Jan Marsaleks Helfer in Wien konnte nach Warnungen aus dem Ausland mindestens fünf weitere Jahre Material nach Moskau liefern. Was wie eine Agentenkomödie wirkt, hatte gefährliche Folgen und erschüttert auch die Innenpolitik.
Seit der Festnahme eines ehemaligen Verfassungsschützers vor gut zwei Wochen in Kärnten enthüllen Österreichs Medien täglich neue Facetten des vermutlich grössten Spionageskandals der Zweiten Republik. Dabei stellt sich immer drängender die Frage, wie es dem Beschuldigten Egisto Ott gelingen konnte, noch bis mindestens Ende 2022 äusserst heikles Material an den russischen Geheimdienst FSB weiterzuleiten, obwohl die österreichischen Behörden schon mehr als fünf Jahre zuvor aus dem Ausland auf dessen Spitzeltätigkeit hingewiesen worden waren.
Laut den Ermittlungsakten teilten amerikanische Dienste Wien bereits 2017 mit, dass der zu diesem Zeitpunkt seit Jahrzehnten im Staatsschutz tätige Ott sich klassifizierte Unterlagen an seine private E-Mail-Adresse sende und mutmasslich an Russland verkaufe. Der Beamte wurde daraufhin von seiner Funktion im damaligen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) suspendiert, und die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Später wurde festgestellt, dass Ott schon zwischen 2015 und 2017 fast 400 Personenabfragen «ohne dienstlichen Bezug» in diversen polizeilichen Datenbanken gemacht hatte – und für den Zugang schlicht Aktenzeichen erfunden hatte.
Ein Maulwurf mit «hoher krimineller Energie»
Allerdings begründete das Innenministerium die Suspendierung nicht ausreichend, sie wurde deshalb gerichtlich aufgehoben. Ott wurde zwar aus dem BVT versetzt, behielt aber seinen Polizeiausweis, die E-Mail-Adresse des Ministeriums und vor allem seine zahlreichen Kontakte. Gemeinsam mit seinem einstigen Vorgesetzten im BVT, Martin Weiss, soll er eine «nachrichtendienstliche Zelle» gebildet haben. Weiss heuerte nach seinem Ausscheiden aus dem BVT 2017 beim mittlerweile abgetauchten ehemaligen Wirecard-Manager Jan Marsalek an, der laut Recherchen bereits seit rund zehn Jahren für Moskau spioniert.
Im Auftrag von Marsalek und Weiss setzte Ott seine Spionagetätigkeit über Jahre fort – obwohl mehrere Hausdurchsuchungen bei ihm stattfanden, er neuerlich suspendiert und 2021 sogar kurzzeitig festgenommen wurde. Viele seiner Abklärungen betrafen Personen mit Bezug zur russischen Opposition, die im Fokus des Kremls stehen.
2022 übermittelte Ott schliesslich die gestohlenen Handys dreier hochrangiger Beamter des österreichischen Innenministeriums vermutlich an den FSB, einige Monate später einen mit spezieller Verschlüsselungstechnologie ausgestatteten Laptop, wie ihn vor allem deutsche Sicherheitsbehörden verwenden. Von Marsalek befehligte bulgarische Agenten sollen die Geräte jeweils in Österreich abgeholt haben. Entsprechende Chat-Nachrichten stellte der britische Geheimdienst sicher. Es waren denn auch Hinweise aus Grossbritannien, die an Ostern zur neuerlichen Festnahme Otts führten.
Wiederum waren es also ausländische Behörden, die Otts Umtriebe feststellten, obwohl er auch in Österreich seit Jahren unter Verdacht stand. Handelt es sich um ein Behördenversagen? Innenminister Gerhard Karner wies solche Vorhaltungen in einem ORF-Interview zurück: Es sei eben sehr akribisch ermittelt worden, was nun zur Verhaftung geführt habe. Dass Ott währenddessen weiter Informationen absaugen und verkaufen konnte, begründete Karner mit «hoher krimineller Energie».
Auch der ehemalige BVT-Chef und langjährige Vorgesetzte Otts verteidigte sich. Man habe diesen ja suspendiert, als Vorwürfe aufgekommen seien. Mangelnde Beweise und das Beamtendienstrecht hätten verhindert, dass man ihn ganz aus dem Ministerium habe entfernen können.
FPÖ-Freundschaftsvertrag mit Russland wieder im Fokus
Was wie eine Agentenkomödie wirkt, hat dabei durchaus ernste Folgen. So war eines der Opfer von Otts Spionage der lange in Wien wohnhafte Investigativjournalist Christo Grosew, der unter anderem den Giftanschlag auf Alexei Nawalny 2020 aufdeckte. Er steht auf der Fahndungsliste des Kremls. Ott machte für Marsalek den Wohnsitz Grosews ausfindig, worauf bei diesem eingebrochen wurde und ein Laptop sowie USB-Sticks gestohlen wurden. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auch Schlimmeres vorzustellen. Grosew verliess Wien im letzten Jahr nach Warnungen aus dem Ausland.
Auch die Razzia beim BVT unter dem damaligen FPÖ-Innenminister Herbert Kickl 2018 hatte verheerende Konsequenzen. Vermutlich lieferten Ott und Weiss mit einer Reihe anonym verfasster Vorwürfe den Vorwand für den Sturm auf den Verfassungsschutz, der geheime Daten in die Hände Unbefugter brachte. Dies führte zu einer Erosion des Vertrauens in Österreichs Nachrichtendienst und zu einem Ausschluss vom internationalen Informationsaustausch. Das Amt musste in der Folge gänzlich neu aufgestellt werden.
All das ist explosiv, besonders in einem Wahljahr. Die derzeit regierende ÖVP bezeichnet die in allen Umfragen führende rechtspopulistische FPÖ schon seit Monaten als Sicherheitsrisiko für Österreich – unter anderem wegen der Razzia im BVT. Der Spionageskandal liefert ihr dafür neue Munition. Ott stand laut den Ermittlern in regem Austausch mit einem ehemaligen Abgeordneten der FPÖ. Dem Spion soll auch eine führende Rolle zugedacht worden sein in einem neuen Nachrichtendienst, den die Partei während ihrer Regierungszeit im Aussenministerium einrichten wollte. Dessen Chefin war damals Karin Kneissl, die wegen des Knicks vor dem Kremlherrn Wladimir Putin an ihrer Hochzeit 2018 weltweit berühmt wurde. Sie lebt heute in Russland.
Die Konservativen bezeichnen Ott deshalb als «Spion der FPÖ» und werfen dem nunmehrigen Parteichef Kickl vor, die Interessen des Landes an Russland verraten zu haben. In den Fokus rückt damit auch einmal mehr der Freundschaftsvertrag, den die Freiheitlichen 2016 mit der Kreml-Partei Einiges Russland abgeschlossen hatten. Die FPÖ behauptet, das Abkommen sei nach fünf Jahren ausgelaufen. Medien hatten indes berichtet, es bedürfe einer Kündigung. Ob eine solche erfolgt ist, ist unklar. Vergangene Woche hiess es seitens der Partei, man finde das Dokument nicht mehr.
Auch die ÖVP steht in der Verantwortung
Kickl weist die Vorwürfe zurück. Er kenne weder Ott noch Weiss oder Marsalek, erklärte er kürzlich. Anders als sein Vorgänger Heinz-Christian Strache gehörte er auch nicht zu den Russland-Freunden in der Partei. Die Razzia beim Verfassungsschutz dürfte ihm gelegen gekommen sein, um eine jahrzehntelang von der ÖVP kontrollierte Behörde politisch neu auszurichten. Die Behauptungen aus dem Umfeld Otts boten einen Anlass dazu. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass Kickl von dessen Russland-Verbindungen wusste.
Der FPÖ-Chef drehte den Spiess vielmehr um und erklärte, in jede seiner Positionen sei Ott in Verantwortung der ÖVP gekommen. Tatsächlich sind die Vorwürfe der Konservativen heikel: Die Partei stellt seit 24 Jahren den Innenminister – mit Ausnahme der anderthalb Jahre unter Kickl sowie der kurzen Zeit einer Technokratenregierung in den Monaten nach dem Platzen der gemeinsamen Koalition mit der FPÖ wegen des Ibiza-Skandals. Ott führte seine staatsfeindliche Tätigkeit also hauptsächlich unter ÖVP-Ministern aus. Zudem war es der damalige ÖVP-Chef Sebastian Kurz, der Kickl zum Innenminister machte und ihm damit die Kontrolle über die Sicherheitsbehörden gab. Das galt schon damals als umstritten, unter anderem wegen der Russland-Nähe der FPÖ.
Inwieweit die Affäre den Wahlausgang in einem halben Jahr beeinflusst, ist derzeit offen. Klar ist aber, dass die ÖVP danach Königsmacherin sein wird: Sie könnte nach neuen Umfragedaten sowohl mit der FPÖ als auch mit den Kräften links der Mitte eine Mehrheit bilden. Nur: Wie können die Konservativen im Herbst ein Bündnis mit Kickl begründen, den sie nun des Landesverrats bezichtigen? Selbst einer für ihre ausgeprägte Machtpolitik bekannten Partei dürfte das schwerfallen.