Montag, Oktober 7
Nachgewürzt

Wolfgang Fassbender


Gastrokritik aus Madulain

Mit Pasta und anderen Klassikern der italienischen Küche gibt sich Paolo Casanova nicht zufrieden. Der italienische Koch bereitet im Engadin eines der spannendsten Menus der Schweiz zu – mit Kräutern der Umgebung, Innereien und ungewöhnlichen Kombinationen.

Es geht harmlos los in der «Chesa Stüva Colani», einem der geheimnisvollsten unter den gehobenen Restaurants im Engadin. Knusprige Teigblätter werden an der Theke des angeschlossenen Hotels zum Apéritif gereicht. Ein paar Meter weiter kann man Kleinigkeiten im Bistrot geniessen, ein Stockwerk höher sehr angenehm, ja luxuriös übernachten. Die Inhaberfamilie Rossi hat offensichtlich nicht nur viel Geld investiert, sondern auch innenarchitektonisches Geschick bewiesen. Man fühlt sich wohl – und die zum Nachmittagskaffee getestete Sachertorte schmeckte so richtig gut.

Geschick zeigt auch Paolo Casanova, der Küchenchef. Gelernt hat er bei Massimo Bottura, einem der grossen Küchenchefs Italiens. Provokation und Storytelling beherrscht der Drei-Sterne-Koch aus Modena wie kaum ein Zweiter. Auch Casanova erzählt gern, was er tut – etwa Kräuter sammeln oder kochen mit Engadiner Zutaten von Fisch bis Wild. Was aber nun keineswegs bedeutet, dass er hundertprozentig auf Importiertes verzichtet.

Die Zumutung auf dem Teller

Auch die Weine, die in einem separaten Raum zum Auswählen aufgebaut wurden, stammen mitnichten ausschliesslich aus der Schweiz. Viele italienische Produzenten sind vertreten, Champagner gibt es reichlich, die Preise sind fair. Der Naked White, ein weisser Natural Wine von Gernot und Heike Heinrich (Burgenland), machte sich ausgezeichnet als Begleitung zu den eigenwillig konzipierten Gängen.

Wobei Eigenwilligkeit die Untertreibung des Jahres sein dürfte. Was der Chef seinen Gästen serviert, liegt weit über dem Zumutungslevel anderer mit einem Michelin-Stern ausgezeichneter Restaurants. Wer einfach einen gepflegten Abend verbringen möchte mit dem, was man überall in der feineren Gastronomie bekommt, ist hier definitiv falsch am Platz; wer etwas erleben will und kulinarische Langeweile scheut, dagegen richtig.

Geschmacksnoten, die bei anderen Köchen tabu sind

Allerlei Saucentupfer auf einem Stein machten den Anfang: solche mit Kastanie, Sauerampfer oder Bardana. Den vom Chef selbst am Tisch geschnittenen hausgemachten Schinken – erstklassig – mit Tomatenschaum würden auch Gäste verzehren, die mit Experimentalküche wenig anzufangen wissen. Das Brot? Natürlich eine Focaccia, wie es nach italienischer Tradition sein muss, allerdings mit Kartoffeln aus Madulain. Ausgezeichnet.

Eine in Blumenkohlwasser pochierte Gillardeau-Auster, aus Frankreich importiert, mit Rotkohl und Mandeln brachte salzig-jodige und vegetabile Aromen zusammen. Spannend war auch das Saiblingsmosaik mit Sauerampfer und Meerrettich, in dem fermentiertes Gemüse, Sauerampfer, Schafgarbe und Bärlauch verarbeitet wurden. Nicht nur hier waren dezente bittere Geschmäcke wahrzunehmen, die bei vielen anderen Köchen tabu sind.

Fermentation und wilde Kräuter prägen die Küche

Der Pfannkuchen mit fermentierten Randen, wildem Salbei und Sauerklee stand beispielhaft für Casanovas Küche, die das einsetzt, was die Bergwelt hergibt, auch gern in konservierter oder abgewandelter Form. Beim «Pancake» klappte das gut, bei der Minestrone di Bosco mit Moos, Flechten, Sprossen, Löwenzahnkapern, Miso sowie Whisky aus Corvatsch nicht ganz so prima. Die zu diesem Gang gehörenden Lärchen-Gnocchetti machten zwar Spass, aber der sehr volle Teller sah in der Realität weniger schön aus als auf Fotos, und ich frage mich, ob alle Zutaten wirklich sein mussten.

Sehr viel spannender geriet dann der Risotto mit Spitzwegerich, Essigmutter (!) und Flusskrebsen. Letztere gingen zwar ein bisschen unter, aber hier merkte man, wie ein guter Risotto schmecken und welche Konsistenz er haben muss.

Spektakulär als blutende Hand angerichtet war anschliessend das Lammherz mit Himbeere, Gerstenkoshi und Sauerklee – mit seinem säuerlichen Purismus wiederum ein sehr überzeugender Gang.

Frische und Überraschungen zum Schluss

Auch das Sorbet vom Rainfarn passte, weil angenehm würzig-süsslich parfümiert und nicht zu süss. Zander mit Schinken vom Zander, Löwenzahn, Umeboshi und fermentierten Radieschen wirkte kühl, präzise, komplex; die Kräuter und Würzzutaten liessen dem Fisch genügend Platz zur Entfaltung.

Die Crème brûlée von der Murmeltierleber als Dessert Nummer eins muss ich dagegen, ganz ehrlich, nicht dauernd essen; der durchaus kräftige Fleischgeschmack und die karamellige Süsse passten nicht wirklich gut zusammen. Viel stimmiger war dagegen die Kombination aus roten Garnelen (!), Pfirsich, Sesam und Timutpfeffer als zweites Dessert.

Ob in einen Nachtisch Krustentiere gehören, kann man natürlich diskutieren, aber wer philosophische Fragen beiseitelässt, wird feststellen: Pfirsiche und Garnelen harmonieren prima. Und darüber hinaus war dies ein Gang, den man nicht so schnell vergessen wird. Wie die abschliessende «gefakte» Erdnuss. Und wie das ganze Essen in diesem aussergewöhnlichen Restaurant.

Auf einen Blick

Adresse

Restaurant Chesa Stüva Colani, 7523 Madulain

Preise

Hauptgerichte kosten zwischen 42 und 75 Franken, das grosse Menu steht mit 215 Franken auf der Karte.

Fazit des Gastrokritikers

Küche: 8,5/10, Gastkultur: 9/10

Anmerkung: Die Bewertungen orientieren sich an der denkbaren Höchstnote von 10 Punkten. Die Note für die Küche betrifft ausschliesslich die Qualität der Speisen, jene für Gastkultur umfasst sämtliche übrigen Aspekte eines Restaurantbesuchs.

Exit mobile version