Donnerstag, Oktober 3

Anastasia Trofimowa hat sieben Monate mit russischen Truppen an der Front verbracht. Ihr Film «Russians at War» verharmlose Kriegsverbrecher, wird ihr vorgeworfen. Sie sagt: «Wenn man 40 Filme aus der Sicht der Ukraine sieht und keinen einzigen aus Russland, hat man kein vollständiges Bild.»

Eines Tages in der Moskauer Metro hat Anastasia Trofimowa eine kuriose Begegnung mit Väterchen Frost. Ein junger Mann im Kostüm, der gerade von einem Kinderfest kommt, sitzt ihr gegenüber. Unter dem Kostüm trägt er Armeeuniform. Es ist Winter 2022, der Soldat, stellt sich heraus, ist Ukrainer, kämpft aber für die Russen. Seine Geschichte lässt die russisch-kanadische Regisseurin nicht los. Zu ihrer Überraschung ist der Mann bereit, sie zu seiner Einheit mitzunehmen.

Kurzerhand besteigt Trofimowa einen Zug und fährt, laut eigener Aussage ohne Genehmigung, zur Truppe. In die von Russland besetzten Gebiete habe sie sich als Zivilistin mit russischem Pass problemlos begeben können, sagt sie. Vor Ort schliesst sie sich zunächst einer Versorgungseinheit hinter der Front an, dann rücken die Soldaten vor. Trofimowa geht mit. Vorwiegend ist sie in einer Gruppe von Sanitätern unterwegs, wo noch zwei andere Frauen dabei sind. Manchmal reagieren Offiziere verwundert auf ihre Anwesenheit, aber sie schicken die Kriegsreporterin, die auch im Irak, in Syrien und Kongo-Kinshasa war, nicht weg.

Trofimowa vollführt mit dem beobachtenden Dokumentarfilm, der das Geschehen nicht kommentiert, einen Balanceakt. Ukrainische Offizielle werfen der Filmemacherin Propaganda vor. In einem schriftlichen Statement stellte sie später klar, dass für sie der Einmarsch Russlands in die Ukraine «ungerechtfertigt und illegal» sei und sie die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine anerkenne. Nach der Premiere von «Russians at War» am Filmfestival in Venedig, wo der mit kanadischem und französischem Geld realisierte Dokumentarfilm kontrovers diskutiert wurde, äusserte sich die Filmemacherin mit ruhiger, konzentrierter Stimme.

Sie waren sieben Monate an der Front. Wie geht es Ihnen?

Mir geht es gut. Einzig mein Kopf ist noch dort, es ist ein bisschen schizophren. Ein Teil von mir ist dort, ein Teil ist hier.

Wie schlafen Sie?

Ich habe keine Albträume. Es ist nicht mein erster Krieg. Aber so tief drin war ich noch nie.

Wie beschreiben Sie Krieg?

Krieg ist das Gegenteil von dem, wie er in der tagespolitischen Berichterstattung erscheint. Krieg bedeutet nicht: politische Slogans. Krieg ist auch ganz anders als in den Erzählungen: Nichts daran ist heroisch oder romantisch. Krieg ist Tod, Verlust, Leiden, auch Langeweile.

Langeweile?

Es ist völlig unberechenbar. Man erlebt einen vollkommen ruhigen Tag, nichts passiert. Dann erlebt man einen Tag, an dem am Ende viele, viele Menschen getötet werden. Es gibt keinen geregelten Ablauf. Es gibt nur die Erwartung, dass etwas passieren wird. Sobald etwas passiert, habe ich mich unter Kontrolle. Ich reagiere auf die Situation, soweit ich das kann. Aber das Warten belastet einen am meisten.

Wie erinnern Sie sich an den ersten Tag an der Front?

Die erste Nacht haben wir in einem alten sowjetischen Atombunker verbracht. Am nächsten Morgen mussten die Soldaten eine Unterkunft suchen. Es war kalt. Es war Februar. Es war zwei Tage nach meinem Geburtstag.

Sie erzählen das sehr nüchtern.

Es ging für mich einfach darum, mich zurechtzufinden und zu schauen, ob ich bei der Truppe bleiben darf oder nicht. Am ersten Tag gingen die Soldaten zum Bürgermeister des Orts und fragten ihn, welche Häuser verfügbar seien. Manchmal bekommt man Schlüssel, man geht umher und schaut nach geeigneten Unterkünften. Das ist es, was die Soldaten tun, wenn es eine freundliche Gegend ist.

