Donnerstag, Dezember 26

Als klaustrophober Mensch habe er kein Verlangen danach, in einen Sarg gesteckt zu werden, schreibt John Burnside nach seinem Besuch auf dem Friedhof Fluntern.

Vielleicht ist es ein Klischee, doch war es auch unvermeidlich, dass mich mein Wochenend-Bummel durch Zürich als Erstes geradewegs an James Joyce’ Grab auf dem Friedhof Fluntern führte, der einer der idyllischsten Europas sein muss, oben auf einem bewaldeten Hügel gelegen, hoch über dem See. Es ist einer jener Orte, von denen wir uns vorstellen können, dass hier die Toten glücklich sind – glücklich wenigstens an diesem Tag, mit seinem vorzeitigen Frühlingsüberschwang, kühl und rein das Licht, im Gras blühen verschwenderisch Schlüsselblumen, und fröhliche Gruppen aufgeregter Kinder verlassen weiter unten das Tram, vermutlich auf dem Weg zum Zoo.

Joyce hätte gewiss die Schönheit bemerkt, auch wenn er sich wahrscheinlich gewünscht hätte, nicht so bald hier bestattet zu werden: Er war bloss 58 Jahre alt, als er nach einem chirurgischen Eingriff wegen eines perforierten Geschwürs starb, und nachdem er ein paar Jahre zuvor endlich «Finnegans Wake» abgeschlossen hatte, dachte er zweifellos über neue Projekte nach. Ich stelle mir eine Wiederaufnahme der «Dubliners» vor, die, könnte ich sagen, mir von allen Kurzgeschichtensammlungen die liebste ist, doch dieses Mal würde Zürich der Hintergrund sein, und die Figuren wären Schweizer oder vielleicht exilierte Schriftsteller. Unwahrscheinlich, ich weiss – doch was für ein Buch das gewesen wäre.

Dass der grosse Schriftsteller überhaupt hier bestattet wurde, ist allerdings eher Zufall als Absicht. Nachdem er gestorben war, bat Nora Joyce die irische Regierung, ihn für die Beisetzung nach Dublin bringen zu dürfen – was vermutlich darum nicht bewilligt wurde, weil er den grössten Teil seines Lebens im Ausland verbracht und nie die Staatsbürgerschaft der unlängst gegründeten Republik angenommen hatte.

Misslungene Rückholung

In den letzten Jahren änderte sich freilich diese Haltung, und 2019 rief der Dublin City Council zur Rückführung seines schwierigsten Sohnes auf, damit er vor der Jahrhundertfeier des «Ulysses» abermals bestattet werden könnte, was wie ein seltsam krudes Ansinnen wirkt, wenn man bedenkt, was Joyce in «Ein Porträt des Künstlers als junger Mann» geschrieben hat: «Ich will nicht dem dienen, woran ich nicht länger glaube, nenne es sich nun mein Zuhause, mein Vaterland oder meine Kirche: und ich will versuchen, mich in irgendeiner Art Leben oder Kunst so frei auszudrücken, wie ich es vermag, und so umfassend, wie ich es vermag, und dabei zu meiner Verteidigung die einzigen Waffen einzusetzen, die einzusetzen ich mir selbst zugestehe – Schweigen, Exilierung und Raffinesse.» Gewiss, es ist Stephen Dedalus, der hier spricht, doch kaum jemand würde daran zweifeln, dass Joyce dessen Ansichten teilte.

Doch ehrlich gesagt ist Joyce’ Grabmal für meinen Geschmack etwas zu kunstvoll, die ganze Familie um ihn herum versammelt, der Mann selber thront linkisch auf einem Sockel, ein Buch in der Hand, den Körper wie ein Schlangenmensch im Zirkus in sich selbst verknotet – ein passendes Bild vielleicht für die ebenso in sich selbst verknotete Prosa seines letzten Buches.

