Sonntag, September 8

Guhl gründete in Sitten das erste Fussball-Nachwuchszentrum der Schweiz. Und schrieb fast bis zum Schluss Aufsätze und Gedichte. Dennoch blieb er vielen unbekannt.

In den 1980er und 1990er Jahren hat der Randkanton Wallis die halbe Fussball-Nationalmannschaft gestellt. Fernand Luisier, Dominique Cina, Jean-Paul Brigger, Charly In-Albon, Georges Bregy, Alain Geiger, Marco Pascolo, Ivan Quentin, Alexandre Rey, Christophe Bonvin, Blaise Piffaretti, Sébastien Fournier, Raphael Wicky: Das waren Spieler mit Charisma und einer ausgeprägten rage de vaincre, diesem absoluten Siegeswillen. Vor allem aber waren diese Spieler technisch und taktisch sehr gut ausgebildet.

Das Fundament für die Karrieren dieser Spieler, für eine nie wieder erreichte Dichte an Walliser Spitzenfussballern, legte ein Mann, der von den höchsten Politikern des Landes als «Denker des Schweizer Fussballs» bezeichnet wurde: Jacques Guhl, ein Trainer, Schauspieler, Denker, Poet. Und Monsieur.

1957 stieg der FC Sion mit dem Spielertrainer Guhl in die Nationalliga B auf. Dieser legte Wert auf Unbekanntes: Kurzpassspiel und spielorientiertes Training, Raumaufteilung, Pressing, ständige Positionswechsel. In diesen Jahren gründete Guhl in Sitten das centre de formation, das erste Fussball-Nachwuchszentrum der Schweiz. Er hob den Fussball im Wallis in einen neuen Status: als Lebenslehre für Junge, als Mehrwert für die Gesellschaft. Dass der FC Sion später identitätsstiftend für den zweisprachigen Kanton werden sollte, lag zuallererst an Jacques Guhl.

Sein Modell wurde landesweit und sogar in Frankreich kopiert

Guhls Erfolge sprachen sich herum. 1964 wurde er in den Betreuerstab der Nationalmannschaft berufen, die die Qualifikation für die WM 1966 in England schaffte. Guhl wollte den Schweizer Fussball und das Verbandswesen neu denken, die Zukunft einleiten, er blickte schon auf die WM 1970 in Mexiko. Doch der mächtige Funktionär Ernst Thommen wollte kurzfristig Erfolg. Guhl kehrte ins Wallis zurück, er war verbittert, aber hatte ein Ziel: im Wallis den Nachwuchs zu fördern.

Die Jungmannschaften des FC Sion sollten jahrelang die besten der Schweiz sein. Guhls Modell des Ausbildungszentrums wurde landesweit und sogar in Frankreich kopiert. Bald gewann der FC Sion einen Cup-Final nach dem anderen.

Der bekannte Fussball-Funktionär Hansruedi Hasler sagte einmal, der Erfolg der Schweizer Fussballer in den vergangenen zwanzig Jahren mit zig WM- und EM-Teilnahmen gehe auf die Arbeit von Guhl zurück. «Er dachte damals an Dinge, von denen andere nicht wussten, dass sie existieren.»

Guhl, Hasler und der Fussball-Intellektuelle und Trainer Daniel Jeandupeux sassen manchmal in Magglingen bei einem Glas Rotwein und sinnierten über den Fussball, über seine Entwicklung und gesellschaftliche Implikation. Guhl mochte diese Treffen sehr.

Er lernte früh, sich zu behaupten – und füllte die freie Zeit mit Max Frisch

Jacques Guhl war in Algerien aufgewachsen, der Vater leitete den Bau von Bierfabriken, die Mutter spielte im Theater. Als er sieben Jahre alt war, kehrte die Familie in die Waadt zurück. Der Vater erlitt kurz darauf einen Hirnschlag und blieb handicapiert, Jacques Guhl lernte früh, sich zu behaupten. Mit zehn Jahren trainierte er erstmals im FC Lausanne-Sports. Nach dem Schulabschluss machte er eine Lehre als Zeichner. Mit 20 Jahren spielte er in Lausannes erster Mannschaft.

Guhl war ein Spielmacher mit Stärken im Abschluss, aber etwas langsam. 1939 musste er im Zuge der Mobilmachung einrücken, der Spielbetrieb war wegen des Krieges unterbrochen worden. Guhl füllte die freie Zeit mit Lesen, am liebsten Max Frisch, aber auch Camus, Neruda, Heidegger, Sartre. Dann begann er selber zu schreiben.

Nach dem Krieg publizierte Guhl erste Bücher und Gedichtbände und wechselte zum FC Malley. In Lausanne führte er die Literaturverbindung Société de Belles-Lettres und gründete das Théâtre de Faux-Nez. Tagsüber spielte er Fussball, am Abend trat er im Theater auf oder machte Comedy. «Eine Dualität der schönsten Dinge», sagte Guhl, der stets als Linker verschrien war, aber nie Politik machte. Der einzig ein Revolutionär des Fussballs sein wollte. Und war.

Mit 35 Jahren erhielt Guhl Angebote, als Spielertrainer zu arbeiten. Er ging ins Wallis zum FC Sion, weil ihm im Militär die Walliser am nächsten standen. «Die Genfer diskutierten, die Waadtländer sangen, die Jurassier schliefen», sagte Guhl, «aber die Walliser hatten Herz und Hand. Sie waren Arbeiter.»

Wie die Antithese zum modernen FC Sion und zum Präsidenten Christian Constantin

In der Retrospektive wirkt Guhl wie die Antithese zum modernen FC Sion, zum Präsidenten Christian Constantin, der ausländische Spieler und Trainer in Massen kauft und verkauft. Guhl vertrat stets die Meinung, zwei oder drei auswärtige Spieler verkrafte es. Doch im Grunde müsse eine Mannschaft die Eigenheiten ihres Landstrichs verkörpern, um Identität zu schaffen und daraus Kraft zu ziehen. Und das Publikum an sich zu binden.

Guhl blieb lange Jahre Nachwuchstrainer in Sitten und setzte sich kritisch mit der Ausbildung der Jungen auseinander. Sie war ihm zu strikt, zu schematisch. Er sagte: «Einem Fünfjährigen zu sagen, wohin er laufen soll oder dass er einen Gegenspieler decken soll, ist, als würde man den Wolken sagen, wohin sie sich verschieben sollen.»

Später heiratete er Marie Bonvin, die Tochter des grossen Walliser Weinhändlers Charles Bonvin. Sie bewohnten in Sitten eine wunderschöne Altbauwohnung in der vieille ville. Im obersten Stock wohnten sie, 70 Stufen waren’s von der Strasse aus, Guhl schaffte sie auch im hohen Alter zweimal pro Tag. Erst spät zog er in ein Pflegeheim.

Guhl schrieb fast bis zum Schluss Aufsätze und Gedichte, machte Notizen, las Zeitung. Er liebte Spaziergänge, und welche Wege er auch nahm, sie führten ihn meistens zum Ancien Stand, dem Fussballplatz im Zentrum von Sitten, wo die Junioren bis heute trainieren. Und wo alles angefangen hat.

Am letzten Samstag ist Jacques Guhl mit 101 Jahren gestorben. Er hinterlässt seine Tochter Agnes, eine Künstlerin. Und ein Stück Schweizer Fussballgeschichte.

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