Eine freundliche Gegend?

In der Ostukraine gibt es noch immer viel Unterstützung für Russland. Es ist paradox. Man erwartet das natürlich nicht, es passt nicht zur Wahrnehmung dieses Krieges, wie wir sie im Westen haben. Aber so habe ich es erlebt.

Wenn man die Aufnahmen sieht, wirkt das Vorgehen der Soldaten recht unkoordiniert, geradezu amateurhaft.

Das ist es auch. Der Krieg hat alle überrascht, in gewisser Weise wohl sogar die Militärs. Die Soldaten gehen einfach voran und arrangieren sich.

Haben Sie ständig gefilmt oder nur in gewissen Situationen?

Fast die ganze Zeit. Weil man ja nie weiss, wann ein entscheidender Moment ist.

Mussten Sie viel herausschneiden, weil es zu brutal gewesen wäre?

Natürlich habe ich häufig Tote gefilmt, die weggetragen wurden. Die einen waren mehr entstellt als andere. Einmal wurde ein Mann von einer Granate getroffen. Es blieb nur der Torso übrig. Kein Kopf, keine Beine. Wir haben es gefilmt. Aber für mich war es vor allem wichtig, den ersten Toten, den ich erlebt habe, im Film zu haben. Er markiert sozusagen den Start, ab da läuft der Zähler: ein Toter, zwei Tote, drei Tote . . . Natürlich zeigt man dann nicht mehr alle Toten, man wählt aus. Die Bilder wiederholen sich. Krieg ist Wiederholung. Tag für Tag, Tote um Tote.

Hatten Sie Angst?

Nein. Ich weiss, wie Krieg ist. Dieser Krieg betrifft mich allerdings mehr als frühere. Sonst gehe ich auch weit, aber nicht so weit. Nicht sieben Monate an die Front. Nicht so nahe ran. Ich habe mich früh mit der Situation auseinandergesetzt, ich sagte mir: «Es besteht die Möglichkeit, dass du verwundet wirst. Du könntest verhaftet werden. Oder du könntest getötet werden. Kannst du damit umgehen?» Ich kann damit umgehen.

Welchen Eindruck machten die Soldaten auf Sie?

Ich war sehr überrascht, wie gewöhnlich diese Leute waren. Normale Leute in einer völlig abnormalen Situation. Als ich ankam, wusste ich nicht, was mich erwartet. Ich kenne niemanden beim Militär, habe keine Freunde oder Familie bei der Truppe. Ich wusste von diesem Krieg kaum etwas aus erster Hand. Die einzigen Informationen, die ich hatte, waren aus den Medien: russische Medien, ukrainische Medien, westliche Medien. Mein Kopf war voller widersprüchlicher Aussagen. Entsprechend vorsichtig war ich zunächst.

Konnten Sie die Soldaten alles fragen?

Ja. Sie schienen es zu begrüssen, dass ich da war.

Wieso?

Um sie herum sind nur andere Männer, Männer, die auch müde sind und versuchen, zu überleben, es irgendwie durchzustehen. Dann ist da plötzlich jemand, der nicht beim Militär ist, der sich für ihr Leben interessiert und die Gründe, warum sie da sind, wo sie sind. Sie fragten mich auch viel: Was sind die Gerüchte in Moskau? Wann ist der Krieg vorbei? Ich musste erklären, dass ich, nur weil ich in Moskau lebe, natürlich auch nicht mehr Informationen habe als sie.

Mich hat überrascht, dass die Soldaten nicht aggressiv wirken. Man spürt keine Anzeichen von Kampfeslust.

Für mich war das auch überraschend. Soldaten stellt man sich als Männer mit einer Mission vor. Männer, die eine Einheit bilden und auf eine bestimmte Art denken. Aber das war hier gar nicht der Fall. Viele dieser einfachen Leute haben kein politisches Interesse. Bei einigen von ihnen habe ich sogar erlebt, dass sie Mitleid haben, vor allem mit den ukrainischen Zivilisten. Sie sagen: «All diese zerstörten Gebäude. Wäre ich nicht hier, wäre das vielleicht nicht passiert.» Ich hatte nicht erwartet, so etwas zu hören. Aber deshalb ist es für mich auch entscheidend, dass wir die Menschen zeigen und ihre Geschichten hören. Und uns nicht einfach etwas ausmalen.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Sie würden die russischen Soldaten zu empathisch zeigen?