Nur ein paar Meter entfernt liegt, was für ein Kontrast, Elias Canetti ruhig unter einem eher schlichten Grabstein, im Schutz einer Magnolie voller Knospen, an einem Punkt, der sich wie das wahre Gravitationszentrum des Friedhofs ausnimmt. Als klaustrophober Mensch habe ich kein Verlangen danach, in einen Sarg gesteckt zu werden – als Kind habe ich die Geschichte von Thomas a Kempis’ voreiliger Bestattung gelesen und nie vergessen –, aber falls ich ein Grab haben müsste, es würde dieses sein: ein schlichter heller Stein mit der aufs Nötigste reduzierten Inschrift, platziert unter einem blühenden Baum, nicht weit davon hohe Bäume und ein sonnenbeschienener See.

Canetti war 89, als er starb, vermutlich an Altersschwäche, und man glaubt es gern, dass er hier in Frieden ruht, an einem Ort, wo das Leben – um Marianne Moore zu paraphrasieren – nicht gefährlich sein kann, mit Blick auf den Zürichsee und Gruppen von Kindern, die einander, nach dem Besuch bei den Elefanten, an der Tramhaltestelle zurufen.

Kindliche Begeisterung für Trams

Dieses Gefühl eines sicheren Ortes hält in mir an, als ich dem Aussichtspunkt entgegenstrebe und über das Wasser schaue. Hundebesitzer und Jogger gehen auf dem Weg an mir vorüber, das Gras wird einen Moment lang dunkel in einer schwachen Brise, doch die Hauptattraktion – oder vielleicht Ablenkung – ist der Lärm der Trams auf ihrem Weg zurück in die Stadt.

Ich gestehe, dass ich Strassenbahnen mit einer kindlichen Begeisterung liebe, und eine Stadt, in der Trams verkehren, bin ich eher geneigt zu lieben, nicht nur, weil sie umweltfreundlich sind, sondern auch, weil der Strom der Menschen durch eine Stadt mit Strassenbahnen irgendwie heiterer ist und seltsam demokratischer als bei jedem anderen Verkehrsmittel.

Wo ich herkomme, ist das alte Tramnetz grösstenteils verschwunden, herausgerissen und verschrottet in den 1960er Jahren, und wurde mit Dieselbussen und endlosen Kolonnen von Privatautos ersetzt. Jüngst baute die Stadt Edinburg mit immensen Kosten eine neue Tramlinie, die den Flughafen mit Newhaven verbindet, das sind ungefähr 18 Kilometer. Zürichs Strassenbahnen befahren ein Netz von 120 Kilometern, wie man mir sagt.

Da ich seit einigen Jahren mit einer Buntglas-Künstlerin verheiratet bin, versäume ich keine Gelegenheit, um mich an jedem Beispiel dieser erhabenen Kunstform zu erfreuen. Die Chagall-Fenster im Fraumünster habe ich bereits bei einem früheren, flüchtigen Besuch gesehen, darum gehe ich dieses Mal ins Grossmünster, um mir Sigmar Polkes zauberhafte und irgendwie eher kryptische Achat-Fenster anzuschauen.

Diese jüngeren Werke sind weniger berühmt als jene von Chagall, selbstverständlich, doch ich glaube, an einem Tag wie diesem mit seinem reinen Licht und zusammen mit der bemerkenswerten Strenge des Kircheninnenraums sind sie mir lieber. Alles hängt von der Gemütsverfassung ab, kein Zweifel, aber da wirkt eine mächtige, forschende Eigenheit in Polkes zwölf Fenstern, die ich als gleichermassen herausfordernd und bereichernd empfinde.

«Der Sündenbock», zum Beispiel, rührt ganz seltsam an mit der geistigen Kraft einer Parabel oder Fabel, während «Der Menschensohn», ein wunderbar zweideutiges Stück in Schwarz- und Grautönen, das Motiv der Rubinschen Vase verwendet, um das Verwirrspiel zwischen Kelch und zwei menschlichen Gesichtern zu inszenieren – einander scheinbar still zugewandt oder möglicherweise verwickelt in einen wortlosen Dialog –, und damit elementare Fragen dazu stellt, was wir meinen, wenn wir Menschensohn sagen.

