Sonntag, September 29

Shakespeares «Hamlet» ist das vielleicht wichtigste Werk der nachantiken Literaturgeschichte. Dass sein Schauplatz Schloss Kronborg im dänischen Helsingör ist, lässt tief blicken.

Europa, sagte der erste deutsche Bundespräsident, Theodor Heuss, sei auf drei Hügeln gebaut: Golgotha, dem Areopag und dem Kapitol. Das mag ideengeschichtlich stimmen; wenn man aber annimmt, dass das Eigentliche des Menschen sich im sogenannten Mythischen ausspricht, so sind es vielleicht nicht diese drei Stätten theologisch-politischer Konstitution, auf denen Europa gründet. Sondern es sind zwei Halbinseln, einander geografisch gegenüberliegend und in dieser Diametralität Europa umgreifend: Griechenland und Dänemark.

Den Mythentransfer von dem Land, an dessen Klippen Odysseus, der Vielgewandte, vom wütenden Gott Poseidon geschmettert wurde, zu dem Land, über das die Idee des Westens in die Welt getragen wurde, hat die englische Romanautorin Rosemary Sutcliff in ihrem «Laternenträger»-Zyklus verarbeitet. Weltliterarisch ausgesprochen wird er im Hamlet-Stoff. William Shakespeare hatte ihn vom mittelalterlichen dänischen Historiografen Saxo Grammaticus, und sein zentraler Schauplatz Schloss Kronborg in Helsingör ist im äussersten Nordosten der Insel Seeland gelegen, an der Meerenge gegenüber Schweden.

Die rechte Ordnung der Dinge

Liebe und Tod, so heisst es, seien die grossen Themen der Menschheit, aber vielleicht ist das nicht wahr. Sterben muss alles, was entstanden ist, und die romantische Liebe ist nur eine Hypostasierung von Begehren, eine Transzendentalisierung des Triebs, der alles Lebendige durchwirkt und der bewegt «die Sonne und die andern Sterne», wie Dante meinte. Es sind naturale Topoi, keine anthropischen. Anthropisch dagegen, explizit menschlich und menschheitlich, enthoben den Zwängen wie den Bequemlichkeiten der Natur ist die rechte Ordnung der Dinge, die Gerechtigkeit. Die massgebliche literarische Symbolfigur für den unbedingten Kampf um Gerechtigkeit aber ist Hamlet. Er macht das Drama des Menschseins aus.

Dieser Hamlet ist der Pate Europas, des nachrömischen Europa, das sich nach dem «Untergang Westroms» im 5. Jahrhundert konstituiert. Seine Geschichte spielt ursprünglich um das Jahr 1000, und schon hier deutet sich die geheimnisvolle Verbindung zwischen Dänemark und Griechenland an. Denn so wie es Griechenland schon gab, als noch niemand von Rom sprach, so geriet Dänemark, anders als selbst Britannien mit seinem breiten Wassergraben, niemals unter römische Herrschaft. Vielleicht gerade deshalb war die «translatio mythica» vom «steinigen Kap» (Giorgos Seferis) im Südosten Europas zur Kimbrischen Halbinsel im Norden möglich.

Denn die Idee der Berichtigung der Natur, die Empörung gegen eine falsche Ordnung, für die in der Neuzeit Hamlet, Prinz von Dänemark, steht, ist keine römische, sondern eine griechische. Durch das Christentum neu befeuert, konnte sie erst zu historischer Wirksamkeit gelangen, als Rom untergegangen war. Die Griechen, das prometheische Volk, waren die ersten Empörer gegen die Wirklichkeit, die ersten Protestierenden gegen eine natürliche Ordnung der Dinge, die falsch und gewaltsam ist. Die Entdeckung des Geistes, die Entdeckung, dass der Mensch aus dem Reich der Natur heraussteht und dass nur ein Gott, der ganz Unnatur ist, diese Welt mit seinem Wort geschaffen haben kann – diese Entdeckung war eine griechische Entdeckung.

Folgerichtig waren die Griechen auch die Ersten, die aus Eurasien flüchteten. Was sie aber sich nicht trauten; woran Athen im Peloponnesischen Krieg mit der unglücklichen Expedition nach Sizilien scheiterte und Alexander später sich nicht herantraute, nämlich über die Säulen des Herakles hinaus auf den Atlantischen Ozean zu segeln – viel später wagten es die Wikinger und verwirklichten so den alten griechischen Traum von Flucht und Neubeginn.

Beides, die Griechen des Altertums und die Dänen des Mittelalters, sind thalassische, nicht tellurische, sind See- und nicht Landvölker. Bei Ovid markiert das Hinabsteigen der Pinie vom Wald ans Meer den Fall aus dem Goldenen Zeitalter. Doch nur so, durch das Überschreiten der das Paradies begrenzenden Ströme, als Exzentriker und Gebrochener, kommt der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst; ein Paradies als Seinszustand gibt es nur für Engel und für Tiere. Der selbst-bewusste Mensch ist je Feind der Naturreiche und deren jeweiliger politischer Übersetzung, die sich mit den Ideologien des Systems der Bedürfnisse und der ewigen Wiederkehr rechtfertigt, er ragt hinein ins himmlische Reich, das Reich einer unbegrenzten Möglichkeit.

Tod des Vaters, nicht des Sohnes

In der heidnischen Welt ist es oft eine weibliche Allegorie – Gaia, Erda –, die für die Natur steht und der selbst die (männlichen) Götter unterworfen sind; nicht nur Adonis und Siegfried, auch Kronos und Wotan müssen sterben oder werden aufs Altenteil geschoben. Hamlet aber ist der Rächer des ermordeten und im Tod noch betrogenen Vaters, des Väterlichen.

Der Tod Gottes ist eigentlich der Tod des Vaters, nicht des Sohnes, und das unglückliche Bewusstsein, das sich mit Hegel in dem harten Wort ausspricht, dass Gott gestorben sei, ist das Bewusstsein des Sohnes, der entsetzt erkennt, dass der Vater – Gott – im Namen einer «immer so seienden» Natur, eines stumpfen «passing through nature to eternity», dessen vermeintliche Unhintergehbarkeit noch jede Gemeinheit, jede Verdrehung, jeden Sadismus rechtfertige, getötet und noch im Tod verhöhnt werden kann. Nicht der Gottessohn, sondern Gottvater ist hier eigentlich gestorben. Gegen den Tod des Vaters stemmt sich Hamlet, der «Orestes des Nordens».

Damit ist Hamlet, der Prototyp des «angry young man», zugleich eine jesuanische Gestalt. Nicht so sehr in der Menschwerdung Jesu liegt die ontologische Pointe der Christologie als vielmehr in der Erniedrigung Gottvaters zum blossen Seienden, zum erstarrten Götzen. Um den um seine Wirklichkeit schändlich betrogenen Vater wieder in sein göttlich Recht zu setzen, wird Christus, der Sohn, zum Menschen, und in ihrem gewaltsamen Tod imitieren beide, Christus und Hamlet, den Tod des Vaters, der aus der Welt vertrieben wurde, und nehmen dabei in ihren persönlichen Tod die ganze Welt mit. Der weltgeschichtlich folgenreichste Aufruf an den Menschen, sich von der falschen Ordnung mit Gewalt loszureissen und modern zu werden, stammt vom Friedensfürsten Jesus Christus. Seinen weltliterarischen Ausdruck fand er schlechthin in «Hamlet».

Dass Hamlets Motiv Rache ist, spricht nur scheinbar dagegen; denn diese Rache ist, wie jene des Orestes, nicht triebhaft, sondern vernünftig. Nicht die Rache ist atavistisch, sondern das falsche Verzeihen, was eigentlich ein Verdrängen ist; nicht das Hören auf Geisterstimmen irrational, sondern die pragmatische Unterwerfung unter die Gegebenheiten, was tatsächlich Ideologie ist, Introversion des Opfers. Der Gott Hamlets aber, der dem Menschen zu sagen gibt, was er leidet, ist nicht Figuration einer wärmenden Entrückung von einer untragbar gewordenen Welt, kein Entlastungsphantasma; sondern der getreue Stichwortgeber in der Maske des Geistes, der eben kein Gespinst ist.

Niels Stensens Entdeckung

Dass Hamlet ein dänischer Stoff ist, fügt sich in die heimliche Vorreiterrolle, die das Land immer wieder in der Geistesgeschichte eingenommen hat. So erwacht der Geist der Natur-Befragung und Natur-Hinterfragung, mit dem die moderne Geschichtswissenschaft beginnt («historia» – «historein», [be]fragen), in Niels Stensen, dem zum Katholizismus konvertierten dänischen Bischof von Osnabrück, der im 17. Jahrhundert die Geologie begründet. Aus ihr entwickelt sich das Bewusstsein für eine lineare Zeitlichkeit, damit für die Historizität des Menschseins und für die Epochalität unserer historischen Existenz, die nicht erst vor sechstausend Jahren begonnen hat und nicht mit einem fixen Jüngsten Tag enden wird.

Das 18. Jahrhundert als «heroisches Zeitalter» der Geschichtswissenschaft und der Geologie wurde grundgelegt durch Stensens Entdeckung, dass verschiedene Gesteins- und mit ihnen verschiedene Zeitschichten sich übereinanderlagern. Später dann findet Goethe seine fünf orphischen «Urworte» in den «Abhandlungen» des dänischen Archäologen Georg Zoëga, des Fortführers Winckelmanns und Freundes Thorvaldsens, die 1817 in der deutschen Übersetzung durch Friedrich Gottlieb Welcker erschienen waren.

Ihren plakativen Ausdruck schliesslich findet die mythografische Verbindung zwischen Griechenland und Dänemark in der dynastischen Verbindung zwischen der jüngsten und der ältesten Monarchie Europas im 19. Jahrhundert. 1863 entsendet König Christian IX. von Dänemark, der «Schwiegervater Europas», dessen Demütigung durch Bismarck Preussen-Deutschland bitter bezahlen sollte, seinen Sohn Wilhelm auf den vakanten griechischen Thron, und die heute regierende Dynastie von England ist, nach der patrilinearen Erbfolge, nicht etwa eine Familie «Mountbatten-Windsor», sondern das Haus Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Mit dem Regierungsantritt von König Charles III. kehrte Britannien gleichsam symbolisch unter angelsächsische Herrschaft zurück, während Konstantin II., der letzte König von Griechenland, nur vier Monate nach der Queen starb.

Dänemark heute ist ein Hort der Rationalität und der Schönheit in einem zusehends chaotisch werdenden Europa. Aber diese Zuschreibungen sind nicht zu trennen von seiner mythografischen Funktion als Ort der Wiederentdeckung des Geistes und der Freiheit, des Reichs der Möglichkeit gegen das der naturgesetzlichen Wirklichkeit.

Weniger Däne sei er als alter Römer, sagt bei Shakespeare Horatio zu dem sterbenden Hamlet; der aber war der als Däne wiedergeborene Grieche. In ihm wurde das Feuer des Prometheus, wurde der Zorn des Orestes neu entzündet, und er selbst wurde dadurch zum Prototyp des Europäers. Hamlet, Prinz von Europa, der moderne Prometheus – an einem stürmischen Tag spürt man auf Schloss Kronborg etwas von seinem Geist.

Konstantin Sakkas lebt als Philosoph und Historiker in Berlin.

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