Der 20-Jährige aus dem Aargau gilt als grösstes Schweizer Radsporttalent seit vielen Jahren. Jan Christen scheut sich nicht, höchste Ziele zu formulieren – und kann sich das laut Experten auch erlauben.
Bruno Diethelm ist ein Veteran der Schweizer Radsport-Trainer-Szene, er hat schon viele Talente kommen und gehen sehen. In aller Regel bremst er die Erwartungen, wenn es um ihre Perspektiven geht, relativiert, warnt vor Euphorie.
Geht es um Jan Christen, ist das anders. Über den 20-jährigen Radprofi aus Leuggern sagt Diethelm: «Er kann alles. Jan kann Eintagesrennen gewinnen, er kann Zeitfahren, Sprints. Auch Rundfahrten, dank seiner unglaublichen Erholungsfähigkeit. Da wird noch sehr viel gehen. Für ihn gibt es keine Grenzen.»
Es drängt sich eine zugespitzte Anschlussfrage auf, verbunden mit der Erwartung, dass der Coach spätestens jetzt vorsichtiger formuliert. Die Frage: «Herr Diethelm, wären Sie überrascht, wenn Jan Christen in fünf Jahren die Tour de France gewinnt?» Und die Antwort: «Es würde mich nicht überraschen. Und ich würde den Horizont auch nicht auf fünf Jahre setzen.»
Euphorischer könnte die Bewertung eines Jungprofis in dieser hart umkämpften Sportart kaum ausfallen. Die bisher einzigen Schweizer Tour-de-France-Sieger heissen Ferdy Kübler und Hugo Koblet, sie triumphierten 1950 und 1951. Das ist so lange her, dass seinerzeit noch nicht einmal Christens Grossvater dabei war, Hans Schleuniger bestritt das grösste Radrennen der Welt erst 1960, er erreichte Rang 80. Schweizer Gesamtsiege rückten in den folgenden Jahrzehnten in weite Ferne, und jetzt, in der Ära des slowenischen Superstars Tadej Pogacar, scheint es schwieriger denn je, den Bann zu brechen.
Die meisten Jungprofis würden sich unter Druck gesetzt fühlen, wenn sich ihr Förderer öffentlich allzu euphorisch über sie äusserte. Aber Christen hat in Interviews selbst schon oft genug davon gesprochen, sowohl an den grössten Eintagesrennen als auch an den dreiwöchigen Rundfahrten um Siege fahren zu wollen, «so wie Pogacar».
Er trägt dick auf. Aber er lässt seinen Worten oft Taten folgen, und zwar nicht nur im Strassenradsport: In der Juniorenkategorie wurde Christen 2022 auch Weltmeister im Radquer und Vizeweltmeister auf dem Mountainbike. Er war als Nachwuchsfahrer auf höchstem Niveau so vielseitig unterwegs wie vor ihm nur die Ausnahmekönner Mathieu van der Poel und Tom Pidcock. Christen lässt sein Umfeld träumen.
Schwellung an der Hand, Schrauben in der Schulter
Ein Treffen mit dem Radprofi in einem Hotel in Blonay, etwas oberhalb des Genfersees, am Vorabend der Tour de Romandie. Fünf Tage zuvor war Christen an der belgischen Classique Flèche wallonne gestürzt, seine linke Hand ist geschwollen, der Ellbogen aufgeschürft, und in der Schulter befinden sich wegen eines früheren Unfalls, bei dem er sich das Schlüsselbein brach, acht Schrauben. Die üblichen Begleiterscheinungen des Profidaseins.
Christen hat keine Mühe damit, den Vergleich mit Pogacar zu vertiefen. Er kennt seinen berühmten Teamkollegen in der Mannschaft UAE schon seit frühen Jugendtagen und bezeichnet ihn als Freund. Pogacar sei ein «Jahrtausendtalent» und auch im Auftreten ein Vorbild. Christen bewundert die Art und Weise, wie der Slowene Rennen gewinnt. Aber er erstarrt nicht in Ehrfurcht.
Schon im vergangenen Frühjahr freute sich Christen nach einem Trainingslager in Málaga darüber, wie gut er dort mit Pogacar hatte mithalten können. Im Dezember kam es im Team-Camp vor Saisonbeginn zu weiteren gemeinsamen Ausfahrten. «Ich bin auf einem guten Weg», sagt der 20-Jährige jetzt. «Wenn man meine Trainingswerte mit jenen vergleicht, die Tadej im selben Alter hatte, sieht es sehr gut aus.»
Wieder eine Anschlussfrage mit der Erwartung, dass die Antwort relativierend ausfällt: «Die Werte sind also ähnlich gut wie jene, die Pogacar mit 20 hatte?» Christens Antwort: «Oder noch ein bisschen besser.» Pogacar, mittlerweile 26, war schon damals herausragend. Seine erste Tour de France gewann er mit 21.
Anruf bei Beat Müller: Niemand ist besser in der Lage als der damalige Performance-Chef von Swiss Cycling, das Potenzial von Schweizer Radsporttalenten nüchtern einzuschätzen. Sämtliche aussichtsreichen Nachwuchsathleten durchlaufen das Talent-Identifikations-Programm von Swiss Cycling, welches auf objektiven Kriterien basiert.
