Montag, November 25

Erstmals seit fast zwanzig Jahren liegt der Fidesz in zwei Umfragen im Hintertreffen. Für den allmächtigen Ministerpräsidenten Orban ist das eine neue Erfahrung – und eine echte Gefahr.

«Es ist vorbei», das ist der selbstbewusste neue Slogan des ungarischen Oppositionsführers Peter Magyar. Er sagte ihn dem Regierungschef Viktor Orban vor zwei Wochen ins Gesicht, als die beiden im europäischen Parlament erstmals persönlich aufeinandertrafen, seit Magyar im Februar aus dem Nichts auf die politische Bühne getreten war. Und er äusserte ihn erneut, als diese Woche zwei Umfragen seine Partei Tisza als stärkste Kraft des Landes auswiesen, vor Orbans Fidesz.

Bei beiden Instituten beträgt der Vorsprung von Tisza nur zwei Prozentpunkte und liegt damit innerhalb der Fehlermarge. Dennoch ist er eine kleine Sensation: Erstmals seit 18 Jahren und den Protesten gegen die damalige Regierung Gyurcsany, die am Beginn der Rückkehr des Fidesz an die Macht standen, liegt eine andere Partei in Führung.

Magyar bestätigt sich damit als der gefährlichste Herausforderer, den Orban in all den Jahren hatte. Der 43-Jährige überraschte bereits im Juni bei der EU-Wahl, als er mit seiner erst wenige Wochen zuvor registrierten Partei 30 Prozent der Stimmen erreichte. Seither konnte er in den Umfragen den Abstand zum Fidesz stetig verringern, bis er die Regierungspartei nun überholte.

Magyar steht an der Spitze der Orban-Gegner

Obwohl er derzeit nur ein Mandat im EU-Parlament einnimmt, hat sich Magyar damit klar an die Spitze der Orban-Gegner katapultiert. Den Rest der gemässigten Opposition hat er praktisch zertrümmert. Damit allein würde sich an den politischen Kräfteverhältnissen wenig ändern, doch Tisza laufen laut den Demoskopen auch unzufriedene Fidesz-Wähler zu. Die Werte der Regierungspartei sind seit der letzten Parlamentswahl vor zweieinhalb Jahren stark zurückgegangen. Das zeigte sich auch bei der EU-Wahl: Der Fidesz schnitt so schlecht ab wie nie seit Orbans Rückkehr an die Macht 2010.

Gründe dafür sind eine Reihe von Skandalen im Regierungslager, die schlechte Wirtschaftslage mit einer Inflation von zeitweise über 25 Prozent und auch ein gewisser Überdruss an der Herrschaft Orbans. Anders als der bisherigen Opposition, die ihre Anhänger fast ausschliesslich in den Städten hatte, gelingt es dem sich als Nationalkonservativen bezeichnenden Magyar aber auch, Menschen in den Fidesz-Hochburgen auf dem Land anzusprechen.

Er gehörte der Partei einst selbst an und war über Jahre ein Günstling des Systems Orban, in dem er hohe Posten bekleidete. Zum Bruch mit der Partei und zur Abrechnung mit dem von dieser geschaffenen «Mafiastaat» veranlasste Magyar im Februar der erzwungene Rückzug seiner Ex-Frau Judit Varga aus der Politik. Die frühere Justizministerin war ein Bauernopfer im Skandal um die Begnadigung in einem Pädophiliefall, der die Ungarn empörte.

Seither ruft der Jurist zum Aufstand gegen Korruption und Vetternwirtschaft auf. Er beklagt den seiner Ansicht nach miserablen Zustand des Landes, für den Orban die Verantwortung trage. Beim EU-Beitritt vor zwanzig Jahren sei Ungarn auf dem Niveau von Tschechien und Slowenien gewesen. Nun sei es das ärmste und korrupteste Land der Union, sagte Magyar vergangene Woche in einem ORF-Interview.

Über seine Social-Media-Kanäle veranschaulicht der Newcomer das geschickt. Während der brütend heissen Sommerwochen besuchte er Spitäler und dokumentierte, dass selbst in den Operationssälen die Klimaanlagen nicht funktionierten und Temperaturen über 30 Grad herrschten. Als im September die Donau Hochwasser führte, halfen Magyar und seine Sympathisanten Sandsäcke aufzuschichten, noch bevor Orban sich zur Gefahr äusserte. Trotz der einseitigen Medienlandschaft gelang es Magyar so, Themen zu setzen und die Regierung vor sich herzutreiben – für Orban ist das eine neue Erfahrung.

Orban vergleicht die EU mit dem Sowjetregime

Der Ministerpräsident tat den neuen Konkurrenten lange als «internes Problem der Linken» ab. Dass er ihn ernst nimmt, zeigten aber die Diffamierungen in den regierungsnahen Medien. In seiner Rede zum Gedenkanlass für den Aufstand von 1956 am Mittwoch ging Orban nun einen Schritt weiter. Er verglich die EU mit dem damaligen Sowjetregime und behauptete, Brüssel wolle Ungarn mit der Einsetzung eines Marionettenregimes unterwerfen. Ohne Magyar namentlich zu nennen, war klar, wen der Regierungschef meinte.

Damit räumte Orban seinem Herausforderer indirekt eine hohe Bedeutung ein. Ob ihm diese tatsächlich zukommt, muss sich in den kommenden Monaten weisen. Magyar fehlt noch viel, um dem Ministerpräsidenten bei der Parlamentswahl in anderthalb Jahren tatsächlich gefährlich werden zu können. Inhaltlich ist er bis jetzt vage: Wie er die beklagten Probleme lösen würde, ist unklar. Zudem ist er vorläufig noch eine Ein-Mann-Show und braucht Personal. Und schliesslich macht das auf den Fidesz zugeschnittene Wahlrecht eine Absprache mit den anderen, mehrheitlich linken Oppositionsparteien zwingend. Auch das wird für den Konservativen, der sich mit Tisza der Europäischen Volkspartei angeschlossen hat, nicht einfach.

Immerhin ist sich Magyar dessen bewusst. Er sprach am Mittwoch in Budapest zum Jahrestag des 1956er Aufstands vor einer mindestens ebenso grossen Menge wie Orban. Man werde sich das Land zurückholen und es zum 70. Jahrestag des Aufstands 2026 in eine andere Richtung lenken. Dafür kündigte Magyar für die kommenden Wochen die Erarbeitung eines Programms und die Auswahl von Kandidaten für die Wahl an. «Es ist vorbei» war wieder die zentrale Botschaft. Selbst die grösste Macht müsse weichen, wenn sie erkenne, dass sie einem ausreichend starken Gegner gegenüberstehe, erklärte Magyar.

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