Das Verstehen neu lernen

Als klaustrophober Mensch und zudem jemand, der seit langem auf dem Land lebt und gewohnheitsmässig um acht oder neun zu Bett geht, fällt es mir derzeit schwer, abends öffentliche Veranstaltungen zu besuchen, doch bin ich froh, dass ich die einmalig aufgeführte Late-Night-Show «Still Here!» mit Poesie, improvisierter Musik und Film im Cabaret Voltaire gesehen habe – auch dies zweifellos eine unvermeidliche Destination für einen literarischen Besucher.

Zunächst, als ich mich hineinzwängte und auf meinen Platz hinten im Raum setzte, ich muss es gestehen, war ich enttäuscht, erst recht, als ich die Glitzerkugel sah, die über dem Publikum von der Decke hing. War das nun das berühmte Dada-Haus, wo Tristan Tzara und Hugo Ball ihre idiosynkratischen und etwas lottrigen Anbauten am Haus des Imaginären konstruierten? In diesen ersten Augenblicken schien der Raum eher dem einstigen Tanzlokal zu ähneln, wo ich, vor langer und vorarthritischer Zeit, die Grundtechniken von Tai Chi übte (und daran komplett scheiterte).

Meine anfänglichen Befürchtungen waren allerdings bald zerstreut, als der Abend mit einer souveränen, fesselnden und mitunter virtuos unbändigen Performance der Lyrikerin und Romanautorin Simone Lappert begann, deren Werk mir nicht bekannt war und das ich, angesichts meiner sehr beschränkten Kenntnis ihrer Muttersprache, über weite Strecken auch nicht verstand (in wörtlichem Sinn).

Doch mit der Zeit hatte ich begriffen, dass man sich bloss der Musik eines Werks zu ergeben brauchte – denn in der Literatur (Lewis Carrolls Duchess möge es mir nachsehen) wird sich der Sinn von allein einstellen, wenn wir uns nur auf den Klang einlassen. Oder, um uns Tzara und dem dadaistischen Manifest zuzuwenden: «Was wir brauchen, sind Werke, die stark, gerade, präzise und für immer unverständlich sind. Die Logik ist eine Komplikation. Die Logik ist immer falsch. Sie zieht die Fäden der Begriffe, der Worte, in ihrem formalen Äusseren, hin zu illusorischen Zielen und Zentren.»

Nun denn. Zumindest an diesem Abend, das kann ich frohgemut sagen, habe ich Kunst auf unmittelbare Weise erfahren, ohne das Hindernis des Wortwörtlichen – und alles hat sich aufs Schönste gefügt.

Da ich nun schon einmal mit den Klischee-Destinationen begonnen hatte, kehrte ich am nächsten Tag ins Cabaret Voltaire zurück – es war Sonntag – und fand das Lokal fast ohne Besucher vor. Trotzdem blieb ich eine Stunde im Café im Erdgeschoss sitzen und schaute den vorüberziehenden Familien und Touristengruppen zu wie ein Goldfisch im sprichwörtlichen Aquarium, während ich mich an einem grossartigen Schweizer Bier erfreute, das der sehr nette Kellner empfohlen hatte.

Ich bin immer noch unschlüssig, was ich von dem Ort halten soll: Wenn überhaupt, so erinnert er mich an das Ramones-Museum an der Berliner Oberbaumstrasse, ein vergleichbares Haus mit Memorabilia und einem kleinen, aber durchaus sympathischen Café an der Frontseite. Schliesslich entschied ich, die Ausstellung auszulassen und das kleine, etwas chaotische Vermächtnis von Dada in meinem wirren Kopf leben zu lassen.

Ich bin Zürich dankbar, einer Bewegung Obdach gegeben zu haben, die, da sie Krieg, den Machtapparat und den primitiven Nationalismus ablehnte, verkünden konnte: «Die Kunst ist nicht die wertvollste Erscheinungsform des Lebens. Die Kunst hat nicht den himmlischen und universellen Wert, den man ihr gerne zuschreibt. Das Leben ist viel interessanter.»

Da kann ich nur zustimmen.

Aus dem Englischen von rbl.

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