Auch Christen absolvierte im Jahr 2019 den «Engine Check». In der Gemeinde Cugnasco im Tessin bewältigte er eine 1,28 Kilometer hohe, 9,8 Prozent steile Teststrecke, so schnell er konnte. Ziel der Strapaze war, die maximale Sauerstoffaufnahme («VO2max») zu eruieren, das Brutto-Kriterium der aeroben Leistungsfähigkeit. Müller sagt: «Es war ein Weltklassewert.»
Anschlussfrage an den Sportwissenschafter: «Halten Sie es für denkbar, dass Christens derzeitige Leistungsdaten mit jenen von Pogacar im selben Alter vergleichbar sind?» Die Antwort: «Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen.» Christens Werte gehörten in die Kategorie der besten Radfahrer der Welt.
Müller betont, dass eine herausragende «VO2max» selbstverständlich nicht ausreiche, um später grosse Rennen zu gewinnen. Technische und taktische Fähigkeiten seien auszubilden, das Umfeld und die Gesundheit müssten stimmen. «Aber eine hohe maximale Sauerstoffaufnahme ist der gemeinsame Nenner aller Spitzenathleten.»
Dass bei Christen auch das Umfeld stimmt, ist offensichtlich. Er stammt aus einer Radsportfamilie, sein Vater Josef Christen bestritt ebenfalls grosse Rennen. Jan Christen verfolgte laut eigener Aussage schon mit 12 oder 13 die Absicht, Profi zu werden. Andere Prioritäten gab es in seinem bisherigen Leben kaum. Seine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten brach er ab, wobei ihm sein radsportaffiner Chef versichert haben soll, nötigenfalls jederzeit zurückkehren zu können.
Dass Bruno Diethelm zum wichtigen Mentor wurde, war einem Missgeschick geschuldet. Bei einem Sturz im Trainingslager schlug sich Christen einen Zahn aus. Der damalige Nationalcoach begleitete ihn zum Arzt, und während der Autofahrt fragte der Nachwuchsfahrer Diethelm, ob er ihn auch persönlich unterstützen wolle.
Schon damals habe sich Christen hohe Ziele gesetzt und hart für diese gearbeitet, sagt der Trainer. Auch in der Schule habe er sich angestrengt, weil er gewusst habe, nur mit guten Noten Freiräume für den Sport zu erhalten. Als Christen 2022 in den USA Radquer-Weltmeister wurde, verpasste er inklusive Trainingslager fünf Wochen Unterricht. Diethelm sagt: «Ich dachte, jetzt kann er einmal ein bisschen feiern und sich entspannen, aber er hat sofort das Versäumte aufgeholt.»
Teaminterne Konkurrenz ist die grösste Gefahr
Der Weg an die Spitze ist voller Hürden. An der Tour de Romandie musste Christen am Donnerstag aufgeben, laut seinem Team machte ihm seine Pollenallergie zu schaffen. Nach den Stürzen im Frühjahr ist zudem wieder offen, ob die Vuelta 2025 wie geplant seine erste dreiwöchige Rundfahrt wird.
Längerfristig das grösste Hindernis ist aber womöglich die teaminterne Konkurrenz. Bei UAE brilliert nicht nur Pogacar, auch andere Fahrer drängen in Chefpositionen. Wer etwas gewinnen will, muss sich also zuerst gegen die eigenen Kollegen durchsetzen. Christens Landsmann Marc Hirschi gelang das letztlich nicht. Er wurde vor wichtigen Rennen immer häufiger übergangen und zu kleinen Anlässen geschickt, bis er die Equipe verliess. Hirschi beteuerte bis zuletzt, er sei mit seinem Programm zufrieden. Er war zu freundlich, aufzubegehren.
Christen ist anders gestrickt. Im Februar spurtete er an der Algarve-Rundfahrt auf der zweiten Etappe an seinem arrivierten Teamkollegen João Almeida vorbei. Der Portugiese schaute perplex und verärgert, als er über die Ziellinie rollte. Derartiges könnte sich wiederholen. Christen sagt beim Treffen in Blonay: «Als Helfer bin ich nicht so gerne unterwegs, ausser Pogacar ist am Start.»
Offensive Aussagen wie diese formuliert er auf Deutsch. Die Diskrepanz zur Stellungnahme vor internationalen Journalisten, die Christen auf Englisch abgibt, während der Pressesprecher neben ihm steht, ist auffällig. Plötzlich preist er Almeida, der ebenfalls anwesend ist, als Leader. Vielleicht braucht es ein Quentchen Bauernschläue, um bei UAE zu bestehen. Christens Standing in der Mannschaft scheint auf jeden Fall hervorragend zu sein. Diethelm berichtet, einer der verantwortlichen Scheichs habe ihm bei einer Vertragsverlängerung versichert: «Ich werde dich immer behandeln wie meinen Sohn.»
In der Schweiz bewegt Christen noch keine Fan-Massen. Als die Tour de Romandie am Mittwoch in Münchenstein gastiert, nur 50 Kilometer von seinem Geburtsort Leuggern entfernt, erhält er freundlichen Applaus, doch andere Fahrer sind bei den Selfie-Jägern gefragter. Auch das kann Christen zum jetzigen Zeitpunkt nur recht sein.
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