Gibt es da eine Liste, auf der steht: Diese Leute dürfen wir menschlich zeigen und andere nicht? Wenn wir einander nicht als Menschen sehen, sondern Stereotype verbreiten, wie Politiker und Medien das tun, dann wird der Krieg nur weitergehen. Dadurch wird der Hass nur grösser.

Bilden die Medien den Krieg falsch ab?

Aus diesem Grund habe ich den Film gemacht. Für mich fehlte in der Berichterstattung das menschliche Element. Mir ist natürlich bewusst, dass ich mich hier auf heikles Terrain begebe: Die Art und Weise, wie russische Soldaten wahrgenommen werden, ist nicht . . . Wie soll ich sagen? Wir sehen ihre Gesichter viel zu selten.

Was meinen Sie damit?

Die Erzählungen über den Krieg kommen von der ukrainischen Seite und bestimmen, wie wir auf die russischen Soldaten schauen. Natürlich ist diese Sicht verständlich. 100 Prozent. Die Menschen in der Ukraine leiden. Aber auch Russen leiden. Wenn man 40 Filme aus der Sicht der Ukraine sieht und keinen einzigen aus Russland, hat man kein vollständiges Bild. Man kann dann nicht behaupten, dass man wirklich versteht, was in diesem Krieg vorgeht.

Finden Sie die Berichterstattung einseitig?

Die Regel der Kriegsberichterstattung ist doch, Krieg von beiden Seiten zu zeigen. Es geht darum, die Menschlichkeit nicht zu verlieren. Ich verstehe, dass es ein kompliziertes Thema ist, aber es ist beängstigend, zu sehen, wie russische Soldaten nicht länger als Menschen betrachtet werden. Das führt zu klassischem, eklatantem Rassismus. Alle Menschen sind Menschen. Das ist eine einfache Wahrheit, die aber kaum mehr ausgesprochen werden kann.

Im Film wird ein Soldat auf die russischen Kriegsverbrechen angesprochen. Er sagt, er könne sich nicht vorstellen, dass solche geschehen seien. Darf man so eine Aussage einfach stehenlassen?

Wir blenden nichts aus. Der Film gibt die sieben Monate wieder, die ich mit den Soldaten verbracht habe. In den westlichen Medien ist viel von den Kriegsverbrechen die Rede, es verfestigt sich das Bild, dass die russischen Soldaten sozusagen naturgemäss Kriegsverbrechen begehen. Die Medien fokussieren auf diese Geschichten. Dieser Film zeigt eine andere Realität des Krieges. Wenn ich in den sieben Monaten Kriegsverbrechen miterlebt hätte, wären sie im Film.

Der Film zeigt auch die Unzufriedenheit in der Truppe. Soldaten werden nicht bezahlt oder sind noch an der Front, obwohl ihre Verträge längst ausgelaufen sind. Müssen die Soldaten nicht befürchten, für gewisse Aussagen verfolgt zu werden?

Das habe ich oft mit ihnen besprochen, sie waren irgendwann fast genervt, dass ich das Thema immer wieder aufbrachte. Zurück in Moskau, habe ich drei verschiedene Anwälte konsultiert, die den Film auf Aussagen geprüft haben, welche die Soldaten in Schwierigkeiten bringen könnten. Einigen Soldaten, die überlebt haben, habe ich den Film gezeigt. Die Reaktionen waren sehr positiv. Einmal habe ich mich mit einem Panzerfahrer unterhalten. Er sagte: «Wenn vor einem Jahr jemand gesagt hätte: ‹Hier ist der Schlüssel zum Panzer, steig ein und schiess auf den Hügel, vielleicht tötest du jemanden›, dann hätte ich gesagt: ‹Go fuck yourself.›» Aber heute nehme er die Schlüssel, steige ins Fahrzeug und schiesse, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Soldat hat einen vierjährigen Sohn. Er meinte: «Ich habe Angst, dass ich aus dem Krieg zurückkomme und mein Sohn mich anschaut und sagt: ‹Was ist das für ein kranker Typ?›»

Sie haben Russland verlassen. Können Sie zurück?

Wir müssen abwarten, wie die Reaktionen auf den Film ausfallen. Aber ich hoffe, dass es mir weiterhin möglich sein wird, dort zu arbeiten und mit Filmen Brücken zu bauen. Damit sich die Menschen sehen. Wir müssen nicht einer Meinung sein, aber wir müssen uns sehen.

«Russians at War» wird am Zurich Film Festival (3. bis 13. Oktober) gezeigt.

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