Dienstag, Oktober 1

Die Kommissionschefin hat einen guten Machtinstinkt. Doch der nützt wenig, solange Berlin und Paris nur mit sich selber beschäftigt sind.

Sie ist eine geschickte Machtpolitikerin, die das Risiko nicht scheut. Gleich zum Auftakt ihrer zweiten Amtszeit hat es Ursula von der Leyen erneut bewiesen: 24 Stunden vor der Präsentation des neuen Kollegiums entledigte sich die Kommissionspräsidentin ihres ärgsten Widersachers.

Thierry Breton, bisher Kommissar für den Binnenmarkt, von Paris erneut für ein wichtiges Wirtschaftsportfolio nominiert, musste das Handtuch werfen. Von der Leyen hatte hinter seinem Rücken einen Handel mit Präsident Emmanuel Macron gemacht.

Das Verhältnis zwischen Breton und von der Leyen ist seit langem angespannt und war in den letzten Monaten regelrecht zerrüttet. Der Franzose, der sich während der Covid-Pandemie um die Impfstoffbeschaffung verdient gemacht hatte, respektierte die Autorität der Kommissionschefin immer weniger und stellte zuletzt öffentlich deren Personalentscheidungen infrage.

Vor einer Woche griff von der Leyen zum Hörer und stellte Macron vor die Wahl: Wenn der französische Kandidat ein gewichtiges Portfolio erhalten solle, dann dürfe er nicht Thierry Breton heissen. Und es sollte eine Frau sein. So berichtet es «Politico» unter Berufung auf französische Insider.

Macron gab nach. Allerdings nicht ganz, denn er nominierte keine Frau, sondern Stéphane Séjourné, seinen geschäftsführenden Aussenminister und engen Vertrauten. In der neuen Kommission soll er für das Ressort Wachstum und Industriepolitik zuständig sein. Zudem wird er einer der sechs Vize-Kommissionschefs.

In Frankreich lamentieren Kommentatoren, der Kuhhandel offenbare den Machtverlust des Landes. Da ist etwas dran, denn es ist offensichtlich, dass Macron gezwungen war, sich zwischen Wunschkandidat und Wunschportfolio zu entscheiden. Man hüte sich aber vor dem Umkehrschluss: Macrons Schwäche macht von der Leyen nicht stärker. Eher das Gegenteil ist der Fall. Dazu kommt, dass auch das zweite Schwergewicht der Union, Deutschland, europapolitisch kaum mehr präsent ist. Berlin schmort im eigenen Saft.

Das sind keine guten Vorzeichen für die künftige Kommission. Denn deren Macht ist geborgte Macht. Sie wird Brüssel von den Mitgliedsstaaten verliehen, die die Vorstösse der Kommission unterstützen, aber jederzeit auch abwürgen können. Die Brüsseler Exekutive ist dann nicht mehr als eine Verwaltungsinstanz. Es ist deshalb für die EU bedenklich, dass in den zwei grössten Ländern – einst als Motor der Union bezeichnet – Männer regieren, die nicht gestalten wollen (Scholz) oder können (Macron).

Dabei sind die Herausforderungen riesig, die auf Europa zukommen, geopolitisch, wirtschaftspolitisch und die Einwanderung betreffend:

  • Europa muss verhindern, dass Russland die Ukraine in eine Niederlage zwingt. Brüssel wird eine wichtige Rolle bei der Aufrüstung Europas spielen müssen. Das kann nur gelingen, wenn die grossen Länder, anders als bisher, am gleichen Strick ziehen.
  • Die EU wird ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China verbessern müssen. Das Schlagwort heisst Produktivitätssteigerung. Ob der Weg dahin über Deregulierungen im Binnenmarkt führt, über eine europäische Industriepolitik oder beides – darüber haben die Kontroversen erst begonnen.
  • Schliesslich muss auch die europäische Migrationspolitik – der ewig giftige Spaltpilz – neu konzipiert werden. Der beschlossene Migrationspakt ist ein erster Schritt, doch es braucht weitere Reformen, um die Einwanderung zu regulieren.

Mit Ursula von der Leyen, die neben Machtinstinkt auch über einen strategischen Kompass verfügt, steht die richtige Person an der Spitze der neuen Kommission. Wie gut sie sich in den nächsten Jahren schlägt, entscheidet sich aber nur zu einem kleinen Teil in Brüssel.

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