Mittwoch, Januar 15

Der Präsident des Kleinstaats will den akuten Munitionsmangel der Verteidiger rasch lindern. Im Fokus stehen Quellen ausserhalb der westlichen Allianz. Scheitern könnte der Plan eher an internen Widerständen als an den tschechischen Fähigkeiten.

800 000 Schuss Artilleriemunition sind mehr, als ganz Europa 2023 produziert hat. Die Ankündigung von Tschechiens Präsident Petr Pavel, sein Land könne eine solche Lieferung innert Wochen organisieren und in die Ukraine transportieren, sorgt deshalb für Aufsehen. Zum Vergleich: Im Sommer verschossen die Ukrainer während der Gegenoffensive 4000 bis 7000 Granaten – pro Tag. Damals waren die Lager dank westlichen Lieferungen voll. Nun aber leidet Kiew an akutem Munitionsmangel, der Hunger nach Nachschub ist riesig.

Pavels Vorstoss erfolgte kaum zufällig gleichzeitig mit dem Fall der Donbass-Stadt Awdijiwka. Die Verteidiger hatten sich Mitte Februar vor der russischen Übermacht an Artillerie und Flugzeugbomben zurückgezogen. Dem ehemaligen Nato-Spitzengeneral Pavel ist die akute Gefahr für die Ukraine bewusst. «Die Lage auf dem Schlachtfeld hat sich seit letztem Jahr stark verändert. Das ist nicht gut», sagte er.

Der Nachschub an Artillerie stockt

Der Nachschub aus dem Westen stockt. In den USA bleiben neue Hilfspakete blockiert, während die Europäer ihre eigenen Ziele nicht erreichen können. Eine Million Artilleriegranaten wollte die EU bis März an Kiew liefern. Nun heisst es, lediglich die Hälfte werde verfügbar sein.

Pavels Plan könnte da wie gerufen kommen: Der Präsident und die Verteidigungsministerin Jana Chernokhova versprechen eine halbe Million 155-Millimeter-Granaten. Dies ist das Standardkaliber der Nato-Artillerie. Dazu sollen 300 000 Stück 122-Millimeter-Granaten kommen, die in kleineren Haubitzen aus sowjetischer Produktion eingesetzt werden. Von diesen hat die Ukraine weiterhin eine grosse Zahl.

Seine Initiative, sagte Pavel, werde von Dänemark, den Niederlanden und Kanada unterstützt. Wie zur Illustration kündigten die Dänen fast zeitgleich an, ihre gesamte Artillerie an die Ukraine zu übergeben und unter anderem 15 000 Granaten durch Tschechien zu liefern. Die 800 000 Geschosse, so Pavel, müssten allerdings andere Länder finanzieren.

«Unser Verteidigungsministerium und unsere Unternehmen in der Verteidigungsindustrie haben durch ihre Kontakte einen Überblick darüber, wo Ausrüstung und Munition erhältlich sind», betonte Pavel an der Münchner Sicherheitskonferenz. Nennen wollte er die Herkunftsländer nicht. Laut «Politico» handelt es sich um Südkorea, Südafrika und das Nato-Land Türkei. Das «Handelsblatt» erwähnt auch Pakistan. Diese Länder treten nicht als direkte Ukraine-Unterstützer auf, teilweise aus Rücksicht auf ihre Beziehungen zu Russland. Die Mittlerrolle Tschechiens ist deshalb umso wichtiger.

Da die Kapazitäten in Nato-Mitgliedländern mit Ausnahme der USA durch zusätzliche Bestellungen für eigene und ukrainische Arsenale bereits stark absorbiert sind, liegt das Ausweichen auf Partnerstaaten ausserhalb des Blocks nahe. Entscheidend ist die Produktion nach Nato-Standards. Sie garantiert, dass die Granaten in allen passenden westlichen Waffensystemen eingesetzt werden können.

Umkämpfte EU-Finanztöpfe

Pavels auch innerhalb der Nato bereits besprochener Ansatz, fehlende europäische Kapazitäten von ausserhalb zu kompensieren, ist nicht neu. Bereits für die ukrainische Offensive 2023 lieferten die USA grosse Mengen an südkoreanischen Granaten. Nun sollen aber primär die Europäer Verantwortung übernehmen. Neben Einzelstaaten könnte sich die EU beteiligen, über Gelder für die gemeinsame Beschaffung von Munition oder die sogenannte Europäische Friedensfazilität.

Dies stösst allerdings in mehreren Mitgliedsländern auf Widerstand. So will Frankreich laut «Politico» die EU-Fonds ausschliesslich zur Förderung der einheimischen Rüstungsindustrie verwenden. Der «Kyiv Independent» schreibt zudem, Griechenland und Zypern seien wegen des Konflikts um die Ägäis gegen Munitionskäufe aus der Türkei.

Selbst bei einer gesicherten Finanzierung, die Experten für keine unüberwindbare Hürde halten, bleiben viele Detailfragen offen. Vor allem das von Pavel vorgeschlagene Tempo lässt aufhorchen. Dazu kommt die Frage, weshalb diese Lösung nicht früher präsentiert wurde. Vielleicht wartete Pavel angesichts der innereuropäischen Widerstände eine Zuspitzung der Situation in der Ukraine ab, um seiner Initiative mehr Schlagkraft zu verleihen.

Weniger überraschend ist hingegen, dass ausgerechnet das kleine Tschechien mit einer solch ambitionierten Initiative auftritt. Der ostmitteleuropäische Kleinstaat besitzt aus sozialistischer Zeit eine grosse Rüstungsindustrie mit einst 90 000 Angestellten. Diese wurde seit den neunziger Jahren zwar stark redimensioniert, verfügt aber noch immer über viel Know-how, gerade in sowjetischer Militärtechnik.

Enge Rüstungskooperation mit der Ukraine

Vor 2022 waren die teilweise dubiosen Kontakte zu postsozialistischen Staaten in Osteuropa und Konfliktländern in Afrika sowie dem Nahen Osten ein innenpolitisch kontroverses Thema. Seit Putins Invasion spielen die Tschechen aber eine führende Rolle bei der Reparatur ukrainischer Panzer und der Lieferung von Waffen. An der Münchner Sicherheitskonferenz vereinbarten Pavel und Präsident Selenski eine weitere enge Kooperation bei der Waffenproduktion.

Dabei geht seit 2022 nicht nur der Staat konsequent voran. Auch private Firmen verdienten mit Verträgen in der Höhe von umgerechnet fünf Milliarden Franken gut. Die Kosten übernahmen meist andere westliche Akteure. Gelingt das von Pavel vorgeschlagene Geschäft, dürfte sich diese Summe noch einmal stark erhöhen. Zum Vergleich: Die Nato zahlte jüngst 1,2 Milliarden Dollar für 220 000 Stück 155-Millimeter-Granaten.

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