Montag, Oktober 7

Der 38-jährige Thurgauer bestreitet in Paris die sechsten Paralympics. In der Szene ist er der Grossverdiener und bekannt für technische Tüfteleien. Das ruft auch Nörgler auf den Plan.

In Marcel Hugs Daheim in Nottwil liegen 98 Medaillen, davon 62 goldene. Das sind aber nur seine wichtigsten, jene, die der Rollstuhlsportler für die grössten Erfolge bekommen hat. Doch selbst das sind zu viele, um sie alle aufzuhängen. Hug hat sie in Vasen gelegt. Andere Auszeichnungen wie jene für den Schweizer Parasportler des Jahres hat er als Leihgabe an Sponsoren weitergegeben; neunmal hat er sie bereits gewonnen.

Hug, 38 Jahre alt, ist auch 6-facher Paralympics-Sieger, 13-facher Weltmeister, er war 11 Mal Europameister und hat 32 Mal ein Rennen der World Marathon Majors gewonnen. Das sind die grossen Stadtläufe in Chicago, New York, Boston, London, Berlin und Tokio. Die Veranstalter haben sich zusammengeschlossen, um ihre Wettkämpfe noch besser zu vermarkten. Und auch die Rollstuhlleichtathleten haben dort ihren Platz.

Hug hat im vergangenen Jahr alle sechs Marathons dieser Serie für sich entschieden – einmal triumphierte er innerhalb einer Woche auf zwei Kontinenten. Letztmals kam er in einem Marathon 2019 in New York nicht als Sieger ins Ziel. An den letzten Paralympics, 2021 in Tokio, startete er über 800, 1500 und 5000 Meter sowie im Marathon und gewann viermal Gold. Die Medaillen aus Tokio sind die einzigen, die er daheim ausstellt. Für Hug sind es die wertvollsten. «Tokio war total verrückt, es hat alles gepasst», sagt er.

Hug könnte aufhören mit dem Sport; er hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Trotzdem bereitet er sich gerade auf die Paralympics in Paris vor, die diese Woche beginnen. Hug tut das mit Akribie, er spult Kilometer auf der Bahn ab und trainiert im Kraftraum den Oberkörper. Zwei Trainings täglich, an sechs Tagen die Woche. Er macht das, obwohl er weiss, dass er die Resultate von Tokio nicht übertreffen wird – Hug ist längst am Ziel seiner Träume. Warum er in Paris trotzdem mitmache? Die Antwort ist simpel: «Weil ich Wettkämpfe liebe, Freude am Sport habe und mich auf die Atmosphäre freue», sagt Hug.

Das Ziel für die Paralympics in Paris sei mindestens eine Goldmedaille. Und er wolle die Spiele geniessen. «Das ist mir früher nicht so gut gelungen. Ich war viel zu fokussiert», sagt Hug. Paris versucht er lockerer anzugehen, nicht mehr so verbissen. Denn: «Mein Perfektionismus und die ständige Konzentration. . . Das ist sehr anstrengend.»

Sein Trainer arbeitet schon seit Kindertagen mit Hug

Hug wird 1986 mit offenem Rücken geboren. Als Achtjähriger nimmt er an einem Lager teil, wo Kinder im Rollstuhl Selbständigkeit lernen; Aussteigen aus dem Gefährt, das Meistern einer Stufe, Alltägliches. Hug kommt dort in Kontakt mit dem Parasport. Jemand bringt einen alten Rennrollstuhl mit ins Lager und fragt, wer probieren wolle. Hug will – und ist begeistert vom Tempo. Daheim im Thurgau tritt er einer Rollstuhlsportgruppe bei. Doch die Initialzündung der Sportkarriere kommt auf der Skipiste. Dabei interessiert sich Hug wenig für Wintersport.

Als Zehnjähriger probiert er Skifahren auf einem speziellen Bob aus. Auf der Piste trifft er Franz Nietlispach; der heute 64-Jährige ist nebst Heinz Frei einer der Pioniere des Schweizer Rollstuhlsports. Nietlispach hat 20 Mal Gold an den Paralympics gewonnen. Er spricht mit dem Buben, erzählt von grossen Rennen und den Paralympics. Hug denkt: «Das will ich auch einmal erleben.»

Hug sagt, er sei vom Körperbau her prädestiniert für die Rollstuhlleichtathletik und sei schon immer ehrgeizig gewesen. Der Trainer Paul Odermatt fördert Hug seit Kindertagen, er ist noch heute sein Coach. Hug sagt: «Er ist ein Glücksfall. Er lebt 365 Tage im Jahr für den Parasport.» 2004 schafft es Hug erstmals an die Paralympics in Athen, es ist eine andere Zeit.

An die Wettkämpfe kommen nur wenige Zuschauer, das sportliche Niveau ist überschaubar. Hug gewinnt über 800 und 1500 Meter die Bronzemedaille. «Mit diesen Leistungen würde ich heute den Final verpassen, vielleicht würde es nicht einmal für die Teilnahme an den Paralympics reichen.»

Die World Marathon Majors als Geldesel

In Paris wird Hug die sechsten Paralympics bestreiten, er ist seit zwei Jahrzehnten im Geschäft, seit über zehn Jahren an der Spitze. Während seiner Karriere ist der Parasport professioneller geworden, Hug lebt seit 2011 davon. In der Szene ist er ein Grossverdiener, der Grund dafür sind die World Marathon Majors. Die besten Parasportler werden dort gleich behandelt wie die Stars unter den Läufern, Eliud Kipchoge zum Beispiel. Hug residiert in den gleichen Hotels – und erhält ein verhältnismässig hohes Preisgeld.

Für Rang eins am New-York-Marathon gab es letztes Jahr 35 000 Dollar, in London sogar 55 000. Für den Gesamtsieg der Major-Serie bezahlen die Veranstalter 50 000 Dollar, für einen Streckenrekord denselben Betrag. Hug sagt, die Major-Serie sei «ein grosses Glück». Wenn er überlegt, wie viel Geld er in anderthalb Stunden verdient hat, erscheint ihm das manchmal surreal.

Doch die Preisgelder seien ein wichtiges Zeichen der Inklusion, sagt Hug. «Ich will nicht bemitleidet werden oder dass Menschen finden, es sei ja toll, dass ich trotz Behinderung Sport treiben kann. Ich will als Spitzensportler und nicht als Behinderter respektiert werden.» In dieser Hinsicht habe sich jüngst viel verändert. Der Parasport ist heute sichtbarer. «Das Denken in der Gesellschaft ist anders. Heute steht die sportliche Leistung und nicht die Behinderung im Fokus.»

Die Siege von Tokio rufen Nörgler auf den Plan

Hinter all seinen Triumphen stecken nicht nur harte Trainings. Hug liebt Tüfteleien am Material. Vor Tokio hat er mit einem Unternehmen einen neuen Rennrollstuhl entwickelt. Hug testete das Modell im Windkanal des Sauber-Teams in Hinwil, kooperierte mit der ETH. Der Rollstuhl sei eine Rakete, hat Hug schon oft gesagt. 41 000 Franken kostet das Gefährt. Das hat ihm Kritik eingebracht.

Nörgler fanden nach den vier Goldmedaillen von Tokio und den Siegen an den Marathons, Hug habe einen unfairen Vorteil, technisches Doping sei das. Andere Athleten hätten nicht seine finanziellen Mittel, der Rollstuhl sei für sie zu teuer, Hugs Siege erkauft. Hug kann diese Argumente zwar nachvollziehen. Er sagt: «Die Kritik hat mich beschäftigt, denn die Entwicklung bedeutete vier Jahre lang harte Arbeit. Ich weiss aber, wie privilegiert ich bin.» Doch das gelte auch in anderen Sportarten. Athletinnen und Athleten aus reichen Ländern haben bessere Infrastruktur und bessere Trainingsmöglichkeiten. Hug sagt: «Auch Parasport ist Spitzensport. Und dort geht es darum, die Leistung mit allen erlaubten Mitteln zu optimieren.»

Optimieren, das macht Hug auch vor Paris, er tüftelt an neuen Handschuhen, die die Kraftübertragung beim Anschieben optimieren sollen. Die werden mit einem 3-D-Drucker erstellt, das erlaubt ihm, verschiedene Modelle zu testen. Doch Hug sagt: «Das Potenzial für Optimierungen wird immer kleiner.»

Deshalb denkt er in letzter Zeit immer wieder ans Aufhören. 2028 in Los Angeles werde er wohl nicht mehr mitmachen an den Paralympics. Für den Rücktritt hat er sich verschiedene Szenarien zurechtgelegt. Doch er wisse nicht, wie er es schaffen werde, den Sport loszulassen. «Davor habe ich Respekt.»

Exit mobile version