Sonntag, November 24

Der österreichische Schriftsteller Hugo Bettauer schilderte in seinem Roman die fatalen Folgen, die ein Beschluss der Wiener Stadtbehörden hatte. Seine Fiktion lässt an die Gegenwart denken.

So ziemlich alles, was die AfD politisch anpackt, hat es schon einmal gegeben, wenn nicht in der Wirklichkeit, dann immerhin in der Literatur. Und so gibt es auch zu dieser neuen alten Idee, Millionen Menschen ausländischer Abstammung, die längst in unsere Gesellschaft integriert sind, ausser Landes zu bringen, eine literarische Vorlage. Im Jahr 1922 erschien das Buch «Die Stadt ohne Juden» des Schriftstellers Hugo Bettauer. Er nannte es im Untertitel: «Ein Roman von übermorgen».

Es ist kein literarisches Meisterwerk, Bettauer war ein sozial engagierter und kritischer österreichischer Autor, der die Kolportage liebte und beherrschte. Dennoch bleibt das Buch bis heute ein brisantes Zeitdokument, dessen Szenario nur wenige Jahre nach dem Erscheinen brutal von den Nationalsozialisten verwirklicht wurde. Ist es auch ein Buch der Stunde? Das «Übermorgen», auf das Bettauer noch bangend im Untertitel hinwies, ist heute sehr fern. Dennoch lohnt sich ein Blick auf das Buch.

Hauptsache, weit weg

In «Stadt ohne Juden» beschliessen die Bürger von Wien, ihre Mitbürger jüdischen Glaubens auszuweisen. Sie geben ihnen die Schuld an allem Negativen, an Arbeitslosigkeit, Inflation, Kriminalität. Tatsächlich wird dieser Wunsch vom Bürgermeister umgesetzt, ungefähr so, wie sich die Rechtsextremen die Umsiedlung ausländischer Bürger heute vorstellen: Es sind keine Morde geplant, vielmehr Transporte Hunderttausender in andere Gebiete der Welt. Hauptsache, möglichst weit weg.

Die Juden müssen sich auf den Weg machen, die Stadt feiert ihr «Befreiungsfest»: Jetzt würde alles anders und natürlich viel besser werden: «Mitbürger, ein ungeheures Werk ist vollendet! Alles das, was in seinem innersten Wesen nicht österreichisch ist, hat die Grenzen unseres kleinen, aber schönen Vaterlandes verlassen.» In den ersten Monaten fügt sich das Leben in diesem Wien ganz ohne Juden auch sehr nach dem Gusto der verbliebenen Einwohner. Doch schon bald zeigt sich, dass da etwas fehlt.

Die Kaffeehäuser, wo der Geist über den Tischen regierte, sind verwaist, aus den Theatern sind die besten Schauspieler verschwunden, die Einzelhändler beklagen sich über Umsatzrückgang, denn weder an den Marktständen noch in den teuren Modegeschäften gibt es jetzt genügend Kunden, die einst verlässlich für tägliche Einnahmen sorgten, auch die vielen jüdischen Juweliere mussten ihre Läden zusperren. Gerade wirtschaftlich hat man sich selber ins Abseits manövriert: «Mit den Juden hat man bei uns den Wohlstand vertrieben.»

Der Roman spricht von einer Depression, die die Bewohner Wiens befällt, von schleichend steigender Unzufriedenheit über das sogenannte Judengesetz, von ersten Bestrebungen, die radikale Massnahme rückgängig zu machen. Bis dahin lässt sich die Schilderung mühelos auf die in Potsdam diskutierten Pläne der rechtsextremen Gruppe in der Gegenwart übertragen.

Versöhnliches Ende

Bereits zwei Jahre nach dem Erscheinen wurde der Roman vom Regisseur H. K. Breslauer in Österreich verfilmt. Der stark expressionistische Stummfilm hielt sich eng an die literarische Vorlage. In Deutschland und Österreich störten Nazi-Kampftrupps die Vorstellungen in den Kinos massiv. In einer späteren Betrachtung zum Film hiess es: «Der naive und vielleicht grobe Versuch aus dem Jahre 1924 kann als Generalprobe für das gelesen werden, was nach dem Zweiten Weltkrieg im ‹Land ohne Eigenschaften› praktiziert wurde.»

Freilich sollte das Buch «Stadt ohne Juden» auch bis zum Ende gelesen werden: Wien holt alle vertriebenen Juden wieder zurück. Langsam beginnt sich das Leben zu normalisieren, die einstigen «Vertreiber» geben klein bei oder danken ab. Das lässt doch auch uns wieder hoffen: «Übermorgen» ist heute schon zu verhindern.

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