Montag, Oktober 7

Seit zwei Wochen gilt der 81-jährige Autor als verschollen. Inzwischen wurde die Suche nach ihm im Dachsteingebirge aufgegeben.

Nach allem, was man weiss, ist der österreichische Schriftsteller Bodo Hell am 9. August frühmorgens im Gebiet des Dachsteins zu einer Wanderung aufgebrochen. Zeugen haben den 81-Jährigen ein letztes Mal in unwegsamem, von Bergkiefern bewachsenem Gelände gesehen. Was seither geschah, weiss man nicht.

Seit über zwei Wochen ist ein Autor verschollen und als vermisst gemeldet, der immer in die Landschaft hineingegangen ist, so wie er sich auch in der Sprache bewegt hat. Seine euphorischen Wanderungen auf kaum bekannten Wegen und schmalen Tierpfaden hat Bodo Hell einmal als «Tänzeln im Gebiet» beschrieben. Jetzt sieht es danach aus, als wäre aus der Leichtigkeit plötzlich Ernst geworden. Die Chancen, den Vermissten noch lebend zu finden, sind gering.

Die Natur war ihm ein Wunder

Seit fünfundvierzig Jahren verbrachte Hell seine Sommer auf der Grafenbergalm am östlichen Dachsteinplateau. Auf fast 1800 Metern war er Senner und Hirte. Er hat die Milch zu Käse verarbeitet und im Übrigen geschrieben. Beim Gang durch gefährliches Gelände wurden die Wörter zur zweiten Natur. Niemand sonst hat den Eindruck menschlicher Nichtigkeit mit so fröhlicher Lebensbejahung gekontert wie Bodo Hell.

Er war in Fragen des Aberglaubens und ländlicher Mythologien bewandert. Er kannte die religiösen Bräuche der von ihm erkundeten Regionen und die Anrufungen der Schutzheiligen. Im Schreiben ist er immer ein freundlicher Schutzheiliger der Vernunft geblieben. Die Natur und die Menschen waren Bodo Hell ein Wunder, aus dem sich wiederum Wunder der Sprache machen liessen.

Zwischen Soziologie und Sprachmusikalität war das Werk des Österreichers aufgespannt. Es war offen für Kooperationen mit anderen künstlerischen Genres und hatte zugleich einen hohen Performancewert. Für seine mit funkelnden Wortkaskaden und Spezialwissen angereicherten Bücher hat der Schriftsteller unter anderem den Erich-Fried-Preis, den Preis der Literaturhäuser und den Österreichischen Kunstpreis für Literatur bekommen.

Aber Hell war auch gelernter Organist und ein Gesamtkunstwerk für sich. In seinen Gewandungen aus Leinen und Loden sah er aus wie die intellektuelle und avantgardistische Antwort auf Österreichs Trachtenseligkeit. Das war keine Verhöhnung von Folklore, sondern deren liebevolle Überhöhung.

Liest man die Bücher Bodo Hells, dann scheinen sie mitten hinein zu führen in das, was am Dachstein nach dem 9. August geschehen sein könnte. «Es grollt der Pfad», heisst es einmal in «Tracht: Pflicht». Wenn der Schriftsteller die «Überfülle des Gebotenen» in der Gebirgslandschaft preist, dann gehören zu dieser Überfülle auch Naturgewalten, von denen in Hells letztem Buch «Begabte Bäume» die Rede ist.

Die elementare Plötzlichkeit alpiner Wetterumschwünge hat Hell höchst dramatisch beschrieben. In der Sprache toben Gewitterwirbelwinde und Blitzorgien, als wäre ihre Gefahr selbst auf Buchseiten noch nicht gebannt. Vor der «Verlieblichung und Verharmlosung» des Gebirges hat der Autor immer gewarnt.

Verschlungen von der Landschaft

Auf seinem letzten bekannten Weg soll sich Bodo Hell mit einem Schafsucher ausgetauscht haben. Man habe Handynummern getauscht und Äpfel gegessen, heisst es in den Ermittlungen. Dann verliert sich die Spur im schwierigen, von niedrigen Bäumen bewachsenen Gelände. In einer Tausende Hektaren grossen Topografie, aus der einzelne Namen ragen: Loskoppen, Heilbronnerkreuz, Speikberg, Krippenstein.

Die alpine Welt mit ihren Höhen und Abgründen hatte den Schriftsteller ganz, er lebte im «gesteigerten Affekthaushalt des Landschaftsverschlingens», wie er selbst einmal sagte. Man muss befürchten, dass es das tragische Schicksal des grossen Bodo Hell ist, selbst von der Landschaft verschlungen worden zu sein.

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