Die europäische Verteidigungsfähigkeit gegen Russland ohne die USA ist für Athen zweitrangig. Im Fokus Griechenlands bleibt die Türkei, Regionalmacht und Nato-Partnerin.
Die hellenische Republik will in den nächsten zwölf Jahren 28 Milliarden Euro für die Beschaffung von modernem Kriegsgerät ausgeben. Es geht um die langfristige Aufrüstung der griechischen Streitkräfte, die Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis Anfang April im griechischen Parlament angekündigt hatte. Herzstück des militärischen Aufwuchses soll das Luftverteidigungssystem «Schild des Achilles» werden. Als offensive Komponente kommen 20 F-35-Kampfjets hinzu.
Auch Griechenland plant vor dem Hintergrund des europäischen Schulterschlusses: Die EU strebt mehr strategische Autonomie an, um sich in Zukunft möglichst unabhängig von den USA gegen Russland verteidigen zu können. Die Aussetzung der amerikanischen Militärhilfe für die Ukraine durch Präsident Donald Trump hatte diese Dynamik stark beschleunigt. Mit «Rearm Europe/Readiness 2030» stellte die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen im März eine Initiative vor, die bis zu 800 Milliarden Euro für den Ausbau und die Modernisierung der europäischen Verteidigung mobilisieren will.
Europäischer Aussenposten gegen die Türkei
Die gemeinsame europäische Verteidigungsstrategie existiert bislang vor allem auf deklarativer Ebene. Griechenland teilt die langfristige Ambition und will sich in einer vernetzten Verteidigungsstruktur als wichtiger Akteur positionieren. Als Nato-Staat an der südöstlichen EU-Flanke hält Griechenland aber an seiner nationalen Verteidigungsstrategie fest. In der griechischen Bedrohungspyramide steht nicht Russland zuoberst, sondern die Regionalmacht Türkei.
«Griechenland teilt seine Grenzen mit einem Widersacher: Die Türkei hegt strategische Ambitionen und interveniert in mehreren bewaffneten Konflikten ausserhalb ihrer Landesgrenzen», sagt Vassilis Nedos, der sicherheitspolitische Analyst der konservativen Tageszeitung «Kathimerini». Die griechisch-türkischen Beziehungen der letzten Jahre waren geprägt von Konflikten um den gemeinsamen Grenzverlauf und die Hoheitsrechte besonders in der Ostägäis. Im Sommer 2020 eskalierte beinahe der Dauerstreit zwischen Athen und Ankara um bedeutende Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer, als türkische Forschungsschiffe wochenlang griechische Gewässer durchkreuzten.
Hohe Militärausgaben auch in Krise unbestritten
Seit 2018 flossen über 40 Milliarden Euro ins griechische Militär. 2021 und 2022 betrugen die Aufwendungen etwa vier Prozent, 2024 noch immer über drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Damit steckt Griechenland im EU-Vergleich nach Polen am meisten Mittel in seine Verteidigung. Was Russland für Polen ist, ein historischer Gegner, das ist für Griechenland die Türkei. Zum Vergleich: Die Schweiz will bis 2032 ihre Militärausgaben auf ein Prozent des BIP steigern.
Selbst während des knallharten Sparkurses nach der globalen Finanzkrise 2008 und der Staatsschuldenkrise gab Griechenland immer über zwei Prozent des BIP für seine Verteidigung aus. Die wirtschaftlichen und sozialen Versehrungen von damals wirken bis heute nach. Griechenland hat aber in den letzten Jahren zu einer messbaren finanzpolitischen Disziplin gefunden. 2024 übertraf Athen seine Haushaltsziele und schrieb sogar erstmals schwarze Zahlen.
Die konsolidierten Staatsfinanzen schaffen Planungssicherheit. Griechenland weiss, woher es das Geld für das langfristige Rüstungsprogramm nimmt: aus dem ordentlichen Budget. Das dürfte in den nächsten Jahren sogar ohne heikle Kürzungen im Sozialbereich gelingen. Nedos ist überzeugt: «Auch beim bis 2037 geplanten Rüstungsprogramm besteht ein parteiübergreifender und gesamtgesellschaftlicher Konsens.»
Schneller Ersatz veralteter sowjetischer Flugabwehrsysteme
Der Verteidigungsminister Nikos Dendias will die Ausrüstung aller Teilstreitkräfte auf den neusten Stand bringen. Die Zukunft liege, so Dendias vor dem Parlament, in mobilen, KI-gestützten Raketensystemen, Drohnentechnologie und modernen Kommandoeinheiten. Das Beschaffungsprojekt soll auch der inländischen Konjunktur Impulse verleihen. Die griechische Industrie soll laut Dendias mit mindestens 25 Prozent am gesamten Auftragsvolumen partizipieren.
Auf dem Weg dorthin muss Griechenland Altlasten beseitigen: Man verfügt zwar über mindestens fünf moderne Patriot-Einheiten. Das Gros der Flugabwehr-Raketensysteme stammt jedoch noch aus der Sowjetunion. Solange Griechenland nicht über neue Systeme verfügt, muss es die alten einsatzfähig halten. «Aufgrund des russischen Krieges gegen die Ukraine sind die Wartungsverträge für dieses Material nichtig», sagt Nedos. Und das sei ein Grund mehr, diese Systeme schleunigst zu ersetzen. Sie würden keinesfalls in die zukünftige Verteidigungsarchitektur integriert.
Pragmatischer Mix von Rüstungskooperationen
Das Kriegsgerät der Zukunft kauft Griechenland vor allem bei drei ausländischen Kooperationspartnern ein: den USA, Frankreich und Israel. Mit der Beschaffung des F-35 bekennt sich Athen trotz «Rearm Europe» zur transatlantischen Kooperation. Frankreich liefert zusätzliche Fregatten, die griechische Luftwaffe fliegt schon 24 Rafale-Jets. Für die neue Partnerschaft mit Israel gibt es einen Hauptgrund, wie Nedos betont: «Mit dem Hellenic Dome soll ein Luftverteidigungssystem nach dem Vorbild des Iron Dome entstehen. Dieser ist kriegserprobt und hat sich als hocheffizient erwiesen.»
Eine noch wichtigere Rolle in der Gesamtverteidigungsstrategie spielt in Zukunft die Marine. Griechenland will insbesondere in seinen ostägäischen Hoheitsgewässern mehr Präsenz zeigen und damit ein Gegengewicht zur türkischen «Mavi Vatan»-Doktrin (Blaue Heimat) erzeugen. Die Türkei beansprucht grosse Meeresgebiete vor ihrer Küste. Sie lehnt insbesondere das Konzept des griechischen Festlandsockels ab, weil Griechenland dank seiner vielen Inseln eine Seefläche von 40 000 Quadratkilometern für sich beanspruchen könnte. Der Streit um ausschliessliche Wirtschaftszonen und die klare Abgrenzung von Hoheitsgewässern dürfte sich auch deshalb verschärfen.
Türkischer Druck auf Griechenland steigt langfristig an
Es ist wenig wahrscheinlich, dass die griechisch-türkischen Spannungen bald in einen zwischenstaatlichen Krieg münden. Die gemeinsame Nato-Mitgliedschaft wirkt deeskalierend, auch wenn die Töne zwischen Athen und Ankara oft scharf ausfallen. Derzeit ist ohnehin Dialog angesagt: In Nordgriechenland haben die Nachbarn ihre vertrauensbildenden militärischen Massnahmen wieder aufgenommen.
Im Rahmen des informellen Treffens der Nato-Aussenminister in Antalya traf der Gastgeber Hakan Fidan gerade seinen griechischen Amtskollegen Giorgos Gerapetritis. Sie bereiten einen weiteren Gipfel zwischen Präsident Erdogan und Ministerpräsident Mitsotakis vor, der noch vor Ende Juni stattfinden soll.
Langfristig sinkt in Griechenland die Bevölkerungszahl, und dies in einer konflikt- und migrationsbelasteten Region. Im Jahre 2000 hatte Griechenland knapp 11, jetzt noch etwas mehr als 10 Millionen Einwohner. Der Kontrast zur schrumpfenden griechischen Bevölkerung könnte auf der anderen Seite der Ägäis nicht grösser sein: Dort wird auch nach der Ära Erdogan eine Regionalmacht mit militärischem Gestaltungswillen stehen – und einer dynamischen Demografie. Vor 25 Jahren zählte die Türkei 65 Millionen Einwohner. Jetzt sind es knapp 87 Millionen. Die türkischen Gebietsansprüche auf Nordzypern oder küstennahe Inseln wie Rhodos und Kos könnten einen dauerhaften Drang nach Westen begründen.