übt auf Unternehmen der Branche eine besonders grosse Anziehungskraft aus: Von Basel – dank des Rheins hervorragend für den Export gelegen – erstreckt sich eine Pharma-Biotech-Chemie-Zone bis weit ins Mittelland. Die Nordwestschweiz ist Hauptsitz der Grosskonzerne Roche und Novartis (beide Basel) sowie des Auftragsherstellers Lonza (ebenfalls Basel und Visp) und des Spezialchemieherstellers Clariant (Muttenz), hier produzieren Medizinaltechnikfirmen wie Ypsomed (Solothurn) und Skan (Allschwil) und forschen Biotechs wie Idorsia (Allschwil) und Santhera (Pratteln). Hinzu kommt eine Vielzahl kleiner und mittelgrosser Life-Science-Unternehmen.
Besonders profitiert haben in den vergangenen Jahren die Schweizer Auftragsfertiger – das zeigt sich nicht zuletzt an der Kursperformance.
Das Wachstum soll weitergehen – und erfordert sehr hohe Kapitalausgaben: Lonza hat in den vergangenen Jahren in Visp rund 1 Mrd. Fr. und in Stein (Aargau) 0,5 Mrd. in Produktionsanlagen investiert, Dottikon ES baut im Kanton Aargau in den nächsten fünf Jahren für 700 Mio. Fr. neue chemische Produktions- und Trocknungsanlagen für pharmazeutische Wirkstoffe, Bachem will bis Ende des Jahrzehnts in Sisslerfeld rund 750 Mio. Fr. investieren, das kürzlich fertiggestellte Werk in Bubendorf wird noch dieses Jahr eröffnet, Kostenpunkt: 550 Mio. Fr. Angesichts jährlicher Umsatzzahlen zwischen 6,72 Mrd. Fr. (Lonza) und 326 Mio. Fr. (Dottikon) sind das beachtliche Summen.
Der neue Bachem-Standort im Fricktal ist als reine Produktionsstätte für Peptide und Oligonukleotide konzipiert. Dabei handelt es sich um komplexe Moleküle, die als Wirkstoff in Medikamenten zum Beispiel gegen Diabetes und Fettleibigkeit, Krebs, aber auch seltene Krankheiten eingesetzt werden. Die Wirkstoffe stellt Bachem für Pharma- und Biotechfirmen weltweit her. In einem ersten Schritt sollen 500 Mitarbeitende eingestellt werden. Es besteht aber Kapazität für rund 3000 neue Stellen. Das Ausbautempo hängt unter anderem von den Kunden- und Marktbedürfnissen ab.
Um dieses Potenzial zu realisieren müsste Bachem, die heute lediglich 2000 Leute beschäftigt, sehr sehr viele Fachkräfte rekrutieren. Und damit ist sie nicht allein.
Ein (noch) privates Unternehmen könnte dem Ringen um gut ausgebildetes Personal Konkurrenz machen: Mitbewerber CordenPharma will innerhalb von drei Jahren 900 Mio. € investieren. Wie der Auftragshersteller mit Sitz in Basel kürzlich mitteilte, soll damit die Peptidproduktionskapazität im US-Bundesstaat Colorado ausgebaut und in Europa ein Werk für die Entwicklung und Herstellung von Peptiden errichtet werden. Gut möglich, dass die Wahl des neuen Standorts auf die Schweiz fällt. Hierzulande produziert Corden – wenig überraschend – in derselben Region wie Bachem, genauer gesagt in den Baselbieter Orten Liestal und Ettingen. Das Unternehmen betreibt insgesamt elf Werke und ein Forschungszentrum in Europa und in den USA. Mit einem Umsatz von 900 Mio. € und 3000 Mitarbeitenden ist es rund 50% grösser als Bachem.
Das verstärkt den Kampf um Talente in einer Branche, die europaweit schnell wächst. Wie Lonza in den vergangenen Jahren wird sich wohl auch Bachem im fernen Ausland umschauen müssen. Das Wachstum in der Auftragsfertigung ist damit mit nicht nur mit Investitionen verbunden, sondern auch mit Rekrutierungskosten, personellen Risiken und auch etwas Expansionsschmerz: Die Betriebskultur gerät unter Druck, die Suche nach fähigen Chefinnen und Teamleitern wird schwieriger. Bei Lonza dürfte auch das dazu geführt haben, dass das Unternehmen kürzlich ein Programm zur Verbesserung der Corporate Governance aufgelegt hat.
In den USA liess ich vergangene Woche ein kleines Revival der kleinkapitalisierten Werte beobachten, nachdem diese Anfang Jahr relativ zum S&P 500 so schlecht dagestanden waren wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Wie mein Kollege Mark Dittli hier bereits dargelegt hat, liegt eine mögliche Erklärung darin, dass die Finanzmärkte zwar eine Abkühlung der Konjunktur und – endlich – baldige Zinssenkungen der US-Notenbank sehen, aber kein Abrutschen in eine Rezession fürchten. Auch diese Woche haben sich die Aktien der Tech-Schwergewichte nur kurzfristig etwas erholt, der Russell 2000 notiert aber deutlich höher als noch Ende Juni.
Nicht so in der Schweiz. Hier wird der Aufwärtstrend weiter durch die Grossen geprägt. Das zeigt sich im Vergleich des SMI, der die zwanzig grössten an der Börse SIX kotierten Unternehmen umfasst, mit dem SPI Extra (SPI ohne SMI-Werte). Aber selbst der Index der dreissig mittelgrossen Werte SMIM kann nicht mit dem Blue-Chip-Barometer mithalten. Interessanterweise hat sich diese Tendenz im zweiten Quartal noch verstärkt.
Auffällig ist, dass unter den grössten Gewinnern des Jahres gleich mehrere SMI-Titel sind: Lonza, ABB und Holcim. Aber auch aus der zweiten Reihe tauchen Unternehmen wie Sandoz und Accelleron unter den Favoriten der Investoren auf. Und in den vergangenen Wochen wurde der Markt unter anderem von der Erholung der Roche Genussscheine getrieben.
Einen einzelnen Grund für diese Diskrepanz kann ich nicht nennen. Die Aufzählung verdeutlicht: Es handelt sich um sehr unterschiedliche Unternehmen mit unterschiedlichen Treibern. Lonza hat nach einem schwierigen 2023 und dem Wegfall des Moderna-Grossauftrags den Tritt gefunden, die Auftragslage präsentiert sich sehr gut und mit der Übernahme des ehemaligen Roche-Werks in den USA landete der Pharmazulieferer einen Coup. Holcim profitiert vom Umbau und der geplanten Aufspaltung des Geschäfts.
Accelleron hat nach einem sehr guten vergangenen Geschäftsjahr jüngst die Prognose für 2024 sogar noch erhöht. Nun soll das Wachstum 9 bis 12% erreichen, die Profitabilität leicht steigen. Das Geschäft läuft deutlich besser als zu Jahresbeginn erwartet, was einmal mehr zeigt, dass Accelleron in ihrer Nische ausgezeichnet positioniert ist. Wer hingegen nicht mit solchen positiven Überraschungen punkten kann, bekam in den vergangenen Wochen schon auch einmal die zunehmende Nervosität an den Märkten zu spüren. Die Kursausschläge nach der Publikation der Zahlen waren gross – in beide Richtungen.
So verhielt es sich etwa bei Givaudan gestern: Die Expertenmeinungen am frühen Dienstagmorgen waren einhellig positiv. Das Wachstum und insbesondere die Profitabilität haben die Erwartungen übertroffen. Auch an der darauffolgenden Telefonkonferenz hörte ich aus den Fragen der Analysten kaum Kritik. Einige drehten sich um die Margenausweitung im Segment Taste & Wellbeing, die nicht dermassen überraschen konnte wie im Segment Flagrance & Beauty. Ebenfalls interessierte die Schwäche im Bereich abgepackter Lebensmittel; einem wichtigen Geschäft für den Aromen- und Riechstoffhersteller. Das Thema veränderte Kundenbedürfnisse infolge von Abnehmmedikamenten scheint CEO Gilles Andrier aber keine Sorgen zu bereiten. Auch sehe es nicht danach aus, dass die Kunden wieder Restocking im grossen Stil betrieben, also einfach für die Lager bestellten. Dennoch verloren die Aktien am Dienstag 4% an Wert.
Mehr als 5% tiefer aus dem Handel gingen am vergangenen Donnerstag die Titel von ABB, auch der Industriekonzern hatte eigentlich nicht enttäuscht.
Beide SMI-Titel waren davor anscheinend einfach schlicht zu gut gelaufen und auf diesem Kursniveau «priced to perfection». Für einen neuerlichen Ausbruch hätten beide Unternehmen wohl schon eine sehr grosse positive Überraschung präsentieren müssen – etwas im Rahmen von Accelleron oder Belimo: Der Raumklimaspezialist hat nach einer starken Umsatzentwicklung in der ersten Jahreshälfte die Prognose für das Gesamtjahr erhöht. Die Aktien haben seit Freitagabend ganze 18% zugelegt.
Das muss nicht per se bedeuten, dass die Rally der Schweizer Favoriten ausgereizt ist. Beim Industriekonzern ABB sieht mein Kollege Giorgio Müller den Rückschlag an der Börse denn auch als Einstiegsgelegenheit. Und klar, die Aktien von Givaudan sind teuer, aber das strukturelle Marktwachstum ist stark und das Unternehmen hat wohl einmal mehr Marktanteile dazugewinnen können, ohne die Profitabilität zu schmälern. Accelleron wiederum hat sich nach dem Boom bei den Neuanlagen potenziell sehr viel lukratives Servicegeschäft für die kommenden Jahre gesichert.
Gutes Timing ist am Aktienmarkt eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, manchmal hat man Glück, manchmal weniger, und manchmal läuft es richtig schlecht. Letzteres musste ich vergangene Woche wieder einmal erfahren: Am Dienstagnachmittag hatte ich an dieser Stelle Werbung für Also gemacht, von Mittwoch bis Freitag büssten die Aktien des IT-Distributors dann rund 16% an Wert ein.
Was war geschehen?
So einiges.
Gleich am Mittwochmorgen sorgten zwei Einschätzungen zu Also für schlechte Stimmung an der Börse. Die Analysten der Hamburger Bank Warburg senkten das Kursziel von 270 auf 260 Fr. Angesichts des weiterhin schwierigen Marktumfelds sieht Analyst Andreas Wolf wenig Raum für positive Überraschungen für die bereits gut gelaufenen Aktien. Die Schweizer Research Partners stuft die Titel von «Kaufen» auf «Halten» zurück, das Kursziel bleibt bei 300 Fr. Analyst Reto Huber weist daraufhin, dass sich der Index für Bestellungen im Bereich Computer- und Elektronikgeräte in Deutschland langsamer erholt als bisher erwartet worden war.
Wir beobachten immer wieder, dass solche Neueinschätzungen von Titeln mit einer niedrigeren Kapitalisierung und mit kleinen Handelsvolumen, die nur von wenigen Analysten – im Fall von Also sind es fünf – abgedeckt werden, für viel Bewegung an der Börse sorgen.
In diesem Fall war das aber noch nicht alles: Gleichentags sorgte ASML für negative Stimmung im Tech-Sektor. Der niederländische Halbleiterriese präsentierte zwar gute Zahlen für das zweite Quartal. Der Ausblick für die laufende Periode enttäuschte aber leicht, und wohl noch wichtiger: Es machen sich zunehmend Sorgen breit, dass die Biden-Regierung weitere Verschärfungen der Exportvorschriften für Halbleiter und Chip-Produktionsequipment nach China plane – prompt sackten die Aktien bis Handelsschluss 10% ab. Der gesamte Chipsektor, hat etwas korrigiert, nachdem er in den Wochen davor Signale einer Blasenbildung gezeigt hatte. Darunter litten neben den Aktien von Also in der Schweiz auch jene des Zulieferers VAT. Die Titel haben in der zweiten Wochenhälfte knapp 17% an Börsenwert eingebüsst.
Und für Also gingen die schlechten News am Donnerstag gleich weiter. Der deutsche IT-Ausrüster Bechtle publizierte eine Gewinnwarnung und strich die Prognose für das Gesamtjahr zusammen. Neu erwartet das Management für 2024 nur noch ein Ergebnis im Rahmen des Vorjahres. Die Aktien verloren bis am Freitagabend rund 10%. Davor hatten auch schon Wettbewerber wie Cancom, Atea und TD Syntex von einem Umsatzrückgang berichtet.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass auch die Halbjahreszahlen von Also diese Woche schwächer ausfielen als noch vor wenigen Wochen erwartet. Wegen des schwachen Gesamtmarktes ging der Umsatz 7% zurück, insbesondere die Erholung im Consumer-Geschäft lässt weiter auf sich warten. Der Volumenrückgang war dermassen gross, dass er selbst durch den besseren Produktmix und Massnahmen zur Kostensenkung nicht ausgeglichen werden konnte. Die operative Marge auf Stufe Ebitda ging von 2,1 auf 1,8% zurück.
Und die Börse? Sie reagierte nur noch leicht enttäuscht.
Anscheinend waren die schlechten Nachrichten grösstenteils eingepreist, obschon in der Telefonkonferenz am Mittwochmorgen einige Zweifel an den ambitionierten Zielen für das Gesamtjahr zutage kamen. Das Management unter dem neuen CEO Wolfgang Krainz versprüht Optimismus für den Rest des Jahres. 2024 erwartet Also dank einer starken Steigerung in beiden Kundensegmenten und einem weiteren Wachstum des Plattformangebots sowie des attraktiven Cloudgeschäfts im zweiten Halbjahr einen höheren Betriebsgewinn als 2023 – und für Investorinnen fast noch wichtiger: die Rendite auf dem eingesetzten Kapital (ROCE) soll wie angekündigt auf über 25% steigen, in der nächsten Strategieperiode von 2026 bis 2028 sogar auf über 30%.
Die fundamentalen Treiber, die ich vergangene Woche beschrieben habe, sind anscheinend intakt, insbesondere das Wachstum im Servicegeschäft ist dank Anwendungen künstlicher Intelligenz wie Microsofts Copilot vielversprechend. Und Also investiert weiter: 12 Mio. € flossen im ersten Halbjahr in die IT-Infrastruktur sowie in digitale Plattformen und KI-gestützte Anwendungen.
Für mich gilt deshalb: Jetzt umso mehr. Und denken Sie daran, es ist nicht möglich, den Aktienmarkt zu timen. Ich kaufe Also-Aktien nach.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market,
Gabriella